Was bleibt von einem Moment, von einer Begegnung? Ein Geruch, das sind Geschichten, Gefühle und Schicksale: unserem E-Wurf zum achten Geburtstag.
Es ist einer dieser Tage im Februar, an denen der Winter noch zögert, Platz für den Frühling zu machen. Die Straße ist still, gedämpft, als hielte die Welt den Atem an. Nur eine Spaziergängerin, die mit ihrem Hund in gemäßigtem Schritt die Straße entlang läuft, ist zu sehen. Sie trägt die Kapuze ihrer Jacke weit ins Gesicht gezogen, darunter lugen ein paar aufmerksame Augen hervor. Ihr Hund – acht Jahre alt, erfahren, wortlos weise – läuft an ihrer Seite, die Leine locker, fast bedeutungslos. Seine Bewegungen sind bedächtig – beinahe, als würde er die Welt abwägen, bevor er sie betritt –, aber seine Nase ist so wachsam wie eh und je.
Sie weiß nicht, wann genau sie es bemerkt hat – vielleicht vor ein paar Wochen, vielleicht länger –, aber nach jedem Spaziergang scheint er müder, schwerer, als habe ihn all das Erlebte erschöpft und ausgelaugt. Oder besser: die Welt, die er sich dort draußen erschnüffelt hat. Natürlich weiß sie, dass ein Hund die Welt über Gerüche versteht. Aber das hier ist mehr. Es ist, als würde er Geschichten aufspüren – Fäden einer unsichtbaren Welt, die er entwirrt, während sie hinter ihm her stolpert –, und als laste das Gewicht all dieser Tragödien mit jedem Jahr mehr auf ihm. Denn zweifelsohne gewinnt ein Hund mit den Jahren nicht nur ein immer größeres Verständnis für zwischenmenschliche Dramen – er begegnet ihnen auch immer häufiger. Und nicht jede dieser Geschichten ist so belanglos, wie ein weggeworfenes Butterbrot.

Womöglich knüpft sich eine davon an den Laternenpfahl, der – weit hinter den letzten Häusern – an das Ende des Gehwegs gepflanzt worden ist. Für sie nur ein Gegenstand. Nichts, an das man auch nur einen Gedanken verschwendet. »So selbstverständlich, dass es gar nicht mehr auffällt«, denkt sie und will schon weitergehen – da bleibt der Hund abrupt stehen und drückt seine Nase gegen das Metall. Seine Muskeln entspannen sich ein wenig, sein Atem wird langsamer. Hier ist etwas Vertrautes. Ein Geruch, der ihm Geschichten erzählt, die sich wiederholen. Hunde markieren, klar. Aber es ist nicht nur Territorialität, nicht nur ein Instinktverhalten. Es ist wie eine olfaktorische Litfaßsäule, die von allem kündet, was die Hunde in der Nachbarschaft bewegt. Mag sein, dass man sich zum gemeinsamen Bellen verabredet. Dass man kund tut, wer gestorben oder kastriert worden ist. Dass die hübsche Pudeldame aus Nummer Elf gerade besonders gut riecht. Oder dass in den Neubau am Ende der Straße ein weißer Schäferhund eingezogen ist, vor dem man sich besser in acht nehmen sollte. Wer weiß das schon? Fest steht allein, dass hier jemand innegehalten hat, um seine Geschichte zu teilen.
Vielleicht ist es ein Hund, dessen Geruch von Müdigkeit spricht, von Pfoten, die schwer über den Gehweg schlurfen. Vielleicht gehört der Geruch zu einer alten Frau, die diesen Hund an der Leine führt. Eine, die sie – beinahe wie den Laternenpfahl – auch im Vorbeigehen kaum bemerken würde, und die oft noch spät nachts spazieren geht, weil ihr Rücken sie nicht schlafen lässt. Ihr Hund riecht die Geschichten, die sie erzählt, die Orte, die sie mit diesem anderen Hund besucht hat. Vielleicht riecht er sogar den alten Teppich, auf dem der Hund schläft, die entfernte Bitterkeit von Medikamenten, das blasse Aroma von Tee, der in der Tasse erkaltet ist.
Er hält länger inne, als sie es von ihm gewohnt ist. Ein tiefer Atemzug, noch einer. Etwas daran ist anders. Vielleicht erkennt er den Geruch wieder. Vielleicht hat er ihn schon vor Monaten erschnüffelt, an einem kälteren Tag, einer anderen Straßenecke, nur leiser, schwächer. Eine Spur, die sich allmählich auflöst.
Er senkt den Kopf. Nicht müde, nicht träge – nur wissend. Ein Wissen, das sie nicht teilt. Dies ist ein Geruch, der vergeht. Ein Leben, das nach und nach verblasst. Ihr Hund weiß, was es bedeutet, wenn ein Geruch dünner wird. Er hat es schon einmal gerochen. Er weiß, was es heißt, wenn jemand bald nicht mehr da sein wird. Er atmet schwer. Und dann, als wäre er sich bewusst, dass sie es nicht verstehen kann, schüttelt er sich einmal, kurz und entschlossen, als wolle er dieses Wissen abstreifen. Es kostet ihn etwas, das ahnt sie jetzt. Dieses Verstehen, dieses Nachvollziehen. Vielleicht hätte sie es längst bemerken müssen.

Sie gehen weiter, aber etwas von diesem Moment bleibt. Es haftet an ihm, an ihr, so wie die Moleküle eines Dufts, die sich mit den eigenen verwoben haben. »Vergänglichkeit«, würde ihr Hund vielleicht sagen, »riecht so durchdringend, dass sie leicht aufzuspüren ist.« Aber Gerüche erzählen nicht nur von dem, was vergeht. Manche besitzen eine ganz andere Dringlichkeit. Das bemerkt auch sie, als ihr Hund sich hinter der nächsten Wegbiegung plötzlich in die Leine hängt. Sein Gang ist anders jetzt, federnder, fast jugendlich. Sie kennt das. Es ist nicht bloß Neugier, nicht nur die Lust, einer Spur zu folgen. Es ist reine, unverfälschte Freude.
»Hier«, sagt er, ohne etwas zu sagen – und dann sieht sie es auch. Ein Bonbonpapier, schon fast verwittert. Die Ahnung von Süße, von klebrigen Fingern, von einem Kind, das lacht. Sie malt sich aus, dass es – nicht allein – auf der Bank gesessen hat, die am Waldrand auf sie wartet, und dass ihm jemand – der Vater, der Großvater vielleicht – das Bonbon in die Hand gedrückt hat, bevor es ausgewickelt und das Papier vom Wind herübergetragen worden ist. Aber da ist noch mehr. Eine Hand, die über die roten Wangen des Kindes streicht, und eine Wärme, die weit ausstrahlt, auch an einem kalten Wintertag. Vielleicht ist es das, was der Mensch so oft vergisst – dass sich die Welt nicht in Dingen offenbart, sondern in Begegnungen. Ihr Hund weiß das. Nicht das Bonbon macht die Luft so süß, sondern das, was zwischen den beiden gewesen ist: das Lachen, die Zuneigung, das unausgesprochene Verstehen. Kein Besitz. Kein Geben und Nehmen. Nur ein Dasein – miteinander, füreinander. Hunde scheinen das viel leichter als Menschen zu begreifen. Denn anders als sie, sind sie nicht neben der Welt, nicht über ihr. Sie sind in ihr. Immer.

Bald darauf senkt er wieder die Nase, schnüffelt. Sie folgt seinem Blick. Ein Taschentuch, hingeworfen, halb auf dem Gehweg, halb im Dreck. Nicht mehr ganz weiß, zerknittert – vielleicht von einer Hand, die es zu fest gehalten hat. Die Finger, noch feucht von Tränen – und fast meint sie, eine Tür zu hören, die laut zugeschlagen wird. Doch es ist nicht nur der Widerhall von Schritten, die sich hastig entfernen. Da ist noch etwas anderes in der Luft, beißend und bitter. Worte, die durch die Stille schneiden, die heißer als Feuer brennen, und nichts zurücklassen als Asche und Glut. Wut riecht scharf. Riecht nach Hitze, nach Metall, nach all dem, was nicht gesagt, nicht entschuldigt werden kann.
Der Hund schüttelt sich, kurz, fast unmerklich. Schiebt das Taschentuch mit der Pfote beiseite. Dreht sich um, als wäre es nichts. Aber er geht schneller jetzt, die Schultern angespannt. Die Welt hat genug davon. Auch er.
Als sie nach Hause kommen, legt er sich in seinen Korb, dreht sich einmal, zweimal, bevor er sich niederlässt, und sie sieht ihm zu, wie er die Augen schließt. Er trägt mehr, als ein Mensch je tragen könnte, denkt sie. Und doch sagt er nichts, nichts von alledem. Nichts von den Sorgen, Ängsten und Nöten, die ihm auf jedem Spaziergang begegnen. Und auch nichts von denen, die an ihr haften – an ihm haften bleiben, sobald sich ihre Hand auf sein warmes Fell legt. Manchmal fragt sie sich, wie er all das erträgt.
Acht Jahre – eine lange Zeit, in der ihr die Welt erschnüffelt, erspürt, begleitet habt. Ihr habt Eure Menschen gelehrt, zu sehen, was oft übersehen wird, zu verstehen, was unausgesprochen bleibt. Jeder von Euch trägt seine eigenen Geschichten in sich – und doch seid Ihr alle durch eine gemeinsame Spur verbunden. Möge eure Nase Euch weiterhin sicher durch die Welt führen, durch das Bekannte und das Neue, durch Freude und Wehmut. Und mögen eure Menschen euch immer die Zeit lassen, all die Geschichten zu lesen, die die Welt für Euch bereithält. Alles Liebe zum achten Geburtstag! Für euch fünf – Ella, Elvis, Jill, Enya und Tyrion – und für all jene, die Euch begleiten.
© Johannes Willwacher