Das Alter stiehlt alles, was einst vertraut war – auch die Nähe und das Verständnis zwischen Mensch und Hund: ein liebevoller Blick auf das Vergessen.
Die Demenz ist wie ein Dieb, der nicht alles auf einmal nimmt. Immer wieder kehrt er an den Ort des Verbrechens zurück, um sich wahllos die Taschen zu füllen. Mal sind es Dinge, die kaum ins Gewicht fallen, die am nächsten Morgen fehlen – die Erinnerung an einen längst vergangenen Spaziergang, beispielsweise, oder an das Geräusch, mit dem die Luft aus einem gerade geöffneten Futtersack entweicht. Mal sind es aber auch andere Dinge. Solche, die so schwer wiegen, dass jeder Schritt der fünfzehnjährigen Hündin noch schwerfälliger wirkt. Dass sie vergessen zu haben scheint, wo sich Treppen und Türen befinden. Oder wie man einen Schritt vor den anderen setzt. Mit jedem Raubzug nimmt die Demenz ein wenig mehr von der Hündin mit, die ich so viele Jahre zu kennen geglaubt habe – und an schlechten Tagen scheint es beinahe so, als sei von allem, was sie einmal ausgemacht hat, nur noch der Hunger geblieben. Sie bellt nicht mehr. Sie ahnt keinen meiner Schritte mehr voraus. Und auch die Nähe, die sie sonst bereitwillig genossen hat, scheint sie nun viel eher zu meiden. Die Demenz hat sie schon so weit entrückt, dass manchmal nur noch das Klirren der Kühlschranktür sie zurück ins Leben holt.
Oft bleibt sie mitten im Raum stehen, den Blick ins Leere gerichtet, als stünde sie auf einer Schwelle, die sie nicht überschreiten kann. Oft scheinen ihre Schritte nur noch der Gewohnheit zu folgen, so dass sie endlos im Kreis läuft, immer wieder, bis sie erschöpft zu Boden sinkt. Oft scheint sie kurz aus ihrer Ohnmacht aufzuwachen und sich selbst zu wundern, warum es nass ist, wo sie gelegen hat. Es ist nicht das Leben, das wir hatten. Aber es ist das Leben, das wir teilen. Hier und jetzt.
Die übrigen Hunde tun sich schwer damit, diese schleichende Veränderung zu begreifen. Dem einen mag es zwar leichter gelingen, als dem anderen, aber für alle hat das Verhalten der alten Hündin an Verlässlichkeit eingebüßt. Allein die zweitjüngste Hündin – Halo –, der Nell die Führung des Rudels anvertraut hat, scheint noch immer ihre Nähe zu suchen. Der Rüde hingegen meidet sie inzwischen, als fürchte er die Unberechenbarkeit, die sie mit sich bringt. Nur selten nimmt er ihre Nähe noch ohne Vorbehalte an, und kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht panisch aufspringt, sobald er das Klackern ihrer Pfoten auf den Dielen vernimmt. »Wenn du sie nicht rausbringst, geschieht ein Unglück!«, scheinen seine schreckgeweiteten Augen zu sagen, und nicht selten hat er damit Recht. Der Putzeimer steht im Flur, wird genau dort stehen bleiben. Ob für Wochen, Monate, vielleicht Jahre, wer weiß das schon. Die Demenz ist wie ein Dieb, der nicht ankündigt, wann er die letzten Habseligkeiten – den Hunger, das Aufstehenkönnen und die Lebensfreude – mit sich nehmen wird.
»Als Welpe«, denke ich, »habe ich dich getragen, und nun trage ich dich wieder, weil deine Beine zu schwach geworden sind. Ich versuche den gleichen Ärger hinunterzuschlucken, wie auch damals schon, wenn du eine Pfütze auf den Dielen hinterlassen hast. Ich erkläre dir die Welt, wie auch damals schon, und versuche dir Sicherheit zu schenken, weil sie dir jeden Tag ein wenig mehr entgleitet.« Und dann schaut sie mich an, erkennt mich, so als sei nichts gewesen. Als falle ihr urplötzlich eine längst vergessene Geschichte ein. »Weißt du noch, als wir damals …«, sagt ihr Blick, und, »mein Gott, wie lange mag das her sein?« Ich lächle. Und vergesse nichts, weil ich mich für uns beide erinnern muss.
Zwölf Monate sind vergangen, seit sich die ersten Anzeichen eines Kognitiven Dysfunktions-Syndroms (CDS) bei unserer fünfzehnjährigen Nell bemerkbar gemacht haben. Episodisch dürften manche Symptome – das Starren und die Desorientierung, beispielsweise – zwar auch schon früher in Erscheinung getreten sein, haben die Hündin in ihrem Alltag aber vergleichsweise wenig beeinträchtigt. Bis zum Sommer hat Nell uns noch auf den kleineren Spaziergängen mit dem übrigen Rudel begleitet – die großen, ein- bis zweistündigen Runden hätte sie zu diesem Zeitpunkt aufgrund des ebenfalls fortschreitenden Abbaus der Muskulatur schon nicht mehr bewältigen können. Aktuell sind es nur noch kurze »Schnüffelrunden«, die in einem angepassten Tempo absolviert werden. Aufhalten oder umkehren – das ist gewiss – lässt sich die Erkrankung nicht. Durch Medikamente, mit denen die Durchblutung verbessert wird, lässt sich das Fortschreiten der Erkrankung aber immerhin ein stückweit verlangsamen, und durch gesteigerte Aufmerksamkeit und Zuwendung die Lebensqualität der alten Hündin aufrechterhalten. Wie lange noch? Das kann niemand sagen.
© Johannes Willwacher