Eine letzte Geschichte zum Jahresende – mit Hund: warum man akzeptieren sollte, dass das Leben manchmal wie die Aneinanderreihung absurder Situationen wirkt.

There’s no need to be unhappy.
Vil­la­ge Peo­p­le (1979)

Es war der Mor­gen des 31. Dezem­bers. Harold Win­slow stand vor dem Bade­zim­mer­spie­gel und starr­te mit lee­rem Blick auf sei­ne eige­ne Refle­xi­on. Er hat­te nie viel auf Sil­ves­ter gege­ben. Man tat so, als wür­de man mit dem Glo­cken­schlag alles hin­ter sich las­sen kön­nen – schlech­te Ange­wohn­hei­ten, schlech­te Ent­schei­dun­gen, viel­leicht sogar ein schlech­tes Jahr­zehnt – nur um ein paar Stun­den spä­ter fest­zu­stel­len, dass alles doch so blieb wie vor­her. Nur mit Kater. Er seufz­te tief. Das nicht, weil ihn Zukunfts­ängs­te umtrie­ben, son­dern viel­mehr, weil er Angst vor der Gegen­wart hat­te. »It’s fun to stay at the Y.M.C.A.«, summ­te er unwill­kür­lich, und sofort krümm­te er sich inner­lich. Wie konn­te ein ein­zi­ger Song so hart­nä­ckig in sei­nem Kopf festhängen?

Seit drei Tagen – auf dem Weg in die Stadt hat­te er ver­se­hent­lich das Radio ein­ge­schal­tet – wie­der­hol­te sich der Song der Vil­la­ge Peo­p­le in End­los­schlei­fe in sei­nem Kopf. Er hat­te ver­sucht, ihn zu ver­drän­gen, aber sobald er dach­te, es sei vor­bei, flamm­te er mit einem fröh­li­chen »Young man!« wie­der auf. Das Lied hat­te sich ein­ge­nis­tet wie ein unge­be­te­ner Ver­wand­ter, der nach den Fei­er­ta­gen ein­fach nicht mehr gehen wollte.

Er griff nach der Zahn­pas­ta­tu­be, doch statt sei­ne Zäh­ne zu put­zen, begann er erneut zu sum­men. »War­um?«, knurr­te er und schlug mit der Zahn­bürs­te auf das Wasch­be­cken. »Dad, bist du okay da drin?« Emi­lys Stim­me drang durch die Bade­zim­mer­tür. »Du klingst, als wür­dest du mit dem Wasch­be­cken kämp­fen.« Er blick­te auf. »Alles in Ord­nung!«, rief er zurück, wäh­rend er die Zahn­pas­ta end­lich auf die Bürs­te quetsch­te und zu schrub­ben anfing. »You can get yours­elf clean«, da war es schon wie­der. Er spuck­te aus und warf die Zahn­bürs­te ins Wasch­be­cken. Der Tag war rui­niert, das wuss­te er schon jetzt. Und es war erst zehn Uhr morgens.

Silvesterparty bei den Broadmeadows Border Collies

Beim Früh­stück ver­such­te Harold, sich auf die Zei­tung zu kon­zen­trie­ren, doch die Wor­te ver­schwam­men vor sei­nen Augen. Natür­lich. Sie mach­ten Platz für den Refrain, der in sei­nem Kopf schon wie­der laut­stark dröhn­te. Zwi­schen Schlag­zei­len über die stei­gen­den Ölprei­se und Berich­ten über die zu erwar­ten­de Infla­ti­on las er nur: »Young man, there’s no need to feel down.« Er seufz­te, fal­te­te die Zei­tung zusam­men, nur um sich gleich wie­der von dem halb­sei­ti­gen Por­trait auf der Titel­sei­te anstar­ren zu las­sen. »Jim­my Car­ter: Der Mann für die 80er?«, stand groß über dem Foto des Prä­si­den­ten. Ein lächer­li­cher Gedan­ke, fand Harold. Car­ter kämpf­te seit Mona­ten gegen schlech­te Umfra­ge­wer­te, und den­noch tat die Pres­se so, als wäre er der Hoff­nungs­trä­ger. Hat­ten die alle ver­ges­sen, dass er die Gei­sel­nah­me im Iran mit­zu­ver­ant­wor­ten hat­te? In Harolds Kopf blie­sen die Trom­pe­ten der­weil zum nächs­ten Angriff. 

Emi­ly und Sara, die ihm gegen­über­sa­ßen, beob­ach­te­ten ihn aus dem Augen­win­kel. Er hat­te bemerkt, dass Mut­ter und Toch­ter sich mit­ein­an­der unter­hiel­ten, und auch zur Kennt­nis genom­men, dass Emi­ly den Sil­ves­ter­abend bei Freun­den ver­brin­gen woll­te, sich in das Gespräch ein­zu­brin­gen gelang ihm aber nicht. Er nick­te nur mecha­nisch, wäh­rend in sei­nem Kopf die Zei­le »Young man, there’s no need to feel down« den zwölf­ten oder drei­zehn­ten Durch­lauf erreich­te. Emi­ly lehn­te sich zu ihrer Mut­ter und flüs­ter­te: »Er sieht so aus, als hät­te er nun wirk­lich den Ver­stand ver­lo­ren.« Sara nahm einen Schluck Kaf­fee, dann schüt­tel­te sie den Kopf. »Es ist schlim­mer. Er hat einen Ohr­wurm.« Sie lach­te. »Oh Gott. Nicht schon wie­der«, erwi­der­te Emi­ly. Sie erin­ner­te sich an den Som­mer im letz­ten Jahr, als ihr Vater zwei Wochen lang »You’re the One That I Want« nicht los­ge­wor­den war. Er hat­te immer wie­der dar­über gespro­chen, bis ihre Mut­ter gedroht hat­te, ihm Poma­de in die Ohren zu schmie­ren – nur um zu sehen, ob das meta­pho­risch funktionierte.

Der Vor­mit­tag zog sich in die Län­ge, und Harold ver­such­te, den Ohr­wurm auf jede erdenk­li­che Wei­se los­zu­wer­den. Er spiel­te eini­ge sei­ner Lieb­lings­plat­ten in vol­ler Laut­stär­ke, in der Hoff­nung, dass Leo­nard Cohen ihm viel­leicht Erlö­sung brin­gen wür­de. Doch egal, was er tat, die Vil­la­ge Peo­p­le kehr­ten immer wie­der zu ihm zurück. Das mecha­ni­sche Rat­tern sei­ner Schreib­ma­schi­ne. Scout, der vor dem Fens­ter sei­nes Arbeits­zim­mers ein Eich­hörn­chen ver­bell­te. Die Kin­der der Nach­barn, die hin­ter der alten Scheu­ne auf der ande­ren Sei­te der Stra­ße mit Knall­frö­schen war­fen. Alles folg­te dem glei­chen, stamp­fen­den Rhyth­mus. Und der Bau­ar­bei­ter, der Cow­boy und der India­ner tanz­ten aus­ge­las­sen dazu.

Silvesterparty bei den Broadmeadows Border Collies

»Im neu­en Jahr wer­de ich ein bes­se­rer Mensch«, sag­te Harold sich schließ­lich, als er den gepols­ter­ten Dreh­stuhl schwung­voll von sei­nem Schreib­tisch zurück­schob. Er starr­te auf das wüs­te Sam­mel­su­ri­um, das sich vor ihm aus­brei­te­te. Dut­zen­de Schmier­zet­tel, die wie ein Spie­gel sei­ner Gedan­ken jeden Zen­ti­me­ter der Tisch­plat­te bedeck­ten. Dann erst bemerk­te er Sara, die mit einem Hand­tuch auf dem Kopf in der offe­nen Tür des Arbeits­zim­mers stand. Wie lan­ge hat­te sie dort schon gestan­den? »Suchst du was?«, frag­te sie und deu­te­te auf die Papie­re. Harold blin­zel­te. »Nein nicht wirk­lich«, mur­mel­te er, unsi­cher, ob er die Wor­te tat­säch­lich zu ihr oder zu den uner­müd­li­chen Vil­la­ge Peo­p­le in sei­nem Kopf gesagt hat­te. »Neu­es Jahr, neu­er Schreib­tisch«, Sara grins­te und lehn­te sich gegen den Tür­rah­men, »das könn­te doch schon mal ein ganz brauch­ba­rer Neu­jahrs­vor­satz sein.« Harold seufz­te und rieb sich die Schlä­fen. »Ich wer­de auch weni­ger meckern«, füg­te er hin­zu. Sara beob­ach­te­te ihn kurz, dann lächel­te sie nach­sich­tig. »Und viel­leicht auch mal ein biss­chen mehr Bewe­gung?« Sie zwin­ker­te ihm zu, bevor sie sich abwand­te und wie­der im Bade­zim­mer verschwand.

Der Wind schnitt Harold ins Gesicht, und die Welt drau­ßen war still – allein der Schnee, der unter jedem sei­ner Schrit­te knirsch­te, und das Bel­len von Scout, der in eini­ger Ent­fer­nung vor ihm her lief, beglei­te­ten ihn. Harold hat­te sich die dün­ne Leder­lei­ne um den Leib geschlun­gen, so dass sie wie eine zu knapp bemes­se­ne Schär­pe über dem ocker­far­be­nen Parka saß. Er gab Sara zwar nur ungern Recht, mit ihrer Bemer­kung, dass ihm ein wenig mehr Bewe­gung nicht scha­den kön­ne, hat­te sie aber ins Schwar­ze getrof­fen. Im ver­gan­ge­nen Jahr hat­te er sicht­bar an Gewicht zuge­legt. Das war zwar auch frü­her schon vor­ge­kom­men, jetzt, mit fünf­und­vier­zig Jah­ren, fiel es ihm aber umso schwe­rer, die zusätz­li­chen Pfun­de wie­der los­zu­wer­den. Ob er im neu­en Jahr doch mit dem Jog­gen anfan­gen soll­te? Er wisch­te den Gedan­ken bei­sei­te. Genau­so gut könn­te er sich vor­neh­men, einen Tanz­kurs zu besu­chen und die Hüf­ten krei­sen zu las­sen. Den Gedan­ken bereu­te er sofort. »Dum-da-da-da. Y.M.C.A.« Der India­ner, der Bau­ar­bei­ter und der Cow­boy waren wie­der da. »War­um?«, frag­te er den Hund, der nur den Kopf schief leg­te, als woll­te er sagen: »War­um, was?« Es gab kein Ent­kom­men. 

Als Harold die Haus­tür auf­schloss, hör­te er bereits das gedämpf­te Mur­meln des Fern­se­hers. Im Wohn­zim­mer hat­te Sara es sich auf dem Sofa gemüt­lich gemacht, wäh­rend das Abend­pro­gramm über über den Bild­schirm flim­mer­te. »Wir schal­ten nun live zum Times Squa­re in New York, wo die Vor­be­rei­tun­gen für die Sil­ves­ter­fei­er­lich­kei­ten in vol­lem Gan­ge sind«, kün­dig­te Paul Anka an, der für CBS das neue Spe­cial »Hap­py New Year, Ame­ri­ca« aus Las Vegas mode­rier­te. Die Kame­ra schwenk­te über die Men­schen­men­ge, die sich ver­sam­melt hat­te, »Die Welt hat genug von schlech­ter Lau­ne!«, rief eine Pas­san­tin lachend ins Mikro­fon, wäh­rend im Hin­ter­grund eine Grup­pe jun­ger Leu­te zu »Y.M.C.A.« tanz­te. »Ich kann das nicht mehr! Es ver­folgt mich!« Harold sank auf den Ses­sel neben Sara und ver­grub das Gesicht in sei­nen Hän­den. Sara schal­te­te den Fern­se­her aus.

Silvesterparty bei den Broadmeadows Border Collies

»Die­ses Jahr«, sag­te Harold trot­zig, »die­ses Jahr lau­tet mein ein­zi­ger Vor­satz, die­ses ver­damm­te Lied zu ver­ges­sen!« Sara lach­te tro­cken. »Die letz­ten Jah­re lief es nicht gera­de gut mit dei­nen Vor­sät­zen, oder?« Sie zähl­te auf ihren Fin­gern ab: »Letz­tes Jahr woll­test du mit dem Rau­chen auf­hö­ren. Davor gesün­der essen. Und das Jahr davor … was war das? Ach ja! Du woll­test Scout das Bel­len abge­wöh­nen.« Scout hob bei der Erwäh­nung sei­nes Namens den Kopf, als wüss­te er genau, dass die­ses Unter­fan­gen längst geschei­tert war. 

Harold sprang aus dem Ses­sel und lief mit fuch­teln­den Armen auf und ab. »So ein­fach ist das nicht, Sara. Ein Mann braucht Zie­le. Struk­tu­ren. Ich könn­te …« – er mach­te eine Pau­se und sein Blick wan­der­te zu dem Radio auf der Fens­ter­bank – »ich könn­te die­sen Ohr­wurm gegen einen neu­en Hit aus dem Radio aus­tau­schen. Was lief da neu­lich? Waren es die Bee Gees? Oder viel­leicht Blon­die?« Sie schüt­tel­te den Kopf. »Harold, wir hat­ten wirk­lich genug von dei­ner musi­ka­li­schen Kri­se für die­ses Jahr. War­um machst du es dir nicht ein­fach leicht und …« Er zuck­te zusam­men. »Leicht?« Und noch ein wenig lau­ter: »Leicht? Es ist Sil­ves­ter, Sara. Der Moment, in dem Män­ner wie ich beschlie­ßen, die Welt zu ver­än­dern.« Er blieb ste­hen, die Fäus­te in die Hüf­ten gestemmt, als wür­de er sich einer unsicht­ba­ren Men­ge prä­sen­tie­ren. Doch gera­de, als er zu einem wei­te­ren dra­ma­ti­schen Mono­log anset­zen woll­te, erlo­schen um sie her­um alle Lich­ter. Der Strom war weg.

Für einen Moment herrsch­te völ­li­ge Stil­le. Das ein­zi­ge Geräusch, das sie noch ver­nah­men, war das lei­se Hecheln von Scout. Kei­ne Musik, kein Sum­men, kein »Y.M.C.A.«. Harold stand still und lausch­te. »Es ist weg«, flüs­ter­te er, als er in die Dun­kel­heit blick­te. Die Stil­le brei­te­te sich in sei­nem Kopf aus wie eine war­me Decke. Seit Tagen hat­te er sich nicht mehr so wohl gefühlt. »Der Ohr­wurm. Der Strom­aus­fall hat ihn getö­tet.« Harold atme­te erleich­tert auf und sank in den abge­wetz­ten Ses­sel zurück. »Viel­leicht muss man ein­fach akzep­tie­ren, dass das Leben ist, wie es ist. Auch wenn es manch­mal wirkt wie die Anein­an­der­rei­hung absur­der Situa­tio­nen.« Wes­halb es auch nie­man­den wun­der­te, dass das neue Jahr für die Win­slows nicht nur in völ­li­ger Dun­kel­heit, son­dern auch mit einem wöl­fi­schen Heu­len von Scout begann. Einem, das – fast selt­sam ver­traut – wie das haa­rigs­te Mit­glied der Vil­la­ge Peo­p­le klang.

Silvesterparty bei den Broadmeadows Border Collies

© Johannes Willwacher