Eine Weihnachtsgeschichte – mit Hund: über schrullige Verwandte, unerwartete Geschenke und die wahre Bedeutung von Familie und Zusammengehörigkeit.
And we fly
just like birds of a feather.
Sister Sledge (1979)
Es war Heiligabend im Hause Winslow, und wie jedes Jahr hing ein gewisser Duft von Chaos in der Luft. Scout, der fünfjährige Border Collie, hatte sich auf seinem Lieblingsplatz im Wohnzimmer zusammengerollt und beobachtete mit halb geöffneten Augen das geschäftige Treiben.
Harold, das Familienoberhaupt, stand in der Küche und kämpfte mit dem Braten. Der Braten kämpfte zurück. Harold hatte sich in diesem Jahr vorgenommen, ein Weihnachtsessen zu zaubern, das nicht nur seinen, sondern auch die Gaumen der beiden Frauen in seinem Leben glücklich machen würde. Das Problem war nur, dass Sara, die alle klassischen Rezepte für zu bieder hielt, das einzige Kochbuch der Familie im Küchenschrank eingeschlossen hatte. Der Braten – wenn man denselben so nennen wollte – bestand also zu gleichen Teilen aus Linsen, Haferflocken und roten Bohnen, die er mit Karotten, Champignons und Sellerie vermengt und in eine verbeulte Kastenform gefüllt hatte. »Eine essbare Installation«, jauchzte Sara begeistert, als sie ihren Kopf durch die Durchreiche steckte, »das wird Tante Hepzebah gefallen!«
Hepzebah war gar nicht wirklich die Tante der Familie Winslow. Ihre Eltern, mit denen sie schon seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte, hatten sie Charles genannt. Doch diesen Namen benutzte niemand mehr. Etwa zu der Zeit, als Sara und Charles sich an der Kunsthochschule kennengelernt hatten, hatte er beschlossen, als Hepzebah zu leben, ein neuer Name für eine neue Identität, die er – oder besser gesagt, sie – auch viel besser auszufüllen verstand. Die Winslows, die in ihrer exzentrischen Art ohnehin wenig Wert auf Konventionen legten, hatten Hepzebah von Anfang an so akzeptiert – auch wenn die meisten anderen Menschen angesichts der fast zwei Meter großen, schwarzen Frau schnell die Nase rümpften.
Beinahe genauso selbstverständlich, wie die Winslows die schräge Tante in ihre Familie aufgenommen hatten, lud sie sich wenige Tage vor dem Fest auch schon seit Jahren zum Weihnachtsessen ein. »Blut macht noch keine Familie«, hatte sie einmal am Telefon gesagt, um ihr Kommen anzukündigen, »das sind nur Verwandte.« Eine Familie bestand ihrer Meinung nach aus Menschen, mit denen man das Gute, Schlechte und Hässliche teilen konnte – und von denen man trotz allem noch geliebt wurde. »Und die sucht man sich immer noch am besten selbst aus!« Wer würde dem schon widersprechen wollen?
Während Sara ihr Studium aufgrund einer üblen Magenverstimmung aufgegeben musste – einer, die gerade ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte und hingebungsvolle Gedichte schrieb –, zog Hepzebah durch die Welt. Sie war nach Indien gereist, hatte einige Zeit in einem französischen Künstlerkollektiv gelebt und schließlich beschlossen, eine Boutique im Greenwich Village zu eröffnen – das »Eclectic Emporium«, in dem sie, wie sollte es auch anders sein, selbst die beste Kundin war. Ihre Briefe klangen stets so, als hätte sie gerade ein Abenteuer beendet und wäre auf dem Weg in das nächste. Von einem Jahr auf das andere wusste die Familie nie, wo sie sich gerade aufhielt. Doch zu Weihnachten war sie immer da – und jedes Jahr brachte sie noch bizarrere Geschenke mit, als im Jahr zuvor.
Harold hatte sich immer gefragt, warum sie sich auf der endlosen Suche nach Erleuchtung und neuen Erfahrungen befand, während Sara lediglich meinte: »Das ist eben Hepzebah. Sie ist wie eine Wetterfront – du weißt nie, wann sie kommt, aber du spürst sie, wenn sie da ist.« Und das traf den Nagel auf den Kopf. Es gab das Jahr, in dem sie seltene Gewürze aus dem Nahen Osten mitbrachte, die die Küche für Wochen unbenutzbar machten. Oder das Jahr, in dem sie eine Sammlung handgeschnitzter afrikanischer Masken verschenkte, von denen Harold überzeugt war, dass sie verflucht sein mussten, weil die Glühbirne im Flur plötzlich nicht mehr aufhören wollte zu flackern. Im letzten Jahr überreichte sie der Familie einen Plattenspieler, den sie auf einem Flohmarkt in Amsterdam erstanden hatte. »Der funktioniert zwar nicht, aber der Verkäufer hat mir glaubhaft versichert, dass der einmal Janis Joplin gehört hat. Haltet ihn in Ehren!«
»Scout, geh zur Seite!«, rief Sara, als sie sich mit einer dampfenden Schüssel in den Händen ihren Weg zum Esstisch bahnte. »Pastinakenpüree«, erschnüffelte Scout angewidert und machte freiwillig Platz. Gerade, als er sich anschicken wollte, sich unter dem Esstisch zusammenzurollen, hörte er, wie vor dem Haus eine Wagentür zugeschlagen wurde und spitzte die Ohren. Gleich darauf kam Emily die Treppen heruntergerannt. »Das werdet ihr niemals glauben!«, jubilierte sie, als sie die Haustür aufriss.
»Es heißt, mein Ruf eilt mir voraus«, entgegnete Tante Hepzebah, die mit einem breiten Grinsen auf den dunkelrot geschminkten Lippen davor stand. Sie trug eine fellbesetzte Mütze, an der mittig eine schimmernde Brosche befestigt war, und einen bodenlangen, weißen Pelzmantel, der beinahe zu ausladend schien, um durch die Tür zu passen. »Frohe Weihnachten, meine Lieben!«, rief sie und hielt eine Leine in die Höhe, an deren Ende … eine Ziege stand.
Eine echte, lebendige Ziege.
Sara ließ fast die Schüssel fallen. Harold starrte fassungslos. Emily quietschte vor Freude. Und Scout? Scout blieb wie angewurzelt vor der Ziege stehen, die ihn herausfordernd anglotzte. »Das ist Gertrud«, verkündete Hepzebah stolz. »Ich habe sie unterwegs aufgesammelt. Sie ist ein Geschenk – für euch alle! Ist sie nicht ganz wunderbar?« Die Ziege meckerte, als wäre es an ihr, das zu bestätigen, und begann sofort, an einer der Lichterketten zu kauen. »Eine Ziege?«, fragte Harold schließlich, als er sich zu Hepzebah umdrehte. »Bist du sicher, dass das … notwendig war?« Hepzebah lachte, während sie ihm ihren Mantel in die Hände drückte. »Oh, absolut. Gertrud ist ganz pflegeleicht. Außerdem, warum nicht? Es ist Weihnachten! Seid froh, dass ich euch nicht auch noch Ochs’ und Esel mitgebracht habe.« Es folgten Küsse und Umarmungen. Und ein leises Knurren von Scout.
Gertrud stand da, ruhig, fast majestätisch, als würde sie ihm mit ihrer bloßen Anwesenheit sagen: »Familie ist kein fester Platz, den man verteidigen muss. Es ist ein Raum, den man teilt.« Scout spürte, wie seine anfängliche Abwehr in etwas anderes umschlug – Neugier, vielleicht sogar Respekt. Diese Ziege hatte keine Angst vor ihm. Im Gegenteil, sie schien es zu genießen, inmitten dieses seltsamen, warmen Durcheinanders zu sein, und Scout wurde bewusst, dass sie genauso dazugehörte wie er selbst.
Er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst »der Neue« bei den Winslows war – winzig und verwirrt, mit gerade einmal zehn Wochen. Nicht in diese Familie geboren, sondern hineingebracht. Ein Welpe, der viel zu lernen hatte, nicht nur über das Haus und die Menschen, sondern auch darüber, wo er in all dem seinen Platz finden sollte. Am Anfang war es schwer gewesen. Nichts roch nach seiner alten Umgebung, nach seiner Mutter oder seinen Geschwistern. Aber nach und nach hatte er verstanden: Familie ist nicht, wo man geboren wird, sondern wo man ankommt. Wo man bleibt.
Jetzt lag er hier, unter dem Tisch, und sah zu, wie Gertrud sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Szene einfügte, die auch er irgendwann gefunden hatte. Die Geräusche des Essens und das Lachen darüber kaum wahrnehmend, dachte er: Sein Platz. Aber vielleicht war das nicht so wichtig. Familienplatz. Dieses Wort hatte nie wirklich einen Sinn für ihn ergeben. Doch jetzt – jetzt schien es mehr zu sein. Ein Ort, den man nicht für sich alleine beanspruchte, sondern den man immer wieder teilte, sei es mit einer Ziege, einer schrulligen Tante oder dem nächsten Streuner, der an die Tür klopfte.
Und während der Duft von Linsenbraten und Pastinakenpüree die Luft erfüllte, wurde Scout klar, was Hepzebah einst gesagt hatte: Familie ist nicht das, was dir in die Wiege gelegt wird – Familie ist das, was du im Laufe des Lebens für dich findest. Ein guter Freund. Eine Zufallsbekanntschaft. Oder sogar ein Hund. So einer, vielleicht, wie Scout.
Viele Geschichten, dir ich früher oder später zu Papier bringe, finden ihren Ursprung auf einem unserer Spaziergänge. Auch die Geschichten über die Familie Winslow sind mir irgendwo zwischen Feld und Wald zugeflogen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt angenommen. Womöglich wollten diese Vier sich ganz einfach nicht damit begnügen, nur eine Geburtstagsgeschichte für einen unserer Würfe zu sein. Womöglich haben sie – Hirngespinste können das – äußerst hartnäckig darauf bestanden, noch ein wenig weiter erzählt zu werden. Bis ins neue Jahr werden nun also noch fünf weitere Geschichten über Harold, Sara, Emily und Scout, den Border Collie, folgen. Ob sie sich damit zufrieden geben werden, dass die Weihnachtszeit ihrer Familie gehört? Oder sollten wir sie – zumindest gedanklich – auch zu unserer Familie machen?
© Johannes Willwacher