Eine Weihnachtsgeschichte – mit Hund: über schrullige Verwandte, unerwartete Geschenke und die wahre Bedeutung von Familie und Zusammengehörigkeit.

Es war Hei­lig­abend im Hau­se Win­slow, und wie jedes Jahr hing ein gewis­ser Duft von Cha­os in der Luft. Scout, der fünf­jäh­ri­ge Bor­der Col­lie, hat­te sich auf sei­nem Lieb­lings­platz im Wohn­zim­mer zusam­men­ge­rollt und beob­ach­te­te mit halb geöff­ne­ten Augen das geschäf­ti­ge Treiben.

Harold, das Fami­li­en­ober­haupt, stand in der Küche und kämpf­te mit dem Bra­ten. Der Bra­ten kämpf­te zurück. Harold hat­te sich in die­sem Jahr vor­ge­nom­men, ein Weih­nachts­es­sen zu zau­bern, das nicht nur sei­nen, son­dern auch die Gau­men der bei­den Frau­en in sei­nem Leben glück­lich machen wür­de. Das Pro­blem war nur, dass Sara, die alle klas­si­schen Rezep­te für zu bie­der hielt, das ein­zi­ge Koch­buch der Fami­lie im Küchen­schrank ein­ge­schlos­sen hat­te. Der Bra­ten – wenn man den­sel­ben so nen­nen woll­te – bestand also zu glei­chen Tei­len aus Lin­sen, Hafer­flo­cken und roten Boh­nen, die er mit Karot­ten, Cham­pi­gnons und Sel­le­rie ver­mengt und in eine ver­beul­te Kas­ten­form gefüllt hat­te. »Eine ess­ba­re Instal­la­ti­on«, jauchz­te Sara begeis­tert, als sie ihren Kopf durch die Durch­rei­che steck­te, »das wird Tan­te Hep­ze­bah gefallen!«

Hep­ze­bah war gar nicht wirk­lich die Tan­te der Fami­lie Win­slow. Ihre Eltern, mit denen sie schon seit Jah­ren kein Wort mehr gespro­chen hat­te, hat­ten sie Charles genannt. Doch die­sen Namen benutz­te nie­mand mehr. Etwa zu der Zeit, als Sara und Charles sich an der Kunst­hoch­schu­le ken­nen­ge­lernt hat­ten, hat­te er beschlos­sen, als Hep­ze­bah zu leben, ein neu­er Name für eine neue Iden­ti­tät, die er – oder bes­ser gesagt, sie – auch viel bes­ser aus­zu­fül­len ver­stand. Die Win­slows, die in ihrer exzen­tri­schen Art ohne­hin wenig Wert auf Kon­ven­tio­nen leg­ten, hat­ten Hep­ze­bah von Anfang an so akzep­tiert – auch wenn die meis­ten ande­ren Men­schen ange­sichts der fast zwei Meter gro­ßen, schwar­zen Frau schnell die Nase rümpften.

Weihnachten bei den Broadmeadows Border Collies

Bei­na­he genau­so selbst­ver­ständ­lich, wie die Win­slows die schrä­ge Tan­te in ihre Fami­lie auf­ge­nom­men hat­ten, lud sie sich weni­ge Tage vor dem Fest auch schon seit Jah­ren zum Weih­nachts­es­sen ein. »Blut macht noch kei­ne Fami­lie«, hat­te sie ein­mal am Tele­fon gesagt, um ihr Kom­men anzu­kün­di­gen, »das sind nur Ver­wand­te.« Eine Fami­lie bestand ihrer Mei­nung nach aus Men­schen, mit denen man das Gute, Schlech­te und Häss­li­che tei­len konn­te – und von denen man trotz allem noch geliebt wur­de. »Und die sucht man sich immer noch am bes­ten selbst aus!« Wer wür­de dem schon wider­spre­chen wollen?

Wäh­rend Sara ihr Stu­di­um auf­grund einer üblen Magen­ver­stim­mung auf­ge­ge­ben muss­te – einer, die gera­de ihren sech­zehn­ten Geburts­tag gefei­ert hat­te und hin­ge­bungs­vol­le Gedich­te schrieb –, zog Hep­ze­bah durch die Welt. Sie war nach Indi­en gereist, hat­te eini­ge Zeit in einem fran­zö­si­schen Künst­ler­kol­lek­tiv gelebt und schließ­lich beschlos­sen, eine Bou­tique im Green­wich Vil­la­ge zu eröff­nen – das »Eclec­tic Empo­ri­um«, in dem sie, wie soll­te es auch anders sein, selbst die bes­te Kun­din war. Ihre Brie­fe klan­gen stets so, als hät­te sie gera­de ein Aben­teu­er been­det und wäre auf dem Weg in das nächs­te. Von einem Jahr auf das ande­re wuss­te die Fami­lie nie, wo sie sich gera­de auf­hielt. Doch zu Weih­nach­ten war sie immer da – und jedes Jahr brach­te sie noch bizar­re­re Geschen­ke mit, als im Jahr zuvor.

Harold hat­te sich immer gefragt, war­um sie sich auf der end­lo­sen Suche nach Erleuch­tung und neu­en Erfah­run­gen befand, wäh­rend Sara ledig­lich mein­te: »Das ist eben Hep­ze­bah. Sie ist wie eine Wet­ter­front – du weißt nie, wann sie kommt, aber du spürst sie, wenn sie da ist.« Und das traf den Nagel auf den Kopf. Es gab das Jahr, in dem sie sel­te­ne Gewür­ze aus dem Nahen Osten mit­brach­te, die die Küche für Wochen unbe­nutz­bar mach­ten. Oder das Jahr, in dem sie eine Samm­lung hand­ge­schnitz­ter afri­ka­ni­scher Mas­ken ver­schenk­te, von denen Harold über­zeugt war, dass sie ver­flucht sein muss­ten, weil die Glüh­bir­ne im Flur plötz­lich nicht mehr auf­hö­ren woll­te zu fla­ckern. Im letz­ten Jahr über­reich­te sie der Fami­lie einen Plat­ten­spie­ler, den sie auf einem Floh­markt in Ams­ter­dam erstan­den hat­te. »Der funk­tio­niert zwar nicht, aber der Ver­käu­fer hat mir glaub­haft ver­si­chert, dass der ein­mal Janis Jop­lin gehört hat. Hal­tet ihn in Ehren!«

»Scout, geh zur Sei­te!«, rief Sara, als sie sich mit einer damp­fen­den Schüs­sel in den Hän­den ihren Weg zum Ess­tisch bahn­te. »Pas­ti­na­ken­pü­ree«, erschnüf­fel­te Scout ange­wi­dert und mach­te frei­wil­lig Platz. Gera­de, als er sich anschi­cken woll­te, sich unter dem Ess­tisch zusam­men­zu­rol­len, hör­te er, wie vor dem Haus eine Wagen­tür zuge­schla­gen wur­de und spitz­te die Ohren. Gleich dar­auf kam Emi­ly die Trep­pen her­un­ter­ge­rannt. »Das wer­det ihr nie­mals glau­ben!«, jubi­lier­te sie, als sie die Haus­tür auf­riss. 

Weihnachten bei den Broadmeadows Border Collies

»Es heißt, mein Ruf eilt mir vor­aus«, ent­geg­ne­te Tan­te Hep­ze­bah, die mit einem brei­ten Grin­sen auf den dun­kel­rot geschmink­ten Lip­pen davor stand. Sie trug eine fell­be­setz­te Müt­ze, an der mit­tig eine schim­mern­de Bro­sche befes­tigt war, und einen boden­lan­gen, wei­ßen Pelz­man­tel, der bei­na­he zu aus­la­dend schien, um durch die Tür zu pas­sen. »Fro­he Weih­nach­ten, mei­ne Lie­ben!«, rief sie und hielt eine Lei­ne in die Höhe, an deren Ende … eine Zie­ge stand. 

Eine ech­te, leben­di­ge Ziege.

Sara ließ fast die Schüs­sel fal­len. Harold starr­te fas­sungs­los. Emi­ly quietsch­te vor Freu­de. Und Scout? Scout blieb wie ange­wur­zelt vor der Zie­ge ste­hen, die ihn her­aus­for­dernd anglotz­te. »Das ist Ger­trud«, ver­kün­de­te Hep­ze­bah stolz. »Ich habe sie unter­wegs auf­ge­sam­melt. Sie ist ein Geschenk – für euch alle! Ist sie nicht ganz wun­der­bar?« Die Zie­ge mecker­te, als wäre es an ihr, das zu bestä­ti­gen, und begann sofort, an einer der Lich­ter­ket­ten zu kau­en. »Eine Zie­ge?«, frag­te Harold schließ­lich, als er sich zu Hep­ze­bah umdreh­te. »Bist du sicher, dass das … not­wen­dig war?« Hep­ze­bah lach­te, wäh­rend sie ihm ihren Man­tel in die Hän­de drück­te. »Oh, abso­lut. Ger­trud ist ganz pfle­ge­leicht. Außer­dem, war­um nicht? Es ist Weih­nach­ten! Seid froh, dass ich euch nicht auch noch Ochs’ und Esel mit­ge­bracht habe.« Es folg­ten Küs­se und Umar­mun­gen. Und ein lei­ses Knur­ren von Scout.

Ger­trud stand da, ruhig, fast majes­tä­tisch, als wür­de sie ihm mit ihrer blo­ßen Anwe­sen­heit sagen: »Fami­lie ist kein fes­ter Platz, den man ver­tei­di­gen muss. Es ist ein Raum, den man teilt.« Scout spür­te, wie sei­ne anfäng­li­che Abwehr in etwas ande­res umschlug – Neu­gier, viel­leicht sogar Respekt. Die­se Zie­ge hat­te kei­ne Angst vor ihm. Im Gegen­teil, sie schien es zu genie­ßen, inmit­ten die­ses selt­sa­men, war­men Durch­ein­an­ders zu sein, und Scout wur­de bewusst, dass sie genau­so dazu­ge­hör­te wie er selbst.

Er erin­ner­te sich an die Zeit, als er selbst »der Neue« bei den Win­slows war – win­zig und ver­wirrt, mit gera­de ein­mal zehn Wochen. Nicht in die­se Fami­lie gebo­ren, son­dern hin­ein­ge­bracht. Ein Wel­pe, der viel zu ler­nen hat­te, nicht nur über das Haus und die Men­schen, son­dern auch dar­über, wo er in all dem sei­nen Platz fin­den soll­te. Am Anfang war es schwer gewe­sen. Nichts roch nach sei­ner alten Umge­bung, nach sei­ner Mut­ter oder sei­nen Geschwis­tern. Aber nach und nach hat­te er ver­stan­den: Fami­lie ist nicht, wo man gebo­ren wird, son­dern wo man ankommt. Wo man bleibt.

Jetzt lag er hier, unter dem Tisch, und sah zu, wie Ger­trud sich mit der glei­chen Selbst­ver­ständ­lich­keit in die Sze­ne ein­füg­te, die auch er irgend­wann gefun­den hat­te. Die Geräu­sche des Essens und das Lachen dar­über kaum wahr­neh­mend, dach­te er: Sein Platz. Aber viel­leicht war das nicht so wich­tig. Fami­li­en­platz. Die­ses Wort hat­te nie wirk­lich einen Sinn für ihn erge­ben. Doch jetzt – jetzt schien es mehr zu sein. Ein Ort, den man nicht für sich allei­ne bean­spruch­te, son­dern den man immer wie­der teil­te, sei es mit einer Zie­ge, einer schrul­li­gen Tan­te oder dem nächs­ten Streu­ner, der an die Tür klopfte.

Und wäh­rend der Duft von Lin­sen­bra­ten und Pas­ti­na­ken­pü­ree die Luft erfüll­te, wur­de Scout klar, was Hep­ze­bah einst gesagt hat­te: Fami­lie ist nicht das, was dir in die Wie­ge gelegt wird – Fami­lie ist das, was du im Lau­fe des Lebens für dich fin­dest. Ein guter Freund. Eine Zufalls­be­kannt­schaft. Oder sogar ein Hund. So einer, viel­leicht, wie Scout.

Vie­le Geschich­ten, dir ich frü­her oder spä­ter zu Papier brin­ge, fin­den ihren Ursprung auf einem unse­rer Spa­zier­gän­ge. Auch die Geschich­ten über die Fami­lie Win­slow sind mir irgend­wo zwi­schen Feld und Wald zuge­flo­gen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt ange­nom­men. Womög­lich woll­ten die­se Vier sich ganz ein­fach nicht damit begnü­gen, nur eine Geburts­tags­ge­schich­te für einen unse­rer Wür­fe zu sein. Womög­lich haben sie – Hirn­ge­spins­te kön­nen das – äußerst hart­nä­ckig dar­auf bestan­den, noch ein wenig wei­ter erzählt zu wer­den. Bis ins neue Jahr wer­den nun also noch fünf wei­te­re Geschich­ten über Harold, Sara, Emi­ly und Scout, den Bor­der Col­lie, fol­gen. Ob sie sich damit zufrie­den geben wer­den, dass die Weih­nachts­zeit ihrer Fami­lie gehört? Oder soll­ten wir sie – zumin­dest gedank­lich – auch zu unse­rer Fami­lie machen?


© Johannes Willwacher