Eine Adventsgeschichte: Warum es manchmal einen übermütigen Hund braucht, um alte Traditionen in Frage zu stellen – und ganz neue für sich selbst zu entwickeln.
I can’t stop this feeling deep inside of me.
Blue Swede (1974)
Alles fing damit an, dass Scout ein Schaf verschlang. Nicht, dass er dergleichen beabsichtigt hätte. Es geschah ganz einfach.
Es war der erste Advent, und das Wohnzimmer der Winslows hatte sich wie in jedem Jahr in eine Wahnvorstellung aus halb ausgepackten Pappkartons, Tannenzweigen und Lichterketten verwandelt. Sara hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die alte Krippe aufzubauen – ein Ritual, das für sie zur Adventszeit gehörte, obwohl die Figuren schon bessere Zeiten gesehen hatten. Sie waren nichts besonderes, ein Spontankauf, den sie vor Jahren bei Woolworth getätigt hatte. Hirten, Tiere und die Heilige Familie – allesamt aus abgenutztem Plastik, das mit den Jahren ein wenig schmuddelig geworden war.
Scout lag faul auf dem Teppich, die Ohren entspannt, die Augen halb geschlossen, doch seinem aufmerksamen Geist entging nichts um ihn herum. Für die Weihnachtsdekoration der Winslows hatte er zwar herzlich wenig übrig, die neuen Gerüche, die sich mit jedem Pappkarton für ihn auftaten, der vom Dachboden herunter getragen wurde, gefielen ihm aber. Welchem Hund würde das nicht gefallen? Ein wenig süßlich, ein wenig modrig – und im allerbesten Fall rieselte auch noch frischer Mäusekot von den Kartons herunter.
Als Sara über ihn hinweg stieg, um noch weitere Kartons zu holen – zuvor hatte sie laut mit sich selbst gesprochen und etwas gesagt, das in Scouts Ohren wie Giftbaumspritze geklungen hatte –, stieß sie gegen den Tisch und das Plastikschaf fiel herunter. Es landete direkt vor Scouts Nase. Er hob den Kopf, schnupperte neugierig und nahm das Schaf vorsichtig ins Maul. Er dachte nicht wirklich darüber nach – es roch nach Staub und Dachboden – und das war in jedem Fall interessant. Er kaute sanft darauf herum, ohne eine böse Absicht, bis er plötzlich ein leises Knacken hörte. Augenblicklich stellte er das Kauen ein und starrte schuldbewusst vor sich auf den Boden.
Sara kam zurück und erstarrte in der Tür. »Scout!«, rief sie entsetzt und sah, wie er das eben erst ausgespuckte Schaf verschluckte. »Das kann nicht dein Ernst sein!« Sie warf einen Blick auf die fast vollständige Krippe und den fehlenden Platz des Schafes, dann sah sie Scout an, der nun mit hängenden Ohren vor ihr saß, als ob er genau wüsste, dass er sich Ärger eingehandelt hatte.
Emily kam dazu, angezogen von dem Lärm. »Was ist los?«, fragte sie. »Der Hund hat das Schaf verschluckt!«, erklärte Sara, die sich zwischen Entsetzen und Belustigung nicht entscheiden konnte. »Dieses alte Plastikschaf, das bei den Hirten vor der Krippe stand?«, fragte Emily, eine Augenbraue hochziehend. »Na, es ist ja nicht so, als wäre das alte Ding aus Gold gewesen. Wenn’s ihm bekommt, dann ist es vielleicht ein Zeichen, das die Weihnachtsgeschichte umgeschrieben werden sollte.« Sara starrte die Krippe an. »Ja, aber jetzt fehlt es«, seufzte sie, »es sieht nicht mehr vollständig aus.« Emily beugte sich zu Scout herunter, der sich beschwichtigend die Lefzen leckte. »Es war nur ein Schaf«, sagte sie zu ihm und lachte leise, »außerdem … war es echt hässlich.«
Später, am Abend. »Was ist das denn? Eine Gewürzgurke?«, fragte Harold ungläubig, als er die fertig aufgebaute Krippe in Augenschein nahm. Sara zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«, sagte sie und drückte ihr Machwerk noch ein wenig fester auf die dünnen Zahnstocherbeine. Scout trottete heran, hob schnüffelnd den Kopf und schien zu denken, dass dies die seltsamste Krippenfigur war, die er je gesehen hatte. »Es heißt doch, wer die Weihnachtsgurke als Erster entdeckt, bekommt ein zusätzliches Geschenk«, fügte Sara mit einem Lachen hinzu. In vielen Familien war es tatsächlich Tradition, eine Gurke aus Glas zwischen den Ästen des Weihnachtsbaums zu verstecken. »Und schaut euch an, wir alle sind doch schon reich beschenkt worden. Mit einander!« Und dann, mit einem strengen Blick zu Scout: »Das bedeutet aber nicht, dass du nun jedes Jahr eine der Krippenfiguren fressen darfst!« Scout gähnte. Und alles war gut.
Viele Geschichten, dir ich früher oder später zu Papier bringe, finden ihren Ursprung auf einem unserer Spaziergänge. Auch die Geschichten über die Familie Winslow sind mir irgendwo zwischen Feld und Wald zugeflogen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt angenommen. Womöglich wollten diese Vier sich ganz einfach nicht damit begnügen, nur eine Geburtstagsgeschichte für einen unserer Würfe zu sein. Womöglich haben sie – Hirngespinste können das – äußerst hartnäckig darauf bestanden, noch ein wenig weiter erzählt zu werden. Bis ins neue Jahr werden nun also noch fünf weitere Geschichten über Harold, Sara, Emily und Scout, den Border Collie, folgen. Ob sie sich damit zufrieden geben werden, dass die Weihnachtszeit ihrer Familie gehört? Oder sollten wir sie – zumindest gedanklich – auch zu unserer Familie machen?
© Johannes Willwacher