Eine Adventsgeschichte: Warum es manchmal einen übermütigen Hund braucht, um alte Traditionen in Frage zu stellen – und ganz neue für sich selbst zu entwickeln.

Alles fing damit an, dass Scout ein Schaf ver­schlang. Nicht, dass er der­glei­chen beab­sich­tigt hät­te. Es geschah ganz einfach.

Es war der ers­te Advent, und das Wohn­zim­mer der Win­slows hat­te sich wie in jedem Jahr in eine Wahn­vor­stel­lung aus halb aus­ge­pack­ten Papp­kar­tons, Tan­nen­zwei­gen und Lich­ter­ket­ten ver­wan­delt. Sara hat­te es sich zur Auf­ga­be gemacht, die alte Krip­pe auf­zu­bau­en – ein Ritu­al, das für sie zur Advents­zeit gehör­te, obwohl die Figu­ren schon bes­se­re Zei­ten gese­hen hat­ten. Sie waren nichts beson­de­res, ein Spon­tan­kauf, den sie vor Jah­ren bei Wool­worth getä­tigt hat­te. Hir­ten, Tie­re und die Hei­li­ge Fami­lie – alle­samt aus abge­nutz­tem Plas­tik, das mit den Jah­ren ein wenig schmud­de­lig gewor­den war. 

Scout lag faul auf dem Tep­pich, die Ohren ent­spannt, die Augen halb geschlos­sen, doch sei­nem auf­merk­sa­men Geist ent­ging nichts um ihn her­um. Für die Weih­nachts­de­ko­ra­ti­on der Win­slows hat­te er zwar herz­lich wenig übrig, die neu­en Gerü­che, die sich mit jedem Papp­kar­ton für ihn auf­ta­ten, der vom Dach­bo­den her­un­ter getra­gen wur­de, gefie­len ihm aber. Wel­chem Hund wür­de das nicht gefal­len? Ein wenig süß­lich, ein wenig mod­rig – und im aller­bes­ten Fall rie­sel­te auch noch fri­scher Mäu­se­kot von den Kar­tons herunter.

Als Sara über ihn hin­weg stieg, um noch wei­te­re Kar­tons zu holen – zuvor hat­te sie laut mit sich selbst gespro­chen und etwas gesagt, das in Scouts Ohren wie Gift­baum­sprit­ze geklun­gen hat­te –, stieß sie gegen den Tisch und das Plas­tik­schaf fiel her­un­ter. Es lan­de­te direkt vor Scouts Nase. Er hob den Kopf, schnup­per­te neu­gie­rig und nahm das Schaf vor­sich­tig ins Maul. Er dach­te nicht wirk­lich dar­über nach – es roch nach Staub und Dach­bo­den – und das war in jedem Fall inter­es­sant. Er kau­te sanft dar­auf her­um, ohne eine böse Absicht, bis er plötz­lich ein lei­ses Kna­cken hör­te. Augen­blick­lich stell­te er das Kau­en ein und starr­te schuld­be­wusst vor sich auf den Boden.

Sara kam zurück und erstarr­te in der Tür. »Scout!«, rief sie ent­setzt und sah, wie er das eben erst aus­ge­spuck­te Schaf ver­schluck­te. »Das kann nicht dein Ernst sein!« Sie warf einen Blick auf die fast voll­stän­di­ge Krip­pe und den feh­len­den Platz des Scha­fes, dann sah sie Scout an, der nun mit hän­gen­den Ohren vor ihr saß, als ob er genau wüss­te, dass er sich Ärger ein­ge­han­delt hatte.

Emi­ly kam dazu, ange­zo­gen von dem Lärm. »Was ist los?«, frag­te sie. »Der Hund hat das Schaf ver­schluckt!«, erklär­te Sara, die sich zwi­schen Ent­set­zen und Belus­ti­gung nicht ent­schei­den konn­te. »Die­ses alte Plas­tik­schaf, das bei den Hir­ten vor der Krip­pe stand?«, frag­te Emi­ly, eine Augen­braue hoch­zie­hend. »Na, es ist ja nicht so, als wäre das alte Ding aus Gold gewe­sen. Wenn’s ihm bekommt, dann ist es viel­leicht ein Zei­chen, das die Weih­nachts­ge­schich­te umge­schrie­ben wer­den soll­te.« Sara starr­te die Krip­pe an. »Ja, aber jetzt fehlt es«, seufz­te sie, »es sieht nicht mehr voll­stän­dig aus.« Emi­ly beug­te sich zu Scout her­un­ter, der sich beschwich­ti­gend die Lef­zen leck­te. »Es war nur ein Schaf«, sag­te sie zu ihm und lach­te lei­se, »außer­dem … war es echt hässlich.«

Spä­ter, am Abend. »Was ist das denn? Eine Gewürz­gur­ke?«, frag­te Harold ungläu­big, als er die fer­tig auf­ge­bau­te Krip­pe in Augen­schein nahm. Sara zuck­te mit den Schul­tern. »War­um nicht?«, sag­te sie und drück­te ihr Mach­werk noch ein wenig fes­ter auf die dün­nen Zahn­sto­cher­bei­ne. Scout trot­te­te her­an, hob schnüf­felnd den Kopf und schien zu den­ken, dass dies die selt­sams­te Krip­pen­fi­gur war, die er je gese­hen hat­te. »Es heißt doch, wer die Weih­nachts­gur­ke als Ers­ter ent­deckt, bekommt ein zusätz­li­ches Geschenk«, füg­te Sara mit einem Lachen hin­zu. In vie­len Fami­li­en war es tat­säch­lich Tra­di­ti­on, eine Gur­ke aus Glas zwi­schen den Ästen des Weih­nachts­baums zu ver­ste­cken. »Und schaut euch an, wir alle sind doch schon reich beschenkt wor­den. Mit ein­an­der!« Und dann, mit einem stren­gen Blick zu Scout: »Das bedeu­tet aber nicht, dass du nun jedes Jahr eine der Krip­pen­fi­gu­ren fres­sen darfst!« Scout gähn­te. Und alles war gut.

Vie­le Geschich­ten, dir ich frü­her oder spä­ter zu Papier brin­ge, fin­den ihren Ursprung auf einem unse­rer Spa­zier­gän­ge. Auch die Geschich­ten über die Fami­lie Win­slow sind mir irgend­wo zwi­schen Feld und Wald zuge­flo­gen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt ange­nom­men. Womög­lich woll­ten die­se Vier sich ganz ein­fach nicht damit begnü­gen, nur eine Geburts­tags­ge­schich­te für einen unse­rer Wür­fe zu sein. Womög­lich haben sie – Hirn­ge­spins­te kön­nen das – äußerst hart­nä­ckig dar­auf bestan­den, noch ein wenig wei­ter erzählt zu wer­den. Bis ins neue Jahr wer­den nun also noch fünf wei­te­re Geschich­ten über Harold, Sara, Emi­ly und Scout, den Bor­der Col­lie, fol­gen. Ob sie sich damit zufrie­den geben wer­den, dass die Weih­nachts­zeit ihrer Fami­lie gehört? Oder soll­ten wir sie – zumin­dest gedank­lich – auch zu unse­rer Fami­lie machen?

© Johannes Willwacher