Eine Adventsgeschichte: Warum nicht jedes Märchen einen siegreichen Helden braucht – und selbst die schönste Tanne womöglich nicht zum Weihnachtsbaum taugt.
‘Cause I’ve done everything I know
to try and make you mine.
Linda Ronstadt (1970)
Die Straße, die Harold in den Wald führte, war kaum noch zu erkennen. Der Himmel hatte sich in ein gleichmäßiges Grau gehüllt, und das Schneetreiben war so dicht, dass das Radio nur noch rauschte. Seufzend griff Harold nach der ersten Kassette, die er im Handschuhfach des braunen Range Rover fand. Zweifelsohne eine von Saras Kassetten – mit Linda Ronstadt hatte er nie viel anfangen können. Er erinnerte sich noch gut an einen Ausflug, den sie vor fünf oder sechs Jahren unternommen hatten – Sara hatte darauf bestanden, den Kancamagus Highway zu nehmen, um in den Herbstfarben der White Mountains zu baden –, und noch besser an ihr beharrliches Schweigen, nachdem er es gewagt hatte, ihren Musikgeschmack zu kritisieren. »Es ist, als würde sie die rauen Kanten des Lebens sorgsam polieren«, hatte er gesagt. »Das ist alles zu schön, zu glatt, zu makellos, und kann nur jemandem gefallen, der genauso oberflächlich ist.« Sara hatte daraufhin kein Wort mehr gesprochen, bis sie wieder zuhause angekommen waren, und auch dort nur mit den Türen geknallt. Weil der Schnee ihm nun aber keine andere Möglichkeit ließ, sang er aus voller Kehle mit, während Linda Ronstadt Long Long Time schmetterte. Unbeeindruckt davon saß Scout mit glänzenden Augen auf dem Beifahrersitz, die Nase gegen die Scheibe gedrückt, so als könne er den Wald bereits riechen. Der Hund liebte es, durch den Schnee zu springen, und das hier – ein abgelegener Forst, fern von der Welt – versprach ein Abenteuer.
»Das muss reichen«, sagte Harold schließlich, als er den Motor abstellte und sich die Handschuhe überstreifte, »weiter kommen wir nicht.« Der Hund sprang aufgeregt aus dem Wagen, seine Pfoten versanken sofort im frischen Schnee. »Es wird kalt, aber das stört uns nicht, oder?«, fragte Harold den Hund. Weil der ihm eine Antwort schuldig blieb – mit einer Schnauze voll Schnee ließ es sich auch schlecht antworten –, schulterte Harold die Axt und ging voraus.
Obwohl es bereits zu dämmern begonnen hatte, wirkte der Wald lebendig. Die Schatten, die die Bäume warfen, schienen ihnen zu folgen, und der Wind, der durch die hoch aufragenden Wipfel wehte, trug immer wieder frischen Schnee zu ihnen herunter. Harold dachte unwillkürlich an die Märchen, die er als Kind gelesen hatte, von Wäldern, die sprechen konnten, und Bäumen, die mit langen, knorrigen Fingern nach jedem Eindringling griffen. Scout sprang voran, unbeeindruckt von den Gedanken seines Menschen – ein Baum blieb für ihn auch dann nur ein Baum, wenn er gerade sein Bein dagegen hob.
Plötzlich blieb Harold stehen. Dort, auf einer Lichtung, umgeben von hohen, dunklen Tannen, stand sie. Ihr Wuchs war makellos, der Stamm gerade, die grünen Äste regelmäßig und dicht. »Da bist du ja«, keuchte Harold, »noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe!« Er ließ die Axt in den behandschuhten Händen kreisen, trat näher heran, und mit einem kräftigen Schwung fuhr sie auf den Stamm nieder. Doch nichts geschah. Kein Splittern, kein Knacken – nur das dumpfe Geräusch von Metall, das auf Holz schlug. Harold zog die Axt zurück, runzelte die Stirn und versuchte es erneut. Wieder dasselbe.
Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na, so einfach willst du es mir nicht machen, was?«, murmelte er, und dann – fast unbewusst – begann er mit sich selbst zu sprechen. Oder besser gesagt, sprach die Tanne mit seiner Stimme. »Ach, Harold«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton, »denkst du wirklich, ich lasse mich so mir nichts, dir nichts von dir fällen?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum nicht? Bald ist Weihnachten. Du bist eine Tanne. Und dazu noch die schönste, die ich je gesehen habe!« Wieder ließ er die Axt auf den Stamm niederfahren. Wieder tat sich nichts. »Oh, viele haben das schon gedacht«, entgegnete die Tanne, »viele haben versucht, mich zu fällen. Aber ich bin immer noch hier. Hier in meinem Wald.«
Harold lachte leise. »Das klingt nach einem Märchen. Aber ich bin kein Holzfäller aus einem Märchenbuch. Ich bin nur ein Mann, der nach einem Weihnachtsbaum sucht.« Die Tanne schüttelte sich. »Märchen sind voller Männer, die genau das wollen: die schönste Prinzessin, die schönste Belohnung, den schönsten Baum. In den besten bekommt der Held am Ende aber nicht das, was er will. Er bekommt das, was er braucht. Und das wäre in deinem Fall eben: gar nichts!«
»Dann eben nicht«, sagte Harold schulterzuckend, »womöglich bist du wirklich nicht dazu bestimmt, gefällt zu werden.« Die Tanne neigte sich im Wind, als würde sie dem zustimmen wollen. Harold ließ die Axt sinken und betrachtete den Baum. Scout, der die ganze Zeit schnüffelnd um die Tanne herumgesprungen war, setzte sich neben ihn und blickte zu ihm auf. »Du also auch noch«, sagte Harold schließlich, seine Stimme resigniert, aber nicht unglücklich. »Du hast gewonnen. Du bleibst hier.«
Auf dem Rückweg zum Wagen dachte Harold darüber nach, wie albern er sich vorkommen sollte. Ein erwachsener Mann, der mit einem Baum spricht. Und trotzdem – es hatte sich gut angefühlt, die Tanne dort stehen zu lassen. Nachdem sie den nunmehr fast vollständig mit Schnee bedeckten Wagen erreicht, er Scout die Beifahrertür geöffnet und sich selbst wieder hinter das Steuer gesetzt hatte, starrte er durch das mechanische Hin und Her der Wischblätter eine Weile auf den dunklen Wald vor ihm, die Zweige der Tannen vom schwachen Licht der Scheinwerfer beleuchtet.
»Vielleicht sollte ich doch einen künstlichen Baum kaufen«, überlegte er und startete den Wagen, »einen, der sich nicht ganz so widerspenstig zeigt.« Scout legte den Kopf auf seine Pfoten und schloss zufrieden die Augen, während Harold den Wagen wendete und den Wald hinter sich ließ. Es fühlte sich seltsam befreiend an, den Baum im Wald zurückzulassen – als hätte er, ohne es zu wissen, das richtige Märchenende gewählt.
Viele Geschichten, dir ich früher oder später zu Papier bringe, finden ihren Ursprung auf einem unserer Spaziergänge. Auch die Geschichten über die Familie Winslow sind mir irgendwo zwischen Feld und Wald zugeflogen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt angenommen. Womöglich wollten diese Vier sich ganz einfach nicht damit begnügen, nur eine Geburtstagsgeschichte für einen unserer Würfe zu sein. Womöglich haben sie – Hirngespinste können das – äußerst hartnäckig darauf bestanden, noch ein wenig weiter erzählt zu werden. Bis ins neue Jahr werden nun also noch fünf weitere Geschichten über Harold, Sara, Emily und Scout, den Border Collie, folgen. Ob sie sich damit zufrieden geben werden, dass die Weihnachtszeit ihrer Familie gehört? Oder sollten wir sie – zumindest gedanklich – auch zu unserer Familie machen?
© Johannes Willwacher