Eine Adventsgeschichte: Warum nicht jedes Märchen einen siegreichen Helden braucht – und selbst die schönste Tanne womöglich nicht zum Weihnachtsbaum taugt.

Die Stra­ße, die Harold in den Wald führ­te, war kaum noch zu erken­nen. Der Him­mel hat­te sich in ein gleich­mä­ßi­ges Grau gehüllt, und das Schnee­trei­ben war so dicht, dass das Radio nur noch rausch­te. Seuf­zend griff Harold nach der ers­ten Kas­set­te, die er im Hand­schuh­fach des brau­nen Ran­ge Rover fand. Zwei­fels­oh­ne eine von Saras Kas­set­ten – mit Lin­da Ron­stadt hat­te er nie viel anfan­gen kön­nen. Er erin­ner­te sich noch gut an einen Aus­flug, den sie vor fünf oder sechs Jah­ren unter­nom­men hat­ten – Sara hat­te dar­auf bestan­den, den Kan­ca­ma­gus High­way zu neh­men, um in den Herbst­far­ben der White Moun­ta­ins zu baden –, und noch bes­ser an ihr beharr­li­ches Schwei­gen, nach­dem er es gewagt hat­te, ihren Musik­ge­schmack zu kri­ti­sie­ren. »Es ist, als wür­de sie die rau­en Kan­ten des Lebens sorg­sam polie­ren«, hat­te er gesagt. »Das ist alles zu schön, zu glatt, zu makel­los, und kann nur jeman­dem gefal­len, der genau­so ober­fläch­lich ist.« Sara hat­te dar­auf­hin kein Wort mehr gespro­chen, bis sie wie­der zuhau­se ange­kom­men waren, und auch dort nur mit den Türen geknallt. Weil der Schnee ihm nun aber kei­ne ande­re Mög­lich­keit ließ, sang er aus vol­ler Keh­le mit, wäh­rend Lin­da Ron­stadt Long Long Time schmet­ter­te. Unbe­ein­druckt davon saß Scout mit glän­zen­den Augen auf dem Bei­fah­rer­sitz, die Nase gegen die Schei­be gedrückt, so als kön­ne er den Wald bereits rie­chen. Der Hund lieb­te es, durch den Schnee zu sprin­gen, und das hier – ein abge­le­ge­ner Forst, fern von der Welt – ver­sprach ein Abenteuer.

»Das muss rei­chen«, sag­te Harold schließ­lich, als er den Motor abstell­te und sich die Hand­schu­he über­streif­te, »wei­ter kom­men wir nicht.« Der Hund sprang auf­ge­regt aus dem Wagen, sei­ne Pfo­ten ver­san­ken sofort im fri­schen Schnee. »Es wird kalt, aber das stört uns nicht, oder?«, frag­te Harold den Hund. Weil der ihm eine Ant­wort schul­dig blieb – mit einer Schnau­ze voll Schnee ließ es sich auch schlecht ant­wor­ten –, schul­ter­te Harold die Axt und ging voraus.

Obwohl es bereits zu däm­mern begon­nen hat­te, wirk­te der Wald leben­dig. Die Schat­ten, die die Bäu­me war­fen, schie­nen ihnen zu fol­gen, und der Wind, der durch die hoch auf­ra­gen­den Wip­fel weh­te, trug immer wie­der fri­schen Schnee zu ihnen her­un­ter. Harold dach­te unwill­kür­lich an die Mär­chen, die er als Kind gele­sen hat­te, von Wäl­dern, die spre­chen konn­ten, und Bäu­men, die mit lan­gen, knor­ri­gen Fin­gern nach jedem Ein­dring­ling grif­fen. Scout sprang vor­an, unbe­ein­druckt von den Gedan­ken sei­nes Men­schen – ein Baum blieb für ihn auch dann nur ein Baum, wenn er gera­de sein Bein dage­gen hob.

Plötz­lich blieb Harold ste­hen. Dort, auf einer Lich­tung, umge­ben von hohen, dunk­len Tan­nen, stand sie. Ihr Wuchs war makel­los, der Stamm gera­de, die grü­nen Äste regel­mä­ßig und dicht. »Da bist du ja«, keuch­te Harold, »noch schö­ner, als ich es mir vor­ge­stellt habe!« Er ließ die Axt in den behand­schuh­ten Hän­den krei­sen, trat näher her­an, und mit einem kräf­ti­gen Schwung fuhr sie auf den Stamm nie­der. Doch nichts geschah. Kein Split­tern, kein Kna­cken – nur das dump­fe Geräusch von Metall, das auf Holz schlug. Harold zog die Axt zurück, run­zel­te die Stirn und ver­such­te es erneut. Wie­der dasselbe.

Er trat einen Schritt zurück und ver­schränk­te die Arme vor der Brust. »Na, so ein­fach willst du es mir nicht machen, was?«, mur­mel­te er, und dann – fast unbe­wusst – begann er mit sich selbst zu spre­chen. Oder bes­ser gesagt, sprach die Tan­ne mit sei­ner Stim­me. »Ach, Harold«, sag­te sie in vor­wurfs­vol­lem Ton, »denkst du wirk­lich, ich las­se mich so mir nichts, dir nichts von dir fäl­len?« Er zog die Augen­brau­en hoch. »War­um nicht? Bald ist Weih­nach­ten. Du bist eine Tan­ne. Und dazu noch die schöns­te, die ich je gese­hen habe!« Wie­der ließ er die Axt auf den Stamm nie­der­fah­ren. Wie­der tat sich nichts. »Oh, vie­le haben das schon gedacht«, ent­geg­ne­te die Tan­ne, »vie­le haben ver­sucht, mich zu fäl­len. Aber ich bin immer noch hier. Hier in mei­nem Wald.« 

Harold lach­te lei­se. »Das klingt nach einem Mär­chen. Aber ich bin kein Holz­fäl­ler aus einem Mär­chen­buch. Ich bin nur ein Mann, der nach einem Weih­nachts­baum sucht.« Die Tan­ne schüt­tel­te sich. »Mär­chen sind vol­ler Män­ner, die genau das wol­len: die schöns­te Prin­zes­sin, die schöns­te Beloh­nung, den schöns­ten Baum. In den bes­ten bekommt der Held am Ende aber nicht das, was er will. Er bekommt das, was er braucht. Und das wäre in dei­nem Fall eben: gar nichts!«

»Dann eben nicht«, sag­te Harold schul­ter­zu­ckend, »womög­lich bist du wirk­lich nicht dazu bestimmt, gefällt zu wer­den.« Die Tan­ne neig­te sich im Wind, als wür­de sie dem zustim­men wol­len. Harold ließ die Axt sin­ken und betrach­te­te den Baum. Scout, der die gan­ze Zeit schnüf­felnd um die Tan­ne her­um­ge­sprun­gen war, setz­te sich neben ihn und blick­te zu ihm auf. »Du also auch noch«, sag­te Harold schließ­lich, sei­ne Stim­me resi­gniert, aber nicht unglück­lich. »Du hast gewon­nen. Du bleibst hier.«

Auf dem Rück­weg zum Wagen dach­te Harold dar­über nach, wie albern er sich vor­kom­men soll­te. Ein erwach­se­ner Mann, der mit einem Baum spricht. Und trotz­dem – es hat­te sich gut ange­fühlt, die Tan­ne dort ste­hen zu las­sen. Nach­dem sie den nun­mehr fast voll­stän­dig mit Schnee bedeck­ten Wagen erreicht, er Scout die Bei­fah­rer­tür geöff­net und sich selbst wie­der hin­ter das Steu­er gesetzt hat­te, starr­te er durch das mecha­ni­sche Hin und Her der Wisch­blät­ter eine Wei­le auf den dunk­len Wald vor ihm, die Zwei­ge der Tan­nen vom schwa­chen Licht der Schein­wer­fer beleuch­tet. 

»Viel­leicht soll­te ich doch einen künst­li­chen Baum kau­fen«, über­leg­te er und star­te­te den Wagen, »einen, der sich nicht ganz so wider­spens­tig zeigt.« Scout leg­te den Kopf auf sei­ne Pfo­ten und schloss zufrie­den die Augen, wäh­rend Harold den Wagen wen­de­te und den Wald hin­ter sich ließ. Es fühl­te sich selt­sam befrei­end an, den Baum im Wald zurück­zu­las­sen – als hät­te er, ohne es zu wis­sen, das rich­ti­ge Mär­chen­en­de gewählt.

Vie­le Geschich­ten, dir ich frü­her oder spä­ter zu Papier brin­ge, fin­den ihren Ursprung auf einem unse­rer Spa­zier­gän­ge. Auch die Geschich­ten über die Fami­lie Win­slow sind mir irgend­wo zwi­schen Feld und Wald zuge­flo­gen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt ange­nom­men. Womög­lich woll­ten die­se Vier sich ganz ein­fach nicht damit begnü­gen, nur eine Geburts­tags­ge­schich­te für einen unse­rer Wür­fe zu sein. Womög­lich haben sie – Hirn­ge­spins­te kön­nen das – äußerst hart­nä­ckig dar­auf bestan­den, noch ein wenig wei­ter erzählt zu wer­den. Bis ins neue Jahr wer­den nun also noch fünf wei­te­re Geschich­ten über Harold, Sara, Emi­ly und Scout, den Bor­der Col­lie, fol­gen. Ob sie sich damit zufrie­den geben wer­den, dass die Weih­nachts­zeit ihrer Fami­lie gehört? Oder soll­ten wir sie – zumin­dest gedank­lich – auch zu unse­rer Fami­lie machen?

© Johannes Willwacher