Eine Adventsgeschichte: Warum das schönste Geschenk nicht immer das ist, das am verheißungsvollsten funkelt – und der größte Wert in der Verbundenheit liegt.

An der High School war die Auf­re­gung greif­bar, und die Schü­ler schie­nen nur über eines zu reden: Har­per. Die Jun­gen, weil sie mein­ten, in ihr Prin­zes­sin Leia aus Star Wars zu erken­nen, und die Mäd­chen, die sich vor dem Spie­gel der Schul­toi­let­te im zwei­ten Stock ange­regt über die Neue unter­hiel­ten – nun, aus bei­na­he dem­sel­ben Grund. »Habt ihr gese­hen, wie sie ges­tern ihre Haa­re getra­gen hat?«, mein­te eine bewun­dernd. »Amy, die in Bio neben ihr sitzt, hat erzählt, dass ihre Eltern stink­reich sind, sogar John Tra­vol­ta soll auf ihrer letz­ten Geburts­tags­par­ty gewe­sen sein«, wuss­te eine ande­re zum Gespräch bei­zu­steu­ern. »Sie sieht aus wie ein Film­star«, sag­te Emi­ly schließ­lich, und gab die halb auf­ge­rauch­te Ziga­ret­te an eines der ande­ren Mäd­chen wei­ter. Alle nick­ten. Wenn sie an Har­per dach­te, fühl­te Emi­ly sich selbst wie ein abge­tra­ge­ner, grau­er Woll­pull­over. Die Neue war wie eine fun­keln­de Weih­nachts­ku­gel. Eine, in der das eige­ne Spie­gel­bild immer ein biss­chen ver­zerrt aussah.

Ins­ge­heim war Emi­ly schon seit Mona­ten in Har­per ver­liebt. Aber es war eine Lie­be, die sie nicht ver­stand, ein uner­füll­tes Seh­nen nach etwas Uner­reich­ba­rem. Jedes Mal, wenn Har­per an ihr vor­bei­ging, spür­te sie ein Krib­beln im Bauch. Har­per war alles, was Emi­ly nicht war: selbst­si­cher, beliebt, umge­ben von einer Aura des Außer­ge­wöhn­li­chen. Und des­halb war Emi­ly erst recht ver­wirrt, als sie in ihrem Schul­spind einen Zet­tel mit Har­pers ele­gan­ter Hand­schrift fand.

»Rockin’ around the Christ­mas Tree«, stand dar­auf in gro­ßen Buch­sta­ben zu lesen und dar­un­ter, ein wenig abge­setzt, folg­te die Auf­for­de­rung, Kek­se mit­zu­brin­gen. Zwei­fels­oh­ne hat­te Har­per allen Schü­lern den glei­chen Zet­tel in den Spind gesteckt, aber für Emi­ly fühl­te es sich an, als hät­te Har­per nur sie per­sön­lich ein­ge­la­den. Ihr Herz klopf­te schnel­ler. »Kek­se«, mur­mel­te Emi­ly vor sich hin, als sie den Zet­tel in ihrer aus­ge­beul­ten Jacken­ta­sche ver­schwin­den ließ. »Was für Kek­se?« Doch dann hell­te sich ihr Blick auf und sie muss­te grin­sen. »Na, wenn sie Kek­se will, dann soll sie Kek­se bekom­men.« 

Die Par­ty hat­te bereits begon­nen, als Emi­ly mit Scout im Schlepp­tau ein­traf. Der Bor­der Col­lie trug ein Kos­tüm aus brau­nem Stoff, mit auf­ge­näh­ten bun­ten Punk­ten, die an Zucker­lin­sen erin­ner­ten. Den gan­zen Nach­mit­tag hat­te sie damit zuge­bracht, die Stoff­res­te zusam­men­zu­nä­hen, die sie in einer Kis­te auf dem Dach­bo­den gefun­den hat­te. Scout sah zwar nicht beson­ders begeis­tert aus, sie war ins­ge­heim aber den­noch stolz auf ihr Machwerk.

»Ist das dein Ernst?«, Har­pers Stim­me schnitt wie Eis durch die war­me Luft des Rau­mes, als Emi­ly mit Scout näher­kam. Har­per stand mit ver­schränk­ten Armen da, ihr Kleid glänz­te wie Gold­pa­pier. »Du hast dei­nen Hund als Keks ver­klei­det?« Emi­ly spür­te, wie ihre Wan­gen errö­te­ten, doch sie ver­such­te, sich nichts anmer­ken zu las­sen. »Du hast nach Kek­sen gefragt«, ent­geg­ne­te sie so ruhig wie mög­lich, »also dach­te ich, ich brin­ge den bes­ten Keks mit, den ich ken­ne.« Mitt­ler­wei­le waren sie von einer Grup­pe ande­rer Jugend­li­cher umringt, die Scout lachend beäug­te. »Ist das ein Witz?« Har­per schau­te ange­wi­dert auf Scout, der sie unschul­dig ansah. »Ich mein­te ech­te Kek­se, Emi­ly. So wie alle ande­ren. Das hier ist … kin­disch!« 

Scout, der das Unbe­ha­gen in der Luft spür­te, bell­te. Und auch Emi­ly hät­te es ihm am liebs­ten gleich getan. Die gan­ze Schwär­me­rei, die Unsi­cher­heit, das Gefühl, Har­per beein­dru­cken zu müs­sen – es zer­brach wie Glas, das zu Boden fiel. Sie schau­te Har­per mit fes­tem Blick in die Augen, riss ihre Hand mit dem aus­ge­streck­ten Mit­tel­fin­ger in die Höhe und spür­te zum ers­ten Mal die Frei­heit, sich nicht län­ger bewei­sen zu müs­sen. Scout war ihre Fami­lie, und wenn Har­per das nicht ver­stand, dann spiel­te es auch kei­ne Rol­le mehr, was sie dachte.

Als Emi­ly spä­ter die Stra­ße hin­un­ter­ging, durch die kal­te Dezem­ber­nacht, dach­te sie noch immer über Har­per nach – und ein wenig schäm­te sich sich bei­na­he dafür, so vie­le Gedich­te über sie geschrie­ben zu haben. Sie war wie ein hübsch ver­pack­tes Geschenk – Leia Orga­na in glän­zen­dem Gold­pa­pier –, aber was sich dar­un­ter ver­barg, hat­te damit gar nichts zu tun. »Weißt du was?«, sag­te sie zu Scout, der neben ihr her trot­te­te. »Wer mei­nen Hund nicht mag, den mag ich auch nicht.« Und das war das Ende von Har­pers Geschichte.

Vie­le Geschich­ten, dir ich frü­her oder spä­ter zu Papier brin­ge, fin­den ihren Ursprung auf einem unse­rer Spa­zier­gän­ge. Auch die Geschich­ten über die Fami­lie Win­slow sind mir irgend­wo zwi­schen Feld und Wald zuge­flo­gen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt ange­nom­men. Womög­lich woll­ten die­se Vier sich ganz ein­fach nicht damit begnü­gen, nur eine Geburts­tags­ge­schich­te für einen unse­rer Wür­fe zu sein. Womög­lich haben sie – Hirn­ge­spins­te kön­nen das – äußerst hart­nä­ckig dar­auf bestan­den, noch ein wenig wei­ter erzählt zu wer­den. Bis ins neue Jahr wer­den nun also noch fünf wei­te­re Geschich­ten über Harold, Sara, Emi­ly und Scout, den Bor­der Col­lie, fol­gen. Ob sie sich damit zufrie­den geben wer­den, dass die Weih­nachts­zeit ihrer Fami­lie gehört? Oder soll­ten wir sie – zumin­dest gedank­lich – auch zu unse­rer Fami­lie machen?

© Johannes Willwacher