Eine Adventsgeschichte: Warum die Zeit der Erwartung immer auch die Zeit der Erinnerung ist – wenn auch manchmal auf ganz unerwartete Art und Weise.

Onkel Wil­bur stand auf einer Vitri­ne, die sich vor dem Trep­pen­auf­gang zum zwei­ten Stock befand. Das war nichts Neu­es. Dort hat­te er gestan­den, seit­dem die Win­slows vor zwölf Jah­ren das wei­ße, zwei­stö­cki­ge Haus am äußers­ten Ende der Zacha­ry Lane bezo­gen hat­ten. Onkel Wil­bur konn­te somit als äußerst genüg­sa­mer Mit­be­woh­ner bezeich­net wer­den. Was aber auch nicht son­der­lich schwie­rig war, denn sei­ne Urne erfor­der­te kaum Platz und woll­te nur dann und wann abge­staubt und wie­der zurecht­ge­rückt werden.

In sei­nem Tes­ta­ment – mit dem er sei­nem Nef­fen auch sein Wohn­haus ver­macht hat­te – hat­te er ver­fügt, dass er nach sei­nem Tod nach Hau­se zurück­keh­ren soll­te. »Damit ich bis in alle Ewig­keit durch die Flu­re spu­ken kann«, hat­te er bei einem der letz­ten Besu­che von Harold gesagt, im Herbst 1967 muss­te das gewe­sen sein. Damals war Wil­bur noch so leben­dig gewe­sen wie eine jener alten Eichen, die den Gar­ten säum­ten – knor­rig, fest ver­wur­zelt, nicht unbe­dingt freund­lich, aber mit einem tro­cke­nen Humor aus­ge­stat­tet, der selbst in sei­nen letz­ten Jah­ren nicht erlo­schen war. Harold hat­te den älte­ren Bru­der sei­nes Vaters stets bewun­dert, wenn auch aus einer gewis­sen Distanz. »Bewun­dern« war ohne­hin zu schwach für das Gefühl, das Wil­burs Prä­senz in einem aus­lö­sen konn­te. Es war eher so, als müs­se man sich in sei­ner Gegen­wart stän­dig bemü­hen, sich als eben­bür­tig zu erwei­sen. War­um, das wuss­te Harold nie so genau.

Viel­leicht waren es sein Vor­trä­ge. Schon seit frü­hes­ter Jugend war er Mit­glied in den ver­schie­dens­ten Ver­ei­nen – und weil er selbst auch zahl­rei­che davon gegrün­det hat­te, war in Cran­ber­ry Fork nicht nur sein Name all­ge­gen­wär­tig geblie­ben. Da gab es zum Bei­spiel den »Ver­ein zur Instand­set­zung alter Wet­ter­häh­ne«, in dem er eine Schlüs­sel­rol­le inne­hat­te, den »Bund der heim­li­chen Hut­fe­der­freun­de« oder das »Bünd­nis der Jung­ge­sel­len von Neu­eng­land«, in dem er zeit­le­bens Mit­glied geblie­ben war. Und dann war da natür­lich noch sei­ne größ­te Lei­den­schaft – die Vogel­kun­de. Wil­bur über­schritt die Stadt­gren­zen von Cran­ber­ry Fork eigent­lich nur, um an den all­jähr­li­chen Tref­fen der »Vogel­freun­de Neu­eng­lands« teil­zu­neh­men, wo er stun­den­lang über das Balz­ver­hal­ten ein­hei­mi­scher Sing­vö­gel dozierte.

Zu Leb­zei­ten hat­te Onkel Wil­bur also nicht nur eine Mei­se gehabt. Und des­halb zier­ten auch zahl­rei­che davon die blaue Urne, die jeder, der vor­bei­ging, wie selbst­ver­ständ­lich grüß­te. »Guten Mor­gen, Onkel Wil­bur!«, hieß es, wenn Sara schlaf­trun­ken in die Küche schlurf­te, um Kaf­fee zu kochen. »Hal­lo, Onkel Wil­bur!«, rief Emi­ly aus, wenn sie ihren Schul­ruck­sack am Trep­pen­ab­satz abstell­te. Und auch Harold nick­te ihm bei­läu­fig zu, wenn er die Lich­ter im Erd­ge­schoss lösch­te, um ins Bett zu gehen.

Der Rest sei­ner Zeit dreh­te sich um das Haus. Harold hat­te oft gescherzt, dass das Gebäu­de Wil­burs wah­re Lebens­ge­fähr­tin gewe­sen war – und es war, als hät­te sich Wil­burs Geist in den knar­ren­den Böden, zugi­gen Fens­tern und eigen­wil­lig schie­fen Tür­rah­men ein­ge­nis­tet. Sara hat­te oft das Gefühl, dass die Mau­ern des Hau­ses leb­ten und atme­ten. Das moch­te bloß Ein­bil­dung sein, aber in den Schat­ten schien sich tat­säch­lich immer kurz etwas zu bewe­gen, wenn man nur mit einem Auge hinsah.

Eines Mor­gens – Thanks­gi­ving war gera­de vor­über und die Win­slows hat­ten damit begon­nen, das Haus weih­nacht­lich zu deko­rie­ren –, geschah es. Scout, in bes­ter Spiel­lau­ne, hat­te eine alte Socke auf­ge­spürt und jag­te mit ihr quer durch alle Räu­me. Vom Wohn­zim­mer durch die Biblio­thek und das Ess­zim­mer in die Küche, die Trep­pen rauf und run­ter und wie­der zurück. Dass er dabei kaum Rück­sicht auf die Möbel­stü­cke nahm, die ihm im Weg stan­den, muss eigent­lich nicht geson­dert Erwäh­nung fin­den – mit Aus­nah­me viel­leicht, dass er dabei auch die besag­te Vitri­ne streif­te, auf der Onkel Wil­bur fried­lich ruh­te. Mit einem dump­fen Kra­chen fiel die Urne her­un­ter, und in einem Asche­wir­bel kam sie klir­rend auf dem Holz­bo­den auf. Für einen Moment stand alles still. Scout, der auf­ge­regt um den Asche­hau­fen her­um­schnüf­fel­te, ent­schied sich dann – aus Grün­den, die nur ein Hund nach­voll­zie­hen kann – sich aus­gie­big in der Asche zu wäl­zen. Mit wil­dem Eifer stram­pel­te er sich auf den Rücken, ließ sei­ne Bei­ne in alle Rich­tun­gen zucken und rieb sich so hin­ge­bungs­voll über die graue Mas­se, als hät­te er in der Asche etwas ent­deckt, das nur für ihn bestimmt war. Dann hielt er plötz­lich inne.

Sara, von dem Lärm auf­ge­schreckt, stand reg­los im Tür­rah­men, starr­te auf das Cha­os, wäh­rend ein selt­sa­mes Gefühl in ihr auf­stieg, das sich nicht so recht zwi­schen hilf­lo­sem Ent­set­zen und hys­te­ri­schem Lachen ent­schei­den zu kön­nen schien. Da lag Scout, über und über mit Asche bedeckt, wie ein wir­beln­der Staub­teu­fel, der Wil­burs Über­res­te gleich­mä­ßig auf dem Boden ver­teilt hat­te. Aber etwas an dem Bild – der Hund inmit­ten der Asche­wol­ke – ließ sie inne­hal­ten. Es war, als hät­ten Onkel Wil­bur und Scout sich nicht nur auf die­se eine – sicht­ba­re – Wei­se mit­ein­an­der ver­bun­den, und plötz­lich durch­zuck­te sie eine Idee. »Aber erst ein­mal«, sag­te sie zu Scout – und womög­lich auch zu Onkel Wil­bur, »erst ein­mal müs­sen wir zuse­hen, dass wir euch bei­de wie­der von­ein­an­der trennen.«

Als Sara in der dar­auf­fol­gen­den Woche das Bild ent­hüll­te, an dem sie in der Woche vor dem ers­ten Advent im Ver­bor­ge­nen gear­bei­tet hat­te, warf sie ihrer Fami­lie einen tri­um­phie­ren­den Blick zu. Es zeig­te zwei­fels­oh­ne Wil­bur. Doch nicht den Wil­bur, wie er zu Leb­zei­ten gewe­sen war – zumin­dest nicht ganz. Das kan­ti­ge Gesicht und die tie­fen Fal­ten um die Augen waren genau­so unver­kenn­bar, wie sei­ne hage­re Sta­tur. Doch statt der Füße schau­ten Scouts Pfo­ten aus sei­nen Hosen­bei­nen und dort, wo sich der Mund hät­te befin­den sol­len, lächel­te ihnen die Schnau­ze des schwarz-wei­ßen Bor­der Col­lies ent­ge­gen. »Wil­bur und Scout«, sag­te Sara mit fei­er­li­cher Stim­me. »Ich nen­ne es: Das Wesen des Hauses.«

»Also …«, Harold such­te nach Wor­ten, »soll das hei­ßen, dass Wil­bur uns nicht nur das Haus hin­ter­las­sen, son­dern sich auch gleich noch in Scout ein­ge­nis­tet hat?« Sara trat auf ihn zu und hak­te sich bei ihm unter. »Viel­leicht, viel­leicht auch nicht. Fest steht aber, dass der Advent die Zeit ist, in der das Alte und Neue zusam­men­kom­men, in der Tra­di­tio­nen auf­le­ben und wir uns an die erin­nern, die vor uns da gewe­sen sind. Und wer weiß, viel­leicht spukt Wil­bur wirk­lich noch ein biss­chen durch die Flu­re.« Scout hob den Kopf, als hät­te er erkannt, dass es nun an ihm war, sein Urteil abzu­ge­ben, und taps­te auf die Lein­wand zu, wobei er die Nase prü­fend gegen Wil­burs gemal­te Pfo­ten stups­te. »Viel­leicht«, sag­te Harold und rück­te sich die Bril­le zurecht, »viel­leicht woll­te uns Wil­bur auch nur bewei­sen, dass Fami­lie und Ver­gan­gen­heit immer bei uns sind. Im Cha­os, in der Stil­le – und in Scout.«

Vie­le Geschich­ten, dir ich frü­her oder spä­ter zu Papier brin­ge, fin­den ihren Ursprung auf einem unse­rer Spa­zier­gän­ge. Auch die Geschich­ten über die Fami­lie Win­slow sind mir irgend­wo zwi­schen Feld und Wald zuge­flo­gen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt ange­nom­men. Womög­lich woll­ten die­se Vier sich ganz ein­fach nicht damit begnü­gen, nur eine Geburts­tags­ge­schich­te für einen unse­rer Wür­fe zu sein. Womög­lich haben sie – Hirn­ge­spins­te kön­nen das – äußerst hart­nä­ckig dar­auf bestan­den, noch ein wenig wei­ter erzählt zu wer­den. Bis ins neue Jahr wer­den nun also noch fünf wei­te­re Geschich­ten über Harold, Sara, Emi­ly und Scout, den Bor­der Col­lie, fol­gen. Ob sie sich damit zufrie­den geben wer­den, dass die Weih­nachts­zeit ihrer Fami­lie gehört? Oder soll­ten wir sie – zumin­dest gedank­lich – auch zu unse­rer Fami­lie machen?

© Johannes Willwacher