Eine Adventsgeschichte: Warum die Zeit der Erwartung immer auch die Zeit der Erinnerung ist – wenn auch manchmal auf ganz unerwartete Art und Weise.
All we are is dust in the wind.
Kansas (1977)
Onkel Wilbur stand auf einer Vitrine, die sich vor dem Treppenaufgang zum zweiten Stock befand. Das war nichts Neues. Dort hatte er gestanden, seitdem die Winslows vor zwölf Jahren das weiße, zweistöckige Haus am äußersten Ende der Zachary Lane bezogen hatten. Onkel Wilbur konnte somit als äußerst genügsamer Mitbewohner bezeichnet werden. Was aber auch nicht sonderlich schwierig war, denn seine Urne erforderte kaum Platz und wollte nur dann und wann abgestaubt und wieder zurechtgerückt werden.
In seinem Testament – mit dem er seinem Neffen auch sein Wohnhaus vermacht hatte – hatte er verfügt, dass er nach seinem Tod nach Hause zurückkehren sollte. »Damit ich bis in alle Ewigkeit durch die Flure spuken kann«, hatte er bei einem der letzten Besuche von Harold gesagt, im Herbst 1967 musste das gewesen sein. Damals war Wilbur noch so lebendig gewesen wie eine jener alten Eichen, die den Garten säumten – knorrig, fest verwurzelt, nicht unbedingt freundlich, aber mit einem trockenen Humor ausgestattet, der selbst in seinen letzten Jahren nicht erloschen war. Harold hatte den älteren Bruder seines Vaters stets bewundert, wenn auch aus einer gewissen Distanz. »Bewundern« war ohnehin zu schwach für das Gefühl, das Wilburs Präsenz in einem auslösen konnte. Es war eher so, als müsse man sich in seiner Gegenwart ständig bemühen, sich als ebenbürtig zu erweisen. Warum, das wusste Harold nie so genau.
Vielleicht waren es sein Vorträge. Schon seit frühester Jugend war er Mitglied in den verschiedensten Vereinen – und weil er selbst auch zahlreiche davon gegründet hatte, war in Cranberry Fork nicht nur sein Name allgegenwärtig geblieben. Da gab es zum Beispiel den »Verein zur Instandsetzung alter Wetterhähne«, in dem er eine Schlüsselrolle innehatte, den »Bund der heimlichen Hutfederfreunde« oder das »Bündnis der Junggesellen von Neuengland«, in dem er zeitlebens Mitglied geblieben war. Und dann war da natürlich noch seine größte Leidenschaft – die Vogelkunde. Wilbur überschritt die Stadtgrenzen von Cranberry Fork eigentlich nur, um an den alljährlichen Treffen der »Vogelfreunde Neuenglands« teilzunehmen, wo er stundenlang über das Balzverhalten einheimischer Singvögel dozierte.
Zu Lebzeiten hatte Onkel Wilbur also nicht nur eine Meise gehabt. Und deshalb zierten auch zahlreiche davon die blaue Urne, die jeder, der vorbeiging, wie selbstverständlich grüßte. »Guten Morgen, Onkel Wilbur!«, hieß es, wenn Sara schlaftrunken in die Küche schlurfte, um Kaffee zu kochen. »Hallo, Onkel Wilbur!«, rief Emily aus, wenn sie ihren Schulrucksack am Treppenabsatz abstellte. Und auch Harold nickte ihm beiläufig zu, wenn er die Lichter im Erdgeschoss löschte, um ins Bett zu gehen.
Der Rest seiner Zeit drehte sich um das Haus. Harold hatte oft gescherzt, dass das Gebäude Wilburs wahre Lebensgefährtin gewesen war – und es war, als hätte sich Wilburs Geist in den knarrenden Böden, zugigen Fenstern und eigenwillig schiefen Türrahmen eingenistet. Sara hatte oft das Gefühl, dass die Mauern des Hauses lebten und atmeten. Das mochte bloß Einbildung sein, aber in den Schatten schien sich tatsächlich immer kurz etwas zu bewegen, wenn man nur mit einem Auge hinsah.
Eines Morgens – Thanksgiving war gerade vorüber und die Winslows hatten damit begonnen, das Haus weihnachtlich zu dekorieren –, geschah es. Scout, in bester Spiellaune, hatte eine alte Socke aufgespürt und jagte mit ihr quer durch alle Räume. Vom Wohnzimmer durch die Bibliothek und das Esszimmer in die Küche, die Treppen rauf und runter und wieder zurück. Dass er dabei kaum Rücksicht auf die Möbelstücke nahm, die ihm im Weg standen, muss eigentlich nicht gesondert Erwähnung finden – mit Ausnahme vielleicht, dass er dabei auch die besagte Vitrine streifte, auf der Onkel Wilbur friedlich ruhte. Mit einem dumpfen Krachen fiel die Urne herunter, und in einem Aschewirbel kam sie klirrend auf dem Holzboden auf. Für einen Moment stand alles still. Scout, der aufgeregt um den Aschehaufen herumschnüffelte, entschied sich dann – aus Gründen, die nur ein Hund nachvollziehen kann – sich ausgiebig in der Asche zu wälzen. Mit wildem Eifer strampelte er sich auf den Rücken, ließ seine Beine in alle Richtungen zucken und rieb sich so hingebungsvoll über die graue Masse, als hätte er in der Asche etwas entdeckt, das nur für ihn bestimmt war. Dann hielt er plötzlich inne.
Sara, von dem Lärm aufgeschreckt, stand reglos im Türrahmen, starrte auf das Chaos, während ein seltsames Gefühl in ihr aufstieg, das sich nicht so recht zwischen hilflosem Entsetzen und hysterischem Lachen entscheiden zu können schien. Da lag Scout, über und über mit Asche bedeckt, wie ein wirbelnder Staubteufel, der Wilburs Überreste gleichmäßig auf dem Boden verteilt hatte. Aber etwas an dem Bild – der Hund inmitten der Aschewolke – ließ sie innehalten. Es war, als hätten Onkel Wilbur und Scout sich nicht nur auf diese eine – sichtbare – Weise miteinander verbunden, und plötzlich durchzuckte sie eine Idee. »Aber erst einmal«, sagte sie zu Scout – und womöglich auch zu Onkel Wilbur, »erst einmal müssen wir zusehen, dass wir euch beide wieder voneinander trennen.«
Als Sara in der darauffolgenden Woche das Bild enthüllte, an dem sie in der Woche vor dem ersten Advent im Verborgenen gearbeitet hatte, warf sie ihrer Familie einen triumphierenden Blick zu. Es zeigte zweifelsohne Wilbur. Doch nicht den Wilbur, wie er zu Lebzeiten gewesen war – zumindest nicht ganz. Das kantige Gesicht und die tiefen Falten um die Augen waren genauso unverkennbar, wie seine hagere Statur. Doch statt der Füße schauten Scouts Pfoten aus seinen Hosenbeinen und dort, wo sich der Mund hätte befinden sollen, lächelte ihnen die Schnauze des schwarz-weißen Border Collies entgegen. »Wilbur und Scout«, sagte Sara mit feierlicher Stimme. »Ich nenne es: Das Wesen des Hauses.«
»Also …«, Harold suchte nach Worten, »soll das heißen, dass Wilbur uns nicht nur das Haus hinterlassen, sondern sich auch gleich noch in Scout eingenistet hat?« Sara trat auf ihn zu und hakte sich bei ihm unter. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Fest steht aber, dass der Advent die Zeit ist, in der das Alte und Neue zusammenkommen, in der Traditionen aufleben und wir uns an die erinnern, die vor uns da gewesen sind. Und wer weiß, vielleicht spukt Wilbur wirklich noch ein bisschen durch die Flure.« Scout hob den Kopf, als hätte er erkannt, dass es nun an ihm war, sein Urteil abzugeben, und tapste auf die Leinwand zu, wobei er die Nase prüfend gegen Wilburs gemalte Pfoten stupste. »Vielleicht«, sagte Harold und rückte sich die Brille zurecht, »vielleicht wollte uns Wilbur auch nur beweisen, dass Familie und Vergangenheit immer bei uns sind. Im Chaos, in der Stille – und in Scout.«
Viele Geschichten, dir ich früher oder später zu Papier bringe, finden ihren Ursprung auf einem unserer Spaziergänge. Auch die Geschichten über die Familie Winslow sind mir irgendwo zwischen Feld und Wald zugeflogen – haben Schritt für Schritt und Wort für Wort immer mehr Gestalt angenommen. Womöglich wollten diese Vier sich ganz einfach nicht damit begnügen, nur eine Geburtstagsgeschichte für einen unserer Würfe zu sein. Womöglich haben sie – Hirngespinste können das – äußerst hartnäckig darauf bestanden, noch ein wenig weiter erzählt zu werden. Bis ins neue Jahr werden nun also noch fünf weitere Geschichten über Harold, Sara, Emily und Scout, den Border Collie, folgen. Ob sie sich damit zufrieden geben werden, dass die Weihnachtszeit ihrer Familie gehört? Oder sollten wir sie – zumindest gedanklich – auch zu unserer Familie machen?
© Johannes Willwacher