Der Tag des Abschieds ist der Beginn einer Reise: über Geduld und Beständigkeit, Vertrauen und Durchhaltevermögen – und alles, was noch zu sagen bleibt.

Los Ange­les ist über­all. Auch auf dem alten Farb­fern­se­her, der auf zwei über­ein­an­der gesta­pel­ten Palet­ten in einer Ecke von Jons Kel­ler steht, sind die Nach­rich­ten aus South Cen­tral zu sehen. Bren­nen­de Fahr­zeu­ge. Bewaff­ne­te Sol­da­ten. Flam­men, die aus Häu­sern schla­gen. Dann Rod­ney King, der erfolg­los zur Ver­söh­nung auf­ruft. Es ist Schwarz gegen Weiß. Es ist ein Auf­schrei gegen Poli­zei­ge­walt. Es ist eine Welt, die gegen die Unter­drü­ckung aufbegehrt.

Border Collie Welpe am Tag der Abholung beim Züchter
28|09|2024 – Mia (Broad­me­a­dows Kel­ly Watch the Stars) lebt nun bei Eva und Max

»Ver­än­de­rung«, sagt Jon und schal­tet den Fern­se­her aus. Jeder der Umste­hen­den begreift sofort, wie ernst es ihm damit ist. Seit Wochen schon pro­ben sie in dem frisch reno­vier­ten Kel­ler­raum. »Um an die Anfän­ge anzu­knüp­fen«, das hat­te alle über­zeugt. Mit der Reno­vie­rung scheint dem­sel­ben aber nicht nur das Beson­de­re abhan­den gekom­men zu sein – die ros­ti­gen Roh­re sind ver­schwun­den, die losen Kabel unter Putz gelegt und statt der fla­ckern­den Neon­röh­ren wird der Raum von sanf­tem Ker­zen­schein erhellt –, son­dern auch der Rock ’n’ Roll. Dass die Band seit mehr als vier Jah­ren nicht gemein­sam im Stu­dio gestan­den hat, macht es nicht bes­ser. »Seht es ein«, sagt einer resi­gniert, »Rock ’n’ Roll ist tot!«

Border Collie Welpe am Tag der Abholung beim Züchter
29|09|2024 – Jamie (Broad­me­a­dows Kea­nu Ree­ves) lebt nun bei Susan­ne, Burk­hard und Julian

Die frü­hen neun­zi­ger Jah­re stel­len in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten nicht nur gesell­schaft­lich eine Zeit der Ver­än­de­rung dar. Auch musi­ka­lisch hat das Land eine Ver­än­de­rung erfah­ren. Die gro­ßen Rock­bands, die das ver­gan­ge­ne Jahr­zehnt mit ihrem glatt pro­du­zier­ten Gitar­ren­sound beherrscht haben, sind bei­na­he über Nacht aus dem Radio ver­schwun­den. An ihre Stel­le ist ein neu­er Sound aus Seat­tle getre­ten – roher, dre­cki­ger Welt­schmerz, uni­for­miert in karier­tem Fla­nell –, und wer sich nicht anpasst, wird von den Kri­ti­kern verrissen.

Border Collie Welpe am Tag der Abholung beim Züchter
29|09|2024 – Kate (Broad­me­a­dows Kate Moss) lebt nun bei Chris­tel, Tho­mas, Lau­ra und Fabio

Die Band flieht aus dem Kel­ler nach Van­cou­ver. Den gan­zen Som­mer ver­bringt sie dort. Im Stu­dio gelingt es ihr nicht nur, sich neu zu erfin­den, son­dern auch, sich auf­ein­an­der ein­zu­schwö­ren und trotz aller Wid­rig­kei­ten neue Zuver­sicht zu schöp­fen. Auch der Titel­song des fol­gen­den Albums, das am 3. Novem­ber 1992 erscheint, ist davon geprägt: »Keep the Faith« erzählt von der Not­wen­dig­keit, Hoff­nung und Glau­ben ange­sichts von Her­aus­for­de­run­gen zu bewah­ren. Er spricht von Ver­ge­bung, Durch­hal­te­ver­mö­gen und der Schwie­rig­keit, sei­nen Wer­ten treu zu blei­ben. In ihm spie­geln sich die gemein­sa­men Här­ten wider, denen Men­schen gegen­über­ste­hen, und der Trost, der in gemein­sa­men Erfah­run­gen und gegen­sei­ti­ger Unter­stüt­zung gefun­den wer­den kann.

Border Collie Welpe am Tag der Abholung beim Züchter
26|09|2024 – Kaa­mi (Broad­me­a­dows King of My Cast­le) lebt nun bei Tan­ja, Hol­ger, Sarah und Nick

Viel­leicht sind es genau die­se Din­ge, die ich den neu­en Besit­zern unse­rer sechs Wel­pen mit auf den Weg geben will. Nicht das lee­re Ver­spre­chen, dass immer alles gut gehen wird. Dass es nie Momen­te der Frus­tra­ti­on und Über­for­de­rung geben und kei­ner der sechs Wel­pen sei­nen Men­schen jemals die hoch erho­be­ne Mit­tel­kral­le zei­gen wird. Weil das Leben nicht so ist. Weil frü­her oder spä­ter immer der Tag kommt, an dem die Auto­ri­tät des Men­schen in Fra­ge gestellt wird, und das eben noch so süße Köpf­chen auf Bie­gen und Bre­chen durch die Wand will. 

Da braucht es Durch­hal­te­ver­mö­gen, kei­ne schö­nen Wor­te. Da braucht es den Wil­len, den eige­nen Wer­ten treu zu blei­ben. Sich dar­an zu erin­nern, war­um man sich ent­schie­den hat, sein Leben mit einem Hund zu tei­len – und all die Mühen, die das Her­an­wach­sen kos­tet, als Mit­tel zum Zweck zu sehen. Und schließ­lich braucht es auch das Wis­sen, dass es allen ande­ren genau­so geht. Dass jeder blu­tet. Dass jeder Tage hat, an denen er den klei­nen Stur­kopf ver­teu­felt. Dass nie­mand damit allei­ne bleibt.

Border Collie Welpe am Tag der Abholung beim Züchter
28|09|2024 – Easy (Broad­me­a­dows Know the Ledge) lebt nun bei Clau­dia, Jean Pierre und Lewin

Und es braucht Ver­trau­en. Denn so hart­nä­ckig und stur ein her­an­wach­sen­der Hund manch­mal auch sein mag, steckt in ihm doch ein Wesen, das nach Ver­bin­dung sucht. Ein Hund will dazu­ge­hö­ren, ein Teil der Fami­lie sein. Frag­los wird er immer wie­der ver­su­chen, die Gren­zen aus­zu­lo­ten. Aber das ist kein Feh­ler. Es ist sein Weg, die Welt zu ver­ste­hen. Er sucht nach Halt und nach jeman­dem, der ihm zeigt, wo er hin­ge­hört. Wenn ein jun­ger Hund ver­stan­den hat, dass er geliebt und respek­tiert wird, wird er auch ler­nen, sei­nen Platz zu fin­den – nicht durch Här­te oder Unter­drü­ckung, son­dern durch Geduld und Beständigkeit.

Das ist es, was ich den neu­en Besit­zern unse­rer Wel­pen mit­ge­ben möch­te. Die­se klei­nen Hun­de wer­den Feh­ler machen. Aber sie wer­den auch wach­sen. Durch ihre Feh­ler, gemein­sam mit ihren Men­schen. Am Ende ist es nicht die Per­fek­ti­on, die zählt. Es ist die Rei­se. Die Bin­dung, die dabei ent­steht, wird alles ande­re überdauern.

Keep the faith!

Die 9. Lebenswoche


© Johannes Willwacher