Gemälde einer schwarz-weißen Border Collie Hündin, das gerahmt im Geäst eines alten Baums steht
12|09|2024 – Unser C-Wurf fei­ert sei­nen 9. Geburtstag

Ein keltisches Geheimnis zum neunten Geburtstag: von der Zeit und dem Älterwerden – und allem, was jenseits von beidem liegt.

Eoin lag wach. Das Feu­er vom Vor­abend war längst her­un­ter­ge­brannt, und in der in den Hügel gehaue­nen Behau­sung herrsch­te eine tie­fe Dun­kel­heit. Die­sel­be – blei­schwer, aber namen­los – fühl­te er auch auf sei­ner Brust las­ten. Viel­leicht war das auch der Grund, wes­halb sich Eoin an die­sem beson­de­ren Mor­gen über­haupt aus dem Bett erhob und lei­se ins Freie schlich, um auf der wind­schie­fen Bank vor sei­ner Behau­sung zu sit­zen und auf das ers­te Licht zu war­ten. 

Der Som­mer hat­te sich noch nicht voll­ends ver­ab­schie­det, doch herrsch­te in den frü­hen Mor­gen­stun­den bereits eine schnei­den­de Käl­te; das spür­te er trotz des Umhangs, den er auf dem Weg nach drau­ßen mit­ge­nom­men hat­te, um sich dar­in ein­zu­wi­ckeln. Doch dann war er so tief in sei­nen Gedan­ken ver­sun­ken, dass ihm die Käl­te erst dann ins Bewusst­sein drang, als die Ster­ne fast ver­blasst waren und am Hori­zont ein leuch­ten­der Streif erschien, wäh­rend sich in der Däm­me­rung das ers­te Vogel­ge­zwit­scher erhob. »Fünf­und­vier­zig Som­mer«, dach­te der bär­ti­ge Drui­de bei sich, und zog den grau­en Umhang noch ein wenig fes­ter um sei­nen dün­nen, aus­ge­zehr­ten Leib, »bei­na­he jeden über­lebt, bei­na­he jedes der gelieb­ten Häup­ter mit Erde über­häuft, und auch das eige­ne neigt sich bereits dem Gra­be zu«.

In die­sem Moment über­kam ihn eine plötz­li­che Müdig­keit. Sei­ne Augen­li­der wur­den schwer, und noch bevor er es recht begriff, sank Eoin in einen tie­fen Schlaf, wie eine Bri­se, die sei­nen Geist mit sich nahm. In sei­ner Visi­on erschien ihm eine gewal­ti­ge Eiche, deren Zwei­ge sich bis zum Him­mel erstreck­ten und deren Wur­zeln tief in die Erde reich­ten. Dort, wo die Wur­zeln sich um einen moos­be­wach­se­nen Fel­sen gewun­den hat­ten, lag ein Hund. Sei­ne graue Schnau­ze und müden Augen zeug­ten von uraltem Wis­sen. Als der Drui­de sich dem Hund näher­te, hob der­sel­be den Kopf und fing mit ruhi­ger, wei­ser Stim­me an zu sprechen.

»Eoin, du hast vie­le Som­mer und Win­ter erlebt. Hast du dich jemals gefragt, was jen­seits der Zeit liegt?«

Eoin, erstaunt über die spre­chen­de Krea­tur, ant­wor­te­te zögernd: »Ich habe oft dar­über nach­ge­dacht. Die Zeit ist wie ein Fluss, der nie still­steht, der uns fort­trägt. Aber was liegt jen­seits des Flus­ses? Was bleibt, wenn der Herbst kommt, wenn die Jah­re ver­ge­hen?« Der Hund nick­te bedäch­tig. »Die Zeit ist ein Geheim­nis, das selbst die klügs­ten Drui­den nicht voll­stän­dig ergrün­den kön­nen. Doch es gibt Wege, das Unbe­kann­te zu begrei­fen. Denk an die Zahl Neun, Drui­de. Was sagt sie dir?«

Eoin leg­te die Stirn in Fal­ten. »Drei mal drei, die hei­li­ge Zahl«, mur­mel­te er, wäh­rend sei­ne Gedan­ken zugleich in die Ver­gan­gen­heit und die Zukunft wan­der­ten. »Sie trägt die Gött­lich­keit in sich. Die Fünf, die die Essenz unse­rer Exis­tenz erfasst, die Ver­bin­dung von Zeit und Raum. Und die Vier, die uns Ori­en­tie­rung gibt, die Him­mels­rich­tun­gen. Aber war­um ist die Neun so beson­ders? Und was bedeu­tet das für mich? Für mein Leben?« 

Der Hund, müde von den Jah­ren, erhob sich schwer­fäl­lig und leg­te sei­ne Schnau­ze in Eoins Hand. Der gan­ze Ort atme­te eine uralte Ruhe aus, als ob der Atem des Wal­des selbst die Zeit ein­ge­fan­gen hät­te. »Die Neun«, sprach der Hund, »ist mehr als nur eine Zahl. Sie ist das Gleich­ge­wicht und die Har­mo­nie des Uni­ver­sums. Sie zeigt dir, dass alles mit­ein­an­der ver­bun­den ist und dass der Kreis des Lebens nie­mals endet«. Dann schwieg er. 

»Dei­ne Jah­re mögen begrenzt sein, Drui­de«, fuhr der Hund fort, wäh­rend sein Atem sanft gegen Eoins Hand strich, »aber das Wis­sen und die Weis­heit, die du wei­ter­gibst, wer­den wei­ter­le­ben. In der Neun fin­dest du nicht nur das Geheim­nis des Uni­ver­sums, son­dern auch die Hoff­nung auf Unsterb­lich­keit durch die Voll­endung und das Ver­mächt­nis, das du hin­ter­lässt.« 

Mit die­sen Wor­ten schloss der Hund sei­ne alten Augen, und Eoin erwach­te aus sei­ner Visi­on. Die Wär­me der Schnau­ze des Hun­des ver­weil­te noch in sei­ner Hand, und gleich­wohl spür­te er, wie sich die schwe­re Last in sei­ner Brust lös­te. Er ver­stand nun, dass sei­ne eige­nen Jah­re zwar gezählt waren, die Weis­heit und das Wis­sen, das er wei­ter­gab, aber ewig Bestand haben wür­den. Dass die Neun dafür Sor­ge tra­gen wür­de, dass auf jeden Herbst ein Früh­ling, auf jeden Win­ter ein Som­mer folg­te. Lan­ge noch, nach­dem sein eige­ner Name ver­ges­sen war.

In den neun Jah­ren, die ihr mit euren Men­schen geteilt habt, ist viel gesche­hen. Ihr seid vom Wel­pen zum Jung­hund her­an­ge­wach­sen, habt gemein­sam mit euren Men­schen vie­le schö­ne Erin­ne­run­gen ange­häuft, und euch – der eine frü­her, der ande­re spä­ter – das eine oder ande­re graue Haar um die Schnau­ze wach­sen las­sen. Ob damit auch die Weis­heit in euch gewach­sen ist? Ob ihr zufrie­den euren Platz im ewi­gen Kreis gefun­den habt? 

Zum neun­ten Geburts­tag die aller­bes­ten Wün­sche! Auf dass auf die­sen Herbst noch vie­le wei­te­re fol­gen – und euer Name noch so man­chen Som­mer überlebt.

© Johannes Willwacher