Die sechste Lebenswoche unserer Welpen: über Vertrauen, Verantwortung und Verbindlichkeit – und Entscheidungen, die kein Züchter leichtfertig trifft.

Ich sit­ze im Stu­dio, mei­ne Gitar­re in der Hand, und spie­le die Akkor­de, die mir seit Tagen durch den Kopf gehen. Chad fragt nach dem Titel des Songs, aber ich habe kei­nen. »Es geht um ein Mäd­chen«, sage ich schließ­lich, und das ist wahr. Das Mäd­chen ist Tra­cy, mei­ne Freun­din. Zusam­men mit fünf Kat­zen, vier Rat­ten, zwei Kanin­chen und einem Nym­phen­sit­tich tei­len wir uns in eine Zwei­raum­woh­nung in Olym­pia, Washing­ton Sta­te, kei­ne Stun­de von Aber­deen ent­fernt, wo ich auf­ge­wach­sen bin. Sie liebt mich, sorgt sich um mich. Wir strei­ten über die Mie­te. »Mach’ was«, sagt sie. Aber ich kann nicht.

Ich den­ke an die Näch­te, die ich als Kind allein in mei­nem Zim­mer ver­bracht habe, ein­ge­hüllt in die Stil­le, wäh­rend drau­ßen die Welt wei­ter­ging. Mei­ne Eltern strit­ten, und ich fühl­te mich wie ein Feh­ler, den nie­mand behe­ben konn­te. Als sie sich schei­den lie­ßen, zer­brach etwas in mir. Von da an war ich das Kind, das nie rich­tig pass­te, weder in der Schu­le noch in der neu­en Welt mei­ner Eltern. Ich zog von einem Ort zum nächs­ten, immer auf der Suche nach einem Zuhau­se, das es nicht gab. Die­se Wun­den sit­zen tief. Ver­trau­en fällt mir schwer, Nähe noch mehr. Ich bin unfä­hig, mich voll­stän­dig auf jeman­den ein­zu­las­sen, selbst wenn ich es will.

»About a Girl« ist mein Ver­such, Tra­cy zu zei­gen, was ich füh­le, ohne es wirk­lich zu sagen. Es ist ein ein­fa­ches Lied, fast zu pop­pig für das, was wir sonst spie­len, aber es ent­hält all die Unsi­cher­hei­ten und das Bedürf­nis nach Ver­bin­dung, das ich nicht in Wor­te fas­sen kann. Tra­cy weiß nicht, dass es für sie ist. Viel­leicht wird sie es nie erfah­ren. Irgend­wann ein­mal hat sie sich dar­über beschwert, dass ich zig Lie­der übers Wich­sen, aber kei­nes für sie schrei­ben kann.

Ich bin gefan­gen zwi­schen dem, was ich sein soll­te, und dem, was ich bin. Mei­ne Musik ist mei­ne ein­zi­ge Flucht, mein Weg, die Welt zu ver­ste­hen. Aber selbst das Mäd­chen, um das es geht, hal­te ich auf Distanz. Sage, dass sie mich nie rich­tig ver­ste­hen wird, so lan­ge sie selbst kei­ne Kunst macht. »Man muss noch Cha­os in sich haben, um einen tan­zen­den Stern gebä­ren zu kön­nen«, hat Nietz­sche geschrie­ben. Das beschreibt alles, was ich will. Ich will das Cha­os, den Schmerz, weil ich ohne nicht exis­tie­ren kann. Sie aber will Ord­nung, will auf­räu­men. Mich zusam­men mit der Wäsche zum Trock­nen auf­hän­gen. Will, dass ich Geld ran­schaf­fe, einer gere­gel­ten Arbeit nach­ge­he, mich auf sie ein­las­se. Voll und ganz. Nähe aber macht mir Angst, Ver­ant­wor­tung noch mehr. Ich klam­me­re mich an mein Cha­os, weil es das Ein­zi­ge ist, das mir gehört. Und doch seh­ne ich mich nach etwas, das ich nie hat­te. Nach einer Fami­lie, einem Zuhau­se. Jeman­dem, der es aus­hält mit mir.

Fünf Wochen alter Border Collie Welpe aus der Broadmeadows Border Collie Zucht
03|09|2024 – Broad­me­a­dows King of my Castle

Die sechs­te Lebens­wo­che unse­rer Wel­pen ist von ganz ähn­li­chen Gedan­ken geprägt. Wel­cher Wel­pe wird wo sein Zuhau­se fin­den? Wel­cher Mensch kann den Bedürf­nis­sen und Beson­der­hei­ten am ehes­ten gerecht wer­den, die die­ser oder jener Wel­pe mit sich bringt? Und wer ist – noch vor allem ande­ren – der Ver­ant­wor­tung gewach­sen, Nähe und Bestän­dig­keit zu schen­ken, ohne die erzie­he­ri­sche Kon­se­quenz aus den Augen zu ver­lie­ren? Wer auf einen Wel­pen war­tet, dem kann es mit die­ser Ent­schei­dung meis­tens gar nicht schnell genug gehen. Schließ­lich fra­gen Freun­de und Fami­lie unent­wegt, wel­cher der Wel­pen es denn nun sein wird. Und schließ­lich möch­te man sich nach den lan­gen Wochen des War­tens doch end­lich auch selbst auf sei­nen Wel­pen freu­en. Dass ich mir als Züch­ter oft­mals eher das Gegen­teil wün­sche – will hei­ßen: nur noch einen Tag mehr –, lässt sich nicht nur durch den lan­gen Weg der Ent­schei­dungs­fin­dung begrün­den, son­dern auch durch die Beob­ach­tun­gen, die dazu wesent­lich sind. 

Fünf Wochen alter Border Collie Welpe aus der Broadmeadows Border Collie Zucht
03|09|2024 – Broad­me­a­dows Know the Ledge

»Gibt es denn einen Wel­pen, den du beson­ders süß fin­dest?«, fragt mich eine der zukünf­ti­gen Wel­pen­be­sit­ze­rin­nen, als sie in der ver­gan­ge­nen Woche bei den Wel­pen im Gar­ten sitzt. Fast unwei­ger­lich muss ich die Nase rümp­fen. Auch ihr fällt das auf. »Süß ist eine Voka­bel, die ich gar nicht benut­ze«, gebe ich ent­schul­di­gend zurück. »Natür­lich fal­len mir bei die­sem oder jenem Wel­pen gewis­se Vor­zü­ge auf, und natür­lich stel­le ich auch Über­le­gun­gen an, wel­che Wel­pen sich womög­lich dazu eig­nen könn­ten, ein­mal aus­ge­stellt zu wer­den. Dazu genügt es aber nicht, einen Wel­pen bloß süß zu fin­den, weil süß nur ein Gefühl beschreibt, das an der gezu­cker­ten Ober­flä­che kratzt.« Das scheint sie zwar nicht voll­ends zu befrie­di­gen, aber immer­hin nach­voll­zie­hen zu kön­nen. 

Die äußer­li­chen Merk­ma­le sind für mich bei der Ent­schei­dungs­fin­dung aber nur zweit­ran­gig. Des­halb neh­me ich mir auch ger­ne die Zeit, um die Wesens­ent­wick­lung der Wel­pen sorg­fäl­tig zu beob­ach­ten. Dabei sind einer­seits die Beob­ach­tun­gen von Bedeu­tung, die ich im Zusam­men­spiel mit den Wurf­ge­schwis­tern und den erwach­se­nen Hun­den mache. Ande­rer­seits will aber auch das Ver­hal­ten, das ein Wel­pe abseits der gewohn­ten Umge­bung zeigt, beur­teilt wer­den. Ist er eher auf­ge­schlos­sen oder zurück­hal­tend, erkun­det er eher selb­stän­dig oder ist er deut­lich am Men­schen ori­en­tiert, lässt er sich leicht frus­trie­ren oder schüt­telt er schein­bar nicht zu bewäl­ti­gen­de Situa­tio­nen mit Leich­tig­keit ab? Und wie aktiv zeigt er sich im All­ge­mei­nen? 

Vor Jah­ren hat sich eine Wel­pen­käu­fe­rin bei mir dar­über beschwert, dass ich ihr den ruhigs­ten Wel­pen ver­spro­chen, die Hün­din sich aber ganz anders ent­wi­ckelt hät­te. »Dazu muss man alle Wel­pen eines Wurfs in Bezie­hung set­zen«, habe ich dar­auf damals ganz ohne schlech­tes Gewis­sen ent­geg­net, »wenn sich alle Wel­pen eines Wurfs durch einen hohen Bewe­gungs­drang und ein eben­so hohes Akti­vi­täts­be­dürf­nis aus­zeich­nen, muss der ruhigs­te Wel­pe noch immer kei­ne Schlaf­ta­blet­te sein«. Grund­sätz­lich gilt das für alle Wel­pen, für jeden Wurf, für jede Ras­se. Für den Bor­der Col­lie aber wohl im Beson­de­ren. 

»I need an easy fri­end, I do, with an ear to lend«, sum­me ich vor mich hin, als ich zu Beginn der sechs­ten Lebens­wo­che unse­rer Wel­pen allein im Gar­ten sit­ze. Ent­schei­dun­gen wol­len getrof­fen wer­den, das ist gewiss. Wäh­rend ich bei eini­gen Wel­pen schon ein mehr oder weni­ger kla­res Bild vor Augen habe, was sie für ein glück­li­ches Hun­de­le­ben brau­chen, fällt mir die Ein­schät­zung bei eini­gen ande­ren schwe­rer. Das nicht, weil die Extre­me in die­sem Wurf beson­ders groß wären – ganz im Gegen­teil, habe ich die sechs Wel­pen in den ver­gan­ge­nen Wochen als sehr aus­ge­gli­chen erlebt –, son­dern weil sich mir noch nicht jede Eigen­art voll­ends erschlos­sen hat. Wer also hält es mit wem aus? Wo ist die Fami­lie, das Zuhau­se, nach dem sich jeder sehnt? Sechs Wochen sind kurz. Die Zeit ist da.

Das 6. Fotoshooting

Die 6. Lebenswoche

© Johannes Willwacher