Die dritte Lebenswoche: über Spielregeln, die erlernt, und Rollen, die eingeübt werden wollen – und was sich gerade sonst noch in und um die Wurfkiste tut.

Eigent­lich soll Rakim an die­sem Dreh­tag am Set erschei­nen. Unter den Dar­stel­lern hat es sich bereits her­um­ge­spro­chen, und selbst Tupac Shakur, der par­al­lel zu den Dreh­ar­bei­ten an sei­nem ers­ten Album arbei­tet, lässt hin­ter sei­ner Cool­ness für einen Moment so etwas wie Auf­re­gung erken­nen. »Rakim kommt ans Set? Wow!« Der drei­und­zwan­zig­jäh­ri­ge Rap­per hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mit sei­nen mes­ser­schar­fen Rei­men einen Namen gemacht – drei Alben, die alle­samt mit Gold und Pla­tin über­häuft wor­den sind, hat er seit 1987 zusam­men mit Eric Bar­ri­er auf­ge­nom­men –, und nicht nur an der Ost­küs­te gilt er längst als Legen­de. Dass Ernest Dicker­son und Gerard Brown, die für die Regie und das Dreh­buch ver­ant­wort­lich zeich­nen, sich ent­schie­den haben, ihn in Juice in einer Neben­rol­le auf­tre­ten zu las­sen, ist also nur kon­se­quent. Weil er aber auch nach Stun­den noch immer nicht erschie­nen ist, wer­den schließ­lich die bei­den Pro­du­zen­ten des Films los­ge­schickt, um an sei­ner Woh­nungs­tür in der 19. Stra­ße zu klop­fen. »Ihr sucht auch nach Rakim?«, sagt das Mäd­chen, das statt dem Gesuch­ten die Tür öff­net. »Wenn ihr den Wich­ser seht, sagt ihm, dass ich echt ange­pisst bin!«

Border Collie Welpen in der dritten Lebenswoche
15|08|2024 – Wel­pen No. 4 und No. 5

Die Metro rast über Har­lem. Als die Titel ver­blas­sen, rücken vier far­bi­ge Jugend­li­che in den Fokus. Q möch­te DJ wer­den. Als sei­ne Mut­ter ihn weckt, nimmt er die Kopf­hö­rer ab. Er hat bis spät in die Nacht geübt. Der ers­te Blick auf Bishop zeigt, wie er sich von sei­nem Vater ver­ab­schie­det. Steel tauscht sei­ne Schul­bü­cher gegen einen Ghet­to­blas­ter aus. Rahe­em strei­tet sich mit sei­ner Schwester.

Der fol­gen­de Tag ist ereig­nis­reich: Die Freun­de wer­den von einer ande­ren Gang schi­ka­niert und müs­sen vor der Poli­zei flie­hen. Q erzählt, dass er bei einem DJ-Wett­be­werb mit­ma­chen will. Spä­ter sehen sie in den Nach­rich­ten, dass ein ehe­ma­li­ger Klas­sen­ka­me­rad bei einer Schie­ße­rei getö­tet wur­de. Bishop glaubt, dass alles anders gelau­fen wäre, wenn die vier jun­gen Män­ner bei dem Raub­über­fall mit­ge­macht hät­ten. Q und Bishop strei­ten sich des­we­gen. Aber Bishop will den Super­markt an der Ecke trotz­dem über­fal­len. Zusam­men mit sei­nen Freun­den. Der Über­fall geht schief. Bishop erschießt den Laden­be­sit­zer. Im Streit wird Rahe­em erschos­sen. Um sei­ne Spu­ren zu ver­wi­schen, erschießt Bishop in den fol­gen­den Tagen auch Steel. Der über­lebt schwer ver­letzt. Auf einem Dach kommt es zur Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Bishop und Q. Bishop stürzt schrei­end in den Abgrund. »Dog, now you got the Juice«, sagt jemand zu Q. »Jetzt hast du hier das sagen.« Damit endet der Film.

Rakim sieht sich den Roh­schnitt in den Räum­lich­kei­ten der Pro­duk­ti­ons­fir­ma an. Dar­auf­hin schließt er sich allein im Ton­stu­dio ein. Er schreibt die Lyrics, sucht nach den pas­sen­den Samples, lässt die Bäs­se zu den Spiel­re­geln des Ghet­tos pum­pen. Kei­ne Stun­de spä­ter ist der Titel­track zu Juice fer­tig. 

Border Collie Welpen in der dritten Lebenswoche
15|08|2024 – Wel­pen No. 2 und No. 3

Die kom­ple­xen sozia­len Dyna­mi­ken und Über­le­bens­stra­te­gien, die Rakim in sei­nen Rei­men beschreibt, sind denen nicht unähn­lich, die von jun­gen Tie­ren erlernt und ver­in­ner­licht wer­den müs­sen – denn schluss­end­lich ist auch die Ent­wick­lung kul­tu­rel­ler Nor­men an das glei­che ritua­li­sier­te Ver­hal­ten geknüpft, das die Wel­pen in der Wurf­kis­te zei­gen: das Spiel. »Das Spiel ist ein Natur­phä­no­men, das schon von Anbe­ginn den Lauf der Welt gelenkt hat«, schreibt der Nobel­preis­trä­ger Man­fred Eigen dazu. »Von der Gestal­tung der Mate­rie über ihre Orga­ni­sa­ti­on zu leben­den Struk­tu­ren bis hin zum sozia­len Ver­hal­ten. […] Auf dem Spiel­feld bil­den sich Mus­ter, Infor­ma­ti­on ensteht, die Geset­ze von Selek­ti­on und Ent­wick­lung tre­ten klar her­vor.« Aber wie viel Ghet­to steckt denn nun wirk­lich in der Wurf­kis­te? 

Im Rah­men des Spie­lens wer­den kei­ne ernst­haf­ten Hand­lun­gen voll­zo­gen, statt­des­sen steht die Erfin­dung neu­er Bewe­gun­gen, die Kom­bi­nier­bar­keit von Ver­hal­tens­se­quen­zen, Rol­len­wech­sel sowie spon­ta­nes Ver­hal­ten im Vor­der­grund. Das Spiel­ver­hal­ten von Wel­pen ist in beson­de­rem Maße varia­bel. Obgleich das Spiel an sich nicht ernst­haft ist, erfüllt es den­noch eine Funk­ti­on. Es ermög­licht den Wel­pen, Bewe­gungs­ab­läu­fe zu erler­nen, sozia­le Fähig­kei­ten und Rol­len ein­zu­üben sowie die Kom­mu­ni­ka­ti­on inner­halb der Art zu ent­wi­ckeln. Des Wei­te­ren führt das Spiel zu einer Ver­rin­ge­rung von Aggres­sio­nen inner­halb des Rudels, einer Kon­trol­le der Beiß­in­ten­si­tät sowie einer För­de­rung der Beiß­hem­mung. Es ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung für die Ent­wick­lung und Auf­recht­erhal­tung von Bin­dun­gen sowie für die sozia­le Organisation.

In der drit­ten Lebens­wo­che lässt sich schon man­ches davon bemer­ken. Pfo­ten, die als Spiel­auf­for­de­rung gestreckt wer­den, genau­so wie weit auf­ge­ris­se­ne Schnau­zen, die spie­le­risch inein­an­der­grei­fen. Noch währt nichts von alle­dem län­ger, als ein paar Augen­bli­cke. Noch lässt sich beob­ach­ten, dass sich die Wel­pen gleich wie­der ande­rem zuwen­den – dass aus der Auf­for­de­rung kein ech­tes Spiel ent­steht –, und dass noch immer das spie­le­ri­sche Erkun­den des eige­nen Kör­pers an ers­ter Stel­le steht. Lecken, krat­zen, bei­ßen, nagen – erfah­ren, wo das eige­ne Ich endet, wo das Ande­re beginnt.

»Das ist mein Zeh!«, heu­le ich auf. Der Wel­pe, der sich an dem­sel­ben zu schaf­fen gemacht hat, zeigt sich davon aber ziem­lich unbe­ein­druckt und wen­det sich – weil sich der eine nack­te Fuß immer wie­der abweh­rend schüt­telt – kur­zer­hand dem ande­ren zu. »Mes­ser­scharf«, den­ke ich, »sind in der drit­ten Lebens­wo­che nicht nur die Rei­me von Rakim«, und zie­he bei­de Füße schüt­zend an den Kör­per her­an. »Mes­ser­scharf sind auch die Milch­zäh­ne, die bei den Wel­pen gera­de durch­zu­bre­chen begin­nen.« Der besag­te Wel­pe hat sich unter­des­sen bereits ein neu­es Opfer aus­er­ko­ren, das leckend, krat­zend, bei­ßend und nagend besiegt wer­den will. »Dog, now you got the Juice«, sage ich lachend zu ihm. »Jetzt hast du hier das sagen.«

Das 3. Fotoshooting

Die 3. Lebenswoche

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