Die dritte Lebenswoche: über Spielregeln, die erlernt, und Rollen, die eingeübt werden wollen – und was sich gerade sonst noch in und um die Wurfkiste tut.
I grew up on the sidewalk
where I learned street talk.
Eric B. & Rakim (1991)
Eigentlich soll Rakim an diesem Drehtag am Set erscheinen. Unter den Darstellern hat es sich bereits herumgesprochen, und selbst Tupac Shakur, der parallel zu den Dreharbeiten an seinem ersten Album arbeitet, lässt hinter seiner Coolness für einen Moment so etwas wie Aufregung erkennen. »Rakim kommt ans Set? Wow!« Der dreiundzwanzigjährige Rapper hat sich in den vergangenen Jahren mit seinen messerscharfen Reimen einen Namen gemacht – drei Alben, die allesamt mit Gold und Platin überhäuft worden sind, hat er seit 1987 zusammen mit Eric Barrier aufgenommen –, und nicht nur an der Ostküste gilt er längst als Legende. Dass Ernest Dickerson und Gerard Brown, die für die Regie und das Drehbuch verantwortlich zeichnen, sich entschieden haben, ihn in Juice in einer Nebenrolle auftreten zu lassen, ist also nur konsequent. Weil er aber auch nach Stunden noch immer nicht erschienen ist, werden schließlich die beiden Produzenten des Films losgeschickt, um an seiner Wohnungstür in der 19. Straße zu klopfen. »Ihr sucht auch nach Rakim?«, sagt das Mädchen, das statt dem Gesuchten die Tür öffnet. »Wenn ihr den Wichser seht, sagt ihm, dass ich echt angepisst bin!«
Die Metro rast über Harlem. Als die Titel verblassen, rücken vier farbige Jugendliche in den Fokus. Q möchte DJ werden. Als seine Mutter ihn weckt, nimmt er die Kopfhörer ab. Er hat bis spät in die Nacht geübt. Der erste Blick auf Bishop zeigt, wie er sich von seinem Vater verabschiedet. Steel tauscht seine Schulbücher gegen einen Ghettoblaster aus. Raheem streitet sich mit seiner Schwester.
Der folgende Tag ist ereignisreich: Die Freunde werden von einer anderen Gang schikaniert und müssen vor der Polizei fliehen. Q erzählt, dass er bei einem DJ-Wettbewerb mitmachen will. Später sehen sie in den Nachrichten, dass ein ehemaliger Klassenkamerad bei einer Schießerei getötet wurde. Bishop glaubt, dass alles anders gelaufen wäre, wenn die vier jungen Männer bei dem Raubüberfall mitgemacht hätten. Q und Bishop streiten sich deswegen. Aber Bishop will den Supermarkt an der Ecke trotzdem überfallen. Zusammen mit seinen Freunden. Der Überfall geht schief. Bishop erschießt den Ladenbesitzer. Im Streit wird Raheem erschossen. Um seine Spuren zu verwischen, erschießt Bishop in den folgenden Tagen auch Steel. Der überlebt schwer verletzt. Auf einem Dach kommt es zur Konfrontation zwischen Bishop und Q. Bishop stürzt schreiend in den Abgrund. »Dog, now you got the Juice«, sagt jemand zu Q. »Jetzt hast du hier das sagen.« Damit endet der Film.
Rakim sieht sich den Rohschnitt in den Räumlichkeiten der Produktionsfirma an. Daraufhin schließt er sich allein im Tonstudio ein. Er schreibt die Lyrics, sucht nach den passenden Samples, lässt die Bässe zu den Spielregeln des Ghettos pumpen. Keine Stunde später ist der Titeltrack zu Juice fertig.
Die komplexen sozialen Dynamiken und Überlebensstrategien, die Rakim in seinen Reimen beschreibt, sind denen nicht unähnlich, die von jungen Tieren erlernt und verinnerlicht werden müssen – denn schlussendlich ist auch die Entwicklung kultureller Normen an das gleiche ritualisierte Verhalten geknüpft, das die Welpen in der Wurfkiste zeigen: das Spiel. »Das Spiel ist ein Naturphänomen, das schon von Anbeginn den Lauf der Welt gelenkt hat«, schreibt der Nobelpreisträger Manfred Eigen dazu. »Von der Gestaltung der Materie über ihre Organisation zu lebenden Strukturen bis hin zum sozialen Verhalten. […] Auf dem Spielfeld bilden sich Muster, Information ensteht, die Gesetze von Selektion und Entwicklung treten klar hervor.« Aber wie viel Ghetto steckt denn nun wirklich in der Wurfkiste?
Im Rahmen des Spielens werden keine ernsthaften Handlungen vollzogen, stattdessen steht die Erfindung neuer Bewegungen, die Kombinierbarkeit von Verhaltenssequenzen, Rollenwechsel sowie spontanes Verhalten im Vordergrund. Das Spielverhalten von Welpen ist in besonderem Maße variabel. Obgleich das Spiel an sich nicht ernsthaft ist, erfüllt es dennoch eine Funktion. Es ermöglicht den Welpen, Bewegungsabläufe zu erlernen, soziale Fähigkeiten und Rollen einzuüben sowie die Kommunikation innerhalb der Art zu entwickeln. Des Weiteren führt das Spiel zu einer Verringerung von Aggressionen innerhalb des Rudels, einer Kontrolle der Beißintensität sowie einer Förderung der Beißhemmung. Es ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Bindungen sowie für die soziale Organisation.
In der dritten Lebenswoche lässt sich schon manches davon bemerken. Pfoten, die als Spielaufforderung gestreckt werden, genauso wie weit aufgerissene Schnauzen, die spielerisch ineinandergreifen. Noch währt nichts von alledem länger, als ein paar Augenblicke. Noch lässt sich beobachten, dass sich die Welpen gleich wieder anderem zuwenden – dass aus der Aufforderung kein echtes Spiel entsteht –, und dass noch immer das spielerische Erkunden des eigenen Körpers an erster Stelle steht. Lecken, kratzen, beißen, nagen – erfahren, wo das eigene Ich endet, wo das Andere beginnt.
»Das ist mein Zeh!«, heule ich auf. Der Welpe, der sich an demselben zu schaffen gemacht hat, zeigt sich davon aber ziemlich unbeeindruckt und wendet sich – weil sich der eine nackte Fuß immer wieder abwehrend schüttelt – kurzerhand dem anderen zu. »Messerscharf«, denke ich, »sind in der dritten Lebenswoche nicht nur die Reime von Rakim«, und ziehe beide Füße schützend an den Körper heran. »Messerscharf sind auch die Milchzähne, die bei den Welpen gerade durchzubrechen beginnen.« Der besagte Welpe hat sich unterdessen bereits ein neues Opfer auserkoren, das leckend, kratzend, beißend und nagend besiegt werden will. »Dog, now you got the Juice«, sage ich lachend zu ihm. »Jetzt hast du hier das sagen.«
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