Körper und Geist, Genetik und Persönlichkeit: über die Entwicklung der Welpen in den ersten beiden Lebenswochen – und welchen Einfluss der Züchter darauf nimmt.

»Kör­per und Geist set­zen sich aus unzäh­li­gen Ing­re­den­zi­en zusam­men«, sagt Moto­ko Usa­na­gi, als sie mit Batou, der ihr als Ermitt­ler in der für Cyber­kri­mi­na­li­tät zustän­di­gen Sek­ti­on 9 des Innen­mi­nis­te­ri­ums zuge­teilt ist, an Bord einer Yacht in der Bucht von New Port City sitzt. Gemein­sam sind sie damit beauf­tragt, einer künst­li­chen Intel­li­genz nach­zu­spü­ren, die als Pup­pet­mas­ter bekannt ist und in eine Rei­he von Ver­bre­chen ver­strickt sein soll. »All die­se Kom­po­nen­ten machen mich zu einem Indi­vi­du­um mit einer eige­nen Per­sön­lich­keit. Mein Gesicht und mei­ne Stim­me mögen mich gleich­wohl von ande­ren unter­schei­den, aber mein Ver­stand und mei­ne Erin­ne­run­gen gehö­ren nur mir. All dies sind Teil­aspek­te des Gan­zen. Ich neh­me Infor­ma­tio­nen auf und ver­ar­bei­te sie auf mei­ne Wei­se. Aus dem Zusam­men­wir­ken all die­ser Vor­gän­ge ent­steht mein Ich und das Bewusst­sein mei­ner Persönlichkeit.«

Moto­ko Usa­na­gi ist ein Cyborg. Nach­dem sie als Kind einen schwe­ren Unfall hat­te, sind alle orga­ni­schen Tei­le ihres Kör­pers durch Pro­the­sen ersetzt wor­den, das Gehirn und Rücken­mark aus­ge­nom­men. »Ich füh­le mich ein­ge­engt«, sagt sie im Fol­gen­den, »ich kann mich nur inner­halb gewis­ser Gren­zen bewe­gen«. Dass sie damit nicht nur auf ihr kör­per­li­ches Dilem­ma anspielt, son­dern auch Fra­gen zur Aus­bil­dung und Ent­fal­tung des eige­nen Selbst­bilds auf­wirft, klärt sich jedoch erst im wei­te­ren Ver­lauf der Hand­lung des 1995 erschie­ne­nen japa­ni­schen Ani­mes Ghost in the Shell.

Border Collie Welpen in der 2. Lebenswoche
07|08|2024 – Wel­pe No. 3

»Das Ich ist nicht Herr im eige­nen Haus«, schreibt Sig­mund Freud zu Beginn des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts. Das Den­ken, Füh­len und Han­deln jedes Lebe­we­sens ist nach sei­nem Ver­ständ­nis maß­geb­lich durch das Unbe­wuss­te gelenkt – ein schwer zugäng­li­ches Ver­lies der See­le, in dem sich gehei­me Wün­sche und ver­dräng­te Erleb­nis­se tum­meln. Jede Spe­zi­es, die DNA als Gedächt­nis­sys­tem trägt, gewinnt ihre Indi­vi­dua­li­tät dem zur Fol­ge aus Erin­ne­run­gen – und jedes Lebe­we­sen ist durch ver­gan­ge­ne Erfah­run­gen und Wahr­neh­mun­gen bestimmt, deren Ein­fluss gleich bleibt und sich nur schwer umpro­gram­mie­ren lässt. »Zel­len wie­der­ho­len den Pro­zess der Dege­ne­ra­ti­on und Rege­ne­ra­ti­on, bis sie eines Tages ster­ben und dabei eine gan­ze Rei­he von Erin­ne­run­gen und Infor­ma­tio­nen aus­lö­schen«, heißt es dazu im Film. 

»Die Grund­merk­ma­le der Per­sön­lich­keit wer­den durch die Gene­tik bestimmt«, sage ich, als ich das Wat­te­stäb­chen bei­sei­te­le­ge, mit dem ich den Wel­pen vor mir gera­de zwi­schen den Pfo­ten gekit­zelt habe. Wäh­rend der­sel­be sich streckt, gähnt und gleich wie­der zusam­men­rollt, wie­der­ho­le ich die fünf kur­zen Übun­gen mit dem nächs­ten Wel­pen. »Die Gene­tik bestimmt aber nur bis zu einem gewis­sen Grad, wie wir die Welt erle­ben. Was uns Angst macht oder aus der Haut fah­ren lässt, ist noch viel stär­ker von äuße­ren Ein­flüs­sen bestimmt – von Erfah­run­gen und Wahr­neh­mun­gen, die wir im Lau­fe unse­res Lebens machen, und die unser Genom ent­spre­chend modi­fi­zie­ren.« Weil das Erle­ben von frü­hem Stress nach wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen auch beim Wel­pen einen ent­schei­den­den Ein­fluss auf die Ent­wick­lung der Per­sön­lich­keit hat, sit­ze ich auch an die­sem Mor­gen wie­der mit ver­schie­de­nen Uten­si­li­en in der Wurf­kis­te: neben den Wat­te­stäb­chen liegt ein nas­ser Wasch­lap­pen, für die übri­gen drei Übun­gen genü­gen mei­ne Hän­de. 

Border Collie Welpen in der 2. Lebenswoche
07|08|2024 – Wel­pe No. 1

Die tak­ti­len und ther­mi­schen Rei­ze, die bei der Frü­hen Neu­ro­lo­gi­schen Sti­mu­la­ti­on durch den Men­schen in den ers­ten bei­den Lebens­wo­chen gezielt gesetzt wer­den, akti­vie­ren neu­ro­na­le Pro­zes­se, die sich posi­tiv auf die wei­te­re Ent­wick­lung der Wel­pen aus­wir­ken kön­nen. Eine höhe­re Stress­to­le­ranz ist dabei nicht der ein­zi­ge Nut­zen. Die Sti­mu­la­ti­on des Ner­ven­sys­tems wirkt sich gleich­wohl auf die Vita­li­tät und Akti­vi­tät der Wel­pen aus, auch eine Ver­bes­se­rung des Lern­ver­hal­tens und der sozia­len Fähig­kei­ten wird ange­nom­men. Die geziel­te frü­he För­de­rung öff­net also ein Fens­ter zu einer bes­se­ren, wider­stands­fä­hi­ge­ren Zukunft – sie maxi­miert die Poten­zia­le des Indi­vi­du­ums, und ist zusam­men mit Gene­tik, Erfah­rung und Erzie­hung ein wich­ti­ger Bau­stein zur Ent­fal­tung des wah­ren Selbst.

»Must be the reason why I’m king of my cast­le«, sum­me ich, wäh­rend ich den nächs­ten Wel­pen behut­sam in die Hand neh­me. Noch sind sei­ne Augen geschlos­sen, doch in weni­gen Tagen wird er begin­nen, die Welt zu sehen. »Bis jetzt haben wir uns unse­ren Gren­zen unter­ge­ord­net«, sagt der Pup­pet­mas­ter im letz­ten Akt des Films, als er Moto­ko davon über­zeugt hat, ihr Bewusst­sein mit sei­nem zu ver­schmel­zen, »nun aber ist es an der Zeit, ein Teil des Gan­zen zu wer­den«. Das gilt auch für die Wel­pen. Bereit für alle Her­aus­for­de­run­gen und Möglichkeiten.

Das 2. Fotoshooting

Die 2. Lebenswoche

© Johannes Willwacher