Körper und Geist, Genetik und Persönlichkeit: über die Entwicklung der Welpen in den ersten beiden Lebenswochen – und welchen Einfluss der Züchter darauf nimmt.
Must be the reason why
I’m freeing my trapped soul.
Wamdue Project (1997)
»Körper und Geist setzen sich aus unzähligen Ingredenzien zusammen«, sagt Motoko Usanagi, als sie mit Batou, der ihr als Ermittler in der für Cyberkriminalität zuständigen Sektion 9 des Innenministeriums zugeteilt ist, an Bord einer Yacht in der Bucht von New Port City sitzt. Gemeinsam sind sie damit beauftragt, einer künstlichen Intelligenz nachzuspüren, die als Puppetmaster bekannt ist und in eine Reihe von Verbrechen verstrickt sein soll. »All diese Komponenten machen mich zu einem Individuum mit einer eigenen Persönlichkeit. Mein Gesicht und meine Stimme mögen mich gleichwohl von anderen unterscheiden, aber mein Verstand und meine Erinnerungen gehören nur mir. All dies sind Teilaspekte des Ganzen. Ich nehme Informationen auf und verarbeite sie auf meine Weise. Aus dem Zusammenwirken all dieser Vorgänge entsteht mein Ich und das Bewusstsein meiner Persönlichkeit.«
Motoko Usanagi ist ein Cyborg. Nachdem sie als Kind einen schweren Unfall hatte, sind alle organischen Teile ihres Körpers durch Prothesen ersetzt worden, das Gehirn und Rückenmark ausgenommen. »Ich fühle mich eingeengt«, sagt sie im Folgenden, »ich kann mich nur innerhalb gewisser Grenzen bewegen«. Dass sie damit nicht nur auf ihr körperliches Dilemma anspielt, sondern auch Fragen zur Ausbildung und Entfaltung des eigenen Selbstbilds aufwirft, klärt sich jedoch erst im weiteren Verlauf der Handlung des 1995 erschienenen japanischen Animes Ghost in the Shell.
»Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus«, schreibt Sigmund Freud zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Das Denken, Fühlen und Handeln jedes Lebewesens ist nach seinem Verständnis maßgeblich durch das Unbewusste gelenkt – ein schwer zugängliches Verlies der Seele, in dem sich geheime Wünsche und verdrängte Erlebnisse tummeln. Jede Spezies, die DNA als Gedächtnissystem trägt, gewinnt ihre Individualität dem zur Folge aus Erinnerungen – und jedes Lebewesen ist durch vergangene Erfahrungen und Wahrnehmungen bestimmt, deren Einfluss gleich bleibt und sich nur schwer umprogrammieren lässt. »Zellen wiederholen den Prozess der Degeneration und Regeneration, bis sie eines Tages sterben und dabei eine ganze Reihe von Erinnerungen und Informationen auslöschen«, heißt es dazu im Film.
»Die Grundmerkmale der Persönlichkeit werden durch die Genetik bestimmt«, sage ich, als ich das Wattestäbchen beiseitelege, mit dem ich den Welpen vor mir gerade zwischen den Pfoten gekitzelt habe. Während derselbe sich streckt, gähnt und gleich wieder zusammenrollt, wiederhole ich die fünf kurzen Übungen mit dem nächsten Welpen. »Die Genetik bestimmt aber nur bis zu einem gewissen Grad, wie wir die Welt erleben. Was uns Angst macht oder aus der Haut fahren lässt, ist noch viel stärker von äußeren Einflüssen bestimmt – von Erfahrungen und Wahrnehmungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, und die unser Genom entsprechend modifizieren.« Weil das Erleben von frühem Stress nach wissenschaftlichen Erkenntnissen auch beim Welpen einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit hat, sitze ich auch an diesem Morgen wieder mit verschiedenen Utensilien in der Wurfkiste: neben den Wattestäbchen liegt ein nasser Waschlappen, für die übrigen drei Übungen genügen meine Hände.
Die taktilen und thermischen Reize, die bei der Frühen Neurologischen Stimulation durch den Menschen in den ersten beiden Lebenswochen gezielt gesetzt werden, aktivieren neuronale Prozesse, die sich positiv auf die weitere Entwicklung der Welpen auswirken können. Eine höhere Stresstoleranz ist dabei nicht der einzige Nutzen. Die Stimulation des Nervensystems wirkt sich gleichwohl auf die Vitalität und Aktivität der Welpen aus, auch eine Verbesserung des Lernverhaltens und der sozialen Fähigkeiten wird angenommen. Die gezielte frühe Förderung öffnet also ein Fenster zu einer besseren, widerstandsfähigeren Zukunft – sie maximiert die Potenziale des Individuums, und ist zusammen mit Genetik, Erfahrung und Erziehung ein wichtiger Baustein zur Entfaltung des wahren Selbst.
»Must be the reason why I’m king of my castle«, summe ich, während ich den nächsten Welpen behutsam in die Hand nehme. Noch sind seine Augen geschlossen, doch in wenigen Tagen wird er beginnen, die Welt zu sehen. »Bis jetzt haben wir uns unseren Grenzen untergeordnet«, sagt der Puppetmaster im letzten Akt des Films, als er Motoko davon überzeugt hat, ihr Bewusstsein mit seinem zu verschmelzen, »nun aber ist es an der Zeit, ein Teil des Ganzen zu werden«. Das gilt auch für die Welpen. Bereit für alle Herausforderungen und Möglichkeiten.
© Johannes Willwacher