Die achte Trächtigkeitswoche: Geheimnisse, die bewahrt werden, und Geheimnisse, die sich entfalten – die anstrengenden letzten Tage vor der Geburt der Welpen.

Eigent­lich hat Lori gar kei­ne Lust, Miche­le ins Trou­ba­dour zu beglei­ten. »Den Sän­ger musst du gese­hen haben«, drängt die Freun­din am Tele­fon und erzählt begeis­tert von dem Kon­zert, das sie am Vor­abend besucht hat. Weil Nor­man sie für den Abend wie­der ein­mal ver­setzt hat – all­zu oft kön­nen sie sich nicht sehen, da Frau und Kin­der miß­trau­isch wer­den könn­ten –, stimmt sie schließ­lich doch zu und lässt sich zu dem Nacht­club am San­ta Moni­ca Bou­le­vard fah­ren. Kaum, dass die bei­den Neun­zehn­jäh­ri­gen sich einen Weg durch das Gedrän­ge gebahnt und einen Tisch mit gutem Blick auf die Büh­ne gefun­den haben – bloß zwei hoch auf­ge­schos­se­ne Hip­pies, die sich ange­regt am Büh­nen­rand unter­hal­ten, ver­sper­ren ihnen die Sicht –, wird der Sän­ger mit gro­ßem Applaus emp­fan­gen. Lori stellt ihren Drink auf einer wei­ßen Papier­ser­vi­et­te ab und fährt sich mit der Hand durch die lan­gen, blon­den Haa­re. Es ist der 21. Novem­ber 1971.

Sie hat Trä­nen in den Augen, als Don McLean die Büh­ne ver­lässt. Miche­le tät­schelt ihre Hand, die auf der voll­ge­krit­zel­ten Papier­ser­vi­et­te ruht. »Als habe er mei­ne Brie­fe gefun­den, und jeden ein­zel­nen davon laut vor­ge­le­sen«, hat Lori dort ver­merkt, »als habe er dem Publi­kum mit sei­nen Songs mei­ne tiefs­ten Geheim­nis­se offen­bart«. Noch am sel­ben Abend ruft sie Nor­man an und bit­tet ihn, sich tags dar­auf mit ihr und Charles Fox im Ton­stu­dio zu treffen.

»Das bin ich«, sagt Lori, »das ist mei­ne Geschich­te«. Die bei­den Män­ner, die mit ihr an ihrem ers­ten Album arbei­ten – Fox ist zehn Jah­re älter als sie, Nor­man Gim­bel schon in sei­nen Vier­zi­gern –, schau­en sie ver­ständ­nis­los an. Sie räus­pert sich und erklärt, dass ihr der Klang der Wor­te nicht gefällt, die ihr Nor­man in den Mund legen will. »Blues klingt viel zu alt­mo­disch«, sagt sie und schüt­telt den Kopf. »Ein Folk­song kann ein Blues sein, aber das, was ich gehört habe, das war kein Blues.« Wider­stre­bend wird die Lied­zei­le geän­dert, und als Lori eini­ge Wochen spä­ter im Stu­dio zu sin­gen beginnt, lässt sie die letz­te Sil­be lang aus­klin­gen: »Kil­ling me soft­ly with his … song«. 

Ihre Betei­li­gung wird geheim gehal­ten. Als Tex­ter und Kom­po­nis­ten tre­ten nur Gim­bel und Fox in Erschei­nung. Wäh­rend Rober­ta Flack den Song 1973 neu auf­nimmt – den­sel­ben hat sie zufäl­lig wäh­rend eines Ame­ri­can Air­lines-Flugs von Los Ange­les nach New York im Bord­pro­gramm gehört –, und in der Fol­ge meh­re­re Gram­mys gewinnt, bekommt Lori Lie­ber­man weder finan­zi­el­le noch musi­ka­li­sche Aner­ken­nung. Für bei­na­he drei­ßig Jah­re – bis eine Hip-Hop-Grup­pe 1995 beschließt, den Song für ihr Debüt-Album erneut auf­zu­neh­men – bleibt ihre Urhe­ber­schaft eines der am bes­ten gehü­te­ten Geheim­nis­se der Musikbranche.

Zwei schwarz-weiße Border Collie Hündinnen
14|07|2024 – Halo und Fate: ob die Schwes­ter das Geheim­nis schon kennt?

Nicht mehr ganz so lan­ge wird es dau­ern, bis Fate das Geheim­nis lüf­tet, das sie unter ihrem Her­zen trägt. Ab dem 57. Träch­tig­keits­tag, den das mor­gi­ge Datum beschreibt, sind die Lun­gen der Wel­pen so weit ent­wi­ckelt, dass sie lebend gebo­ren wer­den kön­nen. Dass die Geburt naht, lässt sich aber auch auf­grund ande­rer Beob­ach­tun­gen erah­nen. Die offen­sicht­lichs­te ist dabei der Bauch­um­fang der Hün­din, der in der ver­gan­ge­nen Woche auf fünf­und­sieb­zig Zen­ti­me­ter ange­wach­sen ist, und der – auch wenn Fate der­zeit sehr gut und ger­ne frisst – kaum nur dem guten Fut­ter geschul­det sein kann. Das zusätz­li­che Gewicht – bei einem nor­mal gro­ßen Wurf trägt die Hün­din kurz vor der Geburt zumeist vier bis fünf Kilo­gramm mehr mit sich her­um – macht sich auch auf den Spa­zier­gän­gen bemerk­bar, die Fate sehr gemäch­lich hin­ter sich bringt. Statt zu Spie­len und zu Ren­nen ver­bringt sie ihre Zeit ohne­hin viel lie­ber mit aus­gie­bi­gen Son­nen­bä­dern, lässt sich – alle Vie­re in die Luft gestreckt – die Son­ne auf den dicken, run­den Bauch schei­nen, oder über­legt, wel­ches Gebüsch im Gar­ten die bes­te Wurf­höh­le abge­ben könn­te. 

Weil das kom­men­de Mut­ter­glück die Hün­din selbst aber nicht nur glück­lich macht – der Bauch ist schließ­lich immer und über­all im Weg und das Gewicht der unge­bo­re­nen Wel­pen drückt auch immer deut­li­cher auf die übri­gen Orga­ne –, macht sich auch immer wie­der Unru­he breit. Es wird gescharrt. Es wird gejam­mert. Es wird gejault. »Kil­ling me soft­ly!« So wie Lau­ryn Hill und Rober­ta Flack. So wie Lori Lieberman.

© Johannes Willwacher