Die sechste Trächtigkeitswoche: von singenden Nomaden und anderen Samples – und was das mit der Hundezucht und unseren noch ungeborenen Welpen zu tun hat.

»Es ist schwie­rig für den Kopf, ohne Schul­ter zu sein, aber es ist genau­so ein Unglück für den Leib, ohne Kopf zu sein«, heißt es in dem mit­tel­al­ter­li­chen Epos über den Feld­zug des Fürs­ten Igor gegen die Kipt­schak, das den rus­si­schen Kom­po­nis­ten Alex­an­der Boro­din zu sei­ner ers­ten und ein­zi­gen Oper inspi­riert. Acht­zehn Jah­re arbei­tet er an sei­nem Werk. Als er 1887 stirbt, hin­ter­lässt er die Oper den­noch unvoll­endet. Die Frag­men­te – der Kopf, die Schul­ter und der Leib – wer­den nach sei­nem Tod durch zwei befreun­de­te Kom­po­nis­ten zusam­men­ge­fügt. Bei der Urauf­füh­rung begeis­tert »Prinz Igor« 1890 die Mas­sen. Und das Igor­lied wird auch über die Gren­zen Russ­lands hin­aus bekannt.

Seit der Expe­di­ti­on von 1910, die von den bri­ti­schen For­schern Dou­glas Car­ru­thers, Mor­gan Phil­ips Pri­ce und John Mil­ler unter­nom­men wor­den ist, hat kein Euro­pä­er mehr einen Fuß in das dünn besie­del­te Gebiet im mon­go­li­schen Hoch­land gesetzt, in dem die Tuwi­ner leben. Nach­dem es 1944 Teil der Sowjet­uni­on wird, bleibt es bis 1988 für Aus­län­der gesperrt. Im Zuge von Glas­nost bekommt ein bri­ti­sches Film­team im dar­auf­fol­gen­den Jahr schließ­lich die Erlaub­nis, das Leben eines noma­disch leben­den Hir­ten­volks am Fuß des Mon­gun-Tai­ga zu doku­men­tie­ren. Dort leben die Fami­li­en, den Jah­res­zei­ten fol­gend, in ein­fa­chen Jur­ten und wech­seln mit Yaks, Scha­fen und Zie­gen mehr­mals im Jahr das Lager. Die Tra­di­tio­nen der Tuwi­ner, zu denen auch der typi­sche Kehl­kopf­ge­sang gehört, neh­men in der Doku­men­ta­ti­on den größ­ten Raum ein. Einer der Hir­ten erzählt sin­gend am Feu­er davon.

»Ich bin kei­ne Stim­me, ich bin das sin­gen­de Feu­er«, into­niert Nus­rat Fateh Ali Khan, als er 1985 zum ers­ten Mal außer­halb von Paki­stan auf­tritt, »was du hörst, ist das Knis­tern in dir«. 1948 wird der Musi­ker in Faisa­labad in eine mus­li­mi­sche Fami­lie gebo­ren, die seit mehr als sechs­hun­dert Jah­ren die Tra­di­ti­on des Qaw­wa­li pflegt. Per­si­sche, ara­bi­sche, tür­ki­sche und indi­sche Ein­flüs­se ver­schmel­zen im Qawal­li mit­ein­an­der. Das Instru­men­ta­ri­um ist spär­lich und maß­geb­lich durch Trom­meln und Klat­schen geprägt. Als Khan 1990 zusam­men mit Peter Gabri­el im Ton­stu­dio steht, lässt er sich von dem­sel­ben aber den­noch über­zeu­gen, sei­nen Gesang mit einem Har­mo­ni­um zu beglei­ten. Jeder Ton, jedes Tim­bre trägt das Gewicht von Jahr­hun­der­ten. Und klingt doch neu, als die Auf­nah­me von »Mustt Mustt« spät in der Nacht been­det wird.

In einem abge­dun­kel­ten Stu­dio in Bris­tol sit­zen 1994 drei Musi­ker zwi­schen Syn­the­si­zern und Misch­pul­ten. Die Stadt trifft auf die Step­pe, wäh­rend Boro­dins Feder über das Per­ga­ment kratzt. Wäh­rend ein Hir­te dem Wider­hall sei­ner Stim­me lauscht. Wäh­rend der Rhyth­mus der Trom­meln von den Ufern des Indus erzählt. Alles ist Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft. Jeder Ton ist ein Gen, das die Gestalt eines neu­en musi­ka­li­schen Orga­nis­mus prägt. Und doch bleibt jedes Sam­ple so ein­zig­ar­tig, wie der gene­ti­sche Code, der die Essenz eines Wesens trägt: »And when we funk we’ll hear the beats …«

Jeder Herz­schlag ist ein Sam­ple der Geschich­te. Jeder Wel­pe ein leben­di­ger Orga­nis­mus, der die Ver­gan­gen­heit vari­iert. Das lie­ße sich zum Ende der sechs­ten Träch­tig­keits­wo­che auch durch unse­re Hün­din bestä­ti­gen. Kopf und Rumpf der unge­bo­re­nen Wel­pen sind unter­scheid­bar, und die Föten sehen nun aus wie klei­ne Hun­de. Auch die Fell­far­be hat bereits begon­nen sich zu ent­wi­ckeln – und wer sein Ohr ganz dicht an den Bauch der Hün­din drückt, dem gelingt es wohl auch, dem Herz­schlag der Wel­pen zu lauschen.

Die Tech­nik der Hun­de­zucht hat viel mit der Kunst des Sam­plings gemein. Beim Sam­pling wer­den Töne aus ver­schie­de­nen Quel­len ent­nom­men und zu etwas Neu­em und Ein­zig­ar­ti­gem zusam­men­ge­setzt. Ähn­lich ist es in der Hun­de­zucht: Züch­ter wäh­len sorg­fäl­tig Eltern­paa­re aus, um spe­zi­fi­sche gene­ti­sche Merk­ma­le zu kom­bi­nie­ren und so die bes­ten Eigen­schaf­ten an die nächs­te Gene­ra­ti­on wei­ter­zu­ge­ben. In bei­den Fäl­len ent­steht etwas Neu­es, das auf der Ver­gan­gen­heit auf­baut, sie jedoch vari­iert und in die Zukunft trägt. So wie ein musi­ka­li­sches Sam­ple einen Hauch von Geschich­te in einen moder­nen Kon­text bringt, trägt auch jeder Wel­pe das Erbe sei­ner Vor­fah­ren in sich.

Was klingt bei unse­ren Wel­pen durch? Stammt der Rhyth­mus vom Vater, die Melo­die von der Mut­ter? Oder greift die Natur noch wei­ter zurück? Las­sen sich nicht nur die Eltern, son­dern auch unge­zähl­te Eltern­ge­nera­tio­nen in der Kom­po­si­ti­on wie­der­fin­den? So das man­cher Ton im Remix an längst ver­klun­ge­ne Schrit­te im schot­ti­schen Hoch­land erin­nert – an Hir­ten und Scha­fe –, und ein ande­rer an das, was davon übrig bleibt. Drei Wochen noch, bis aus dem Knis­tern eine Stim­me wird.

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