Statt umzublättern: Zurückblicken, Verweilen und Innehalten – unserer Nell zu ihrem fünfzehnten Geburtstag.

Haben Sie sich schon ein­mal gefragt, wie vie­le Ihrer mög­li­chen Leben Sie bereits gelebt haben? Und wie vie­le Ihrer zukünf­ti­gen Ichs noch dar­auf war­ten, gelebt zu wer­den? Zwei­fels­oh­ne wür­den wir nie­mals umblät­tern, wenn wir das Dreh­buch der Zukunft lesen könn­ten. Wenn fest­stün­de, dass die Zahl der zukünf­ti­gen Ichs nicht annä­hernd so groß ist, wie wir es uns wün­schen wür­den, und die Exis­tenz von allen bereits geleb­ten – dem zwei­jäh­ri­gen Ich, das die Ver­ti­ka­le meis­tert, dem zwölf­jäh­ri­gen Ich, das die Schu­le schwänzt, dem sech­zehn­jäh­ri­gen Ich, dem sich die ers­te Ahnung von Lie­be offen­bart, oder dem zwan­zig­jäh­ri­gen Ich, das zu ver­ste­hen beginnt, was Frei­heit ist – auf Sei­te 64 endet. 

Nichts mehr mit den Rei­sen, die sich ein jün­ge­res Ich ein­mal vor­ge­nom­men hat. Nichts mehr mit dem gro­ßen Roman, den zu schrei­ben ein ande­res Ich nie die Zeit fin­den konn­te. Nichts mehr mit den Geschich­ten, die ein zukünf­ti­ges Ich noch mit Leben fül­len soll­te. Bloß wei­ßes Papier, und dar­auf vier Buch­sta­ben: Ende. Sie wis­sen schon.

Wäh­rend ich das schrei­be, streift mein Blick immer wie­der die schla­fen­de Hün­din, die lang aus­ge­streckt im Durch­gang vom Flur zum Ess­zim­mer liegt. Heu­te wird sie fünf­zehn Jah­re alt. Unter mei­nem Blick hat sie all ihre mög­li­chen Ichs durch­lebt. Sie war der Wel­pe, den ich mit zehn Tagen zum ers­ten Mal in den Hän­den hielt. Sie war der Jung­hund, den ich mit zitt­ri­gen Hän­den zum ers­ten Mal aus­stell­te. Sie war die Hün­din, die ganz ohne mein Zutun ihren ers­ten Wel­pen gebar. Sie war die Mut­ter von vie­len, die Groß­mutter von so vie­len wei­te­ren. Sie war Nell. Sie ist Nell. Sie ist – mit jedem ihrer Ichs – immer Nell geblieben.

Das Leben ist eine selt­sa­me Sache. Gera­de wenn wir den­ken, zu wis­sen, wie es zu nut­zen ist, ist es vor­bei. Ein Hund, dem wir beim Altern zuschau­en, macht uns das immer wie­der schmerz­lich bewusst. Viel­leicht tut es aber auch genau des­halb so gut, lang­sa­mer zu machen, ste­hen zu blei­ben, auf­ein­an­der zu war­ten – ganz bewusst einen Fuß vor den ande­ren zu set­zen. Weil der Weg, den wir allei­ne wei­ter gehen müs­sen, lang sein wird. Und weil jeder Augen­blick – jedes Zurück­bli­cken, Ver­wei­len und Inne­hal­ten – mit der Dank­bar­keit für so vie­le ande­re, längst ver­stri­che­ne Augen­bli­cke eine noch grö­ße­re Bedeu­tung bekommt.

Herz­li­chen Glück­wunsch zum 15. Geburts­tag, lie­be Nell. Das ist dein Augen­blick. Für immer.

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