Schwere Entscheidungen: zum Ende der fünften Lebenswoche wird es Zeit zu überlegen, welcher Welpe zu welchem Menschen passt.
Tell me, where is the shepherd for this lost lamb?
George und Ira Gershwin (1926)
Ein einzelner Scheinwerfer flammt auf. Langsam tritt Gertrude in den grellen Lichtkegel, der sich auf den Bühnenbrettern des Imperial Theatre abzeichnet. Für einen Moment drängt es sie die Augen zu schließen, wenigstens einmal kurz zu blinzeln. Für einen Moment möchte sie den kurzen Rock der Uniform, in die man sie gesteckt hat, mit beiden Händen am Saum fassen, möchte die sich fast unanständig aufbauschenden schwarzen Rüschen glatt ziehen, über denen die weiße Schürze eines Dienstmädchens wippt. Weil sie in ihren Händen aber ein alte Stoffpuppe hält – Gershwin hatte dieselbe in einem Spielzeugladen in Philadelphia entdeckt und kurzentschlossen verfügt, sie mit dieser auftreten zu lassen –, und die Musik bereits eingesetzt hat, tut sie weder das eine, noch das andere, sondern beginnt ganz einfach zu singen. »There’s a saying old says that love is blind«, singt sie zu den Klängen aus dem Orchestergraben, »still we’re often told, ›seek and ye shall find‹«.
Dass die Lawrence nicht gesucht hatte, würde niemand bestreiten, der ihren achtundzwanzigjährigen Lebensweg bis zu diesem Tag gekreuzt hatte. An Verehrern hatte es ihr nie gemangelt, und nicht wenige davon, Männer wie Frauen, hatten auch den Weg in das Bett der Schauspielerin gefunden. Gefunden hatte sie schlussendlich aber der zwanzig Jahre ältere Francis Gordon-Howley – ein schrecklich untalentierter Schmarotzer, der ihr schnell ein Kind gemacht und dann beabsichtigt hatte, den Rest seines Lebens auf ihre Kosten zu verbringen. Die Scheidung – längst überfällig, seitdem sie ihn 1923 mit der kaum fünfjährigen Pamela verlassen hatte – hatte sie dennoch nie eingereicht. Warum auch? Zum einen stand ihr nicht der Sinn danach, sich erneut zu verheiraten. Und zum anderen fehlte ihr dazu auch schlicht und ergreifend die Zeit, seitdem sie der britischen Insel – den kleinen Provinztheatern genauso wie dem Londoner West End – den Rücken gekehrt und sich am Broadway versucht hatte. Das Stück, das dort an diesem Novemberabend seine Premiere feierte, hatten George und Ira Gershwin nur für sie geschrieben – und sie damit zur ersten britischen Schauspielerin gemacht, die eine Hauptrolle am Broadway spielte. Sie hatte Erfolg, sie hatte Geld – und wenn sie einen Mann brauchte, dann vielleicht allein aus dem Grund, jemanden zu haben, der ihre Ausgaben im Blick behielt. Denn dass die Lawrence noch häufiger in teuren Boutiquen, als auf der Bühne zu finden war, würde auch niemand bestreiten.
»There’s a somebody I’m longing to see«, singt sie und senkt den Blick, »I hope that he turns out to be someone who’ll watch over me«. Getrude ahnt, dass George Gershwin in den Kulissen steht und sie beobachtet, und mit einem Mal ist ihr, als ob sie das Trommeln seiner Fingerspitzen hören kann, die auf den hölzernen Aufbauten die Akkorde greifen. »Im Takt, immer im Takt!« Dass sie bei jeder Begegnung mit dem Komponisten an eines der automatischen Klaviere denken muss, mit denen sich in den vergangenen Jahren nicht wenige Salons der besseren Gesellschaft geschmückt haben, würde sie ihm niemals sagen – auch wenn ihre Gedanken dabei durch und durch wohlwollend sind. Er ist ungekünstelt und bescheiden, trotz seiner Berühmtheit nicht im Geringsten affektiert. Und dabei immer so verlässlich, wie eines dieser Klaviere. Eines, das zu jeder Zeit auf Knopfdruck die schönsten Melodien abspielt. »Jaz-o-mine«, erinnert sie sich jetzt, dort auf der Bühne, nennt sich eine der Melodien, die Gershwin selbst für Welte-Mignon als Reproduktionsrolle eingespielt hat. »So jemand«, denkt sie, als die letzte Note verklingt, »so jemand könnte vielleicht auch der Richtige sein«. Und dann nimmt der Applaus sie mit.
Über den Richtigen denke auch ich am Ende der fünften Lebenswoche unserer Welpen nach. Allein, dass es mir dabei weniger um jemanden geht, der meine Rechnungen bezahlt, sondern ich mir viel eher die Frage stelle, welcher Mensch der Richtige für welchen Welpen ist. Dass ich mir gerne etwas mehr Zeit damit lasse, meine Welpen zu beobachten, wissen die meisten Interessentinnen und Interessenten schon, bevor sie sich um einen meiner Welpen bewerben. Während sich manche zwar gerne schon am Tag der Geburt anhand optischer Präferenzen für einen Welpen entscheiden würden, spielt für mich aber die Wesensentwicklung eine viel wichtigere Rolle. Etwas, das Zeit braucht – und das sich zuverlässig auch nur durch jemanden beurteilen lässt, der möglichst viel Zeit mit den Welpen verbringt. Durch den Züchter, also. Durch mich.
Als Züchter bin ich zuallererst dem Wohlergehen meiner Welpen verpflichtet – weshalb ich auf manche Wünsche auch keine Rücksicht nehmen kann, wenn ich davon überzeugt bin, dass dieser oder jener Welpe ganz einfach nicht passt. Denn eine Passung sollte in jedem Fall gegeben sein. Sei es, dass die persönlichen Fähigkeiten es erlauben, auch einem eher fordernden Welpen gerecht werden zu können. Oder sei es, dass die persönlichen Ziele den Potenzialen des jeweiligen Welpen – als möglicher Zucht- oder Ausstellungshund, als Sport-, Therapie- oder Familienhund – entsprechen. Die Beobachtungen, die ich bei den Welpen in den ersten Lebenswochen mache, mögen zwar nicht immer unanfechtbar sein – ein Welpe, der sich während der Aufzucht als ruhigster in seinem Wurf erwiesen hat, ist vielleicht auch nur der ruhigste unter insgesamt sehr triebstarken Welpen –, schlussendlich sind sie aber für beide Seiten der verlässlichere Schlüssel zum Glück.
Wo gibt es am Ende also Applaus? Wo verbeugt man sich und tritt schweigend von der Bühne ab? Wer darf im Leben welches Welpen die Hauptrolle spielen? Fünf Wochen habe ich mir Zeit gelassen. Die sechste Woche wird es zeigen.
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