Gottgegebene Talente: über Wunderkinder und Wesensentwicklung – und was der Züchter während der Welpenaufzucht tut, um beides zu unterstützen.

Am Mor­gen des 4. Juli 1910 trug Aga­tha J. Bei­derb­ecke ein Grin­sen vor sich her, das sich kaum über­se­hen ließ. Die neu­es­te Aus­ga­be des Daven­port Demo­crat unter den lin­ken Arm geklemmt, schlen­der­te sie die Grand Ave­nue hin­un­ter – und wem das brei­te Grin­sen nicht auf­fiel, der wun­der­te sich doch über die hüp­fen­den Schrit­te der fast vier­zig­jäh­ri­gen Frau des orts­an­säs­si­gen Koh­len­händ­lers. Um der guten Lau­ne der vier­fa­chen Mut­ter nach­zu­spü­ren, hät­te es aller­dings schon genügt, einen Blick auf die Titel­sei­te der Zei­tung zu wer­fen, die sie stolz mit sich trug. »Ein sie­ben­jäh­ri­ger Jun­ge, ein musi­ka­li­sches Wun­der­kind«, stand dort in gro­ßen Buch­sta­ben zu lesen. »Der klei­ne Bickie Bei­derb­ecke spielt jedes Stück, das er hört«, folg­te ein wenig klei­ner darunter.

Dass das drit­te von vier Kin­dern – der Jun­ge wur­de auf Wunsch des deutsch­stäm­mi­gen Vaters auf den schwer­ge­wich­ti­gen Namen Bis­marck getauft – noch ein wenig mehr musi­ka­li­sches Talent besaß, als die übri­gen, war bereits früh auf­ge­fal­len. Schon als Zwei­jäh­ri­ger hat­te er damit begon­nen, auf dem Kla­vier sei­ner Mut­ter zu klim­pern, die der Fami­lie ein schma­les Zubrot als Kla­vier­leh­re­rin ver­dien­te – und weil er sein Gehör auch bei den Kla­vier­stun­den der älte­ren Schwes­ter schu­len konn­te, spiel­te er mit drei Jah­ren bereits Liszt. Dass der klei­ne Bickie nie­mals gelernt hat­te, Noten zu lesen, und selbst im Grund­schul­al­ter noch auf einem Wör­ter­buch sit­zen muss­te, um die Tas­ten des Kla­viers zu errei­chen, tat sei­nem Ruf als Wun­der­kind kei­nen Abbruch. Ganz im Gegen­teil, war er schon über die Nach­bar­schaft hin­aus als sol­ches bekannt, als er mit sechs Jah­ren an der Tyler Gra­de School in Daven­port, Iowa, ein­ge­schult wurde.

Drei Wochen alter Border Collie Welpe
25|01|2024 – Broad­me­a­dows Just In Time

Aga­tha J. Bei­derb­ecke war also stolz. Womög­lich wäre sie noch stol­zer gewe­sen, hät­te sie am Mor­gen die­ses 4. Juli 1910 bereits geahnt, dass der schmäch­ti­ge Jun­ge ein­mal als ers­ter ein­fluss­rei­cher wei­ßer Jazz­mu­si­ker in die Geschich­te ein­ge­hen soll­te. Weil der­sel­be zu die­sem Zeit­punkt aber noch lan­ge nicht die Aus­flugs­damp­fer für sich ent­deckt hat­te, die nur weni­ge Blocks von der Grand Ave­nue ent­fernt auf dem Mis­sis­sip­pi kreuz­ten – weil er noch nie am Ufer gestan­den und die­ser neu­en, schwar­zen Musik gelauscht hat­te, die mit dem Wind her­über­ge­tra­gen wur­de –, war von Jazz auch noch kei­ne Rede. Er war ein Wun­der­kind. Ihr Wun­der­kind. Ein wenig stör­risch, bis­wei­len, aber mit einem Talent geseg­net, das sich bloß als gott­ge­ge­ben bezeich­nen ließ.

Es lässt sich dar­über strei­ten, wel­che Ver­hal­tens­wei­sen eines Hun­des erlernt und wel­che ange­bo­ren sind. Wäh­rend der wis­sen­schaft­li­che Dis­kurs sich in der Ver­gan­gen­heit im Wesent­li­chen auf die Gene­tik kon­zen­triert und das Lern­ver­hal­ten ver­nach­läs­sigt hat, kommt Letz­te­rem tat­säch­lich eine viel grö­ße­re Bedeu­tung zu. Abge­se­hen von den ras­se­ty­pi­schen Eigen­schaf­ten – dem Jagd­ver­hal­ten eines Deutsch Draht­haars, bei­spiels­wei­se, oder dem Hüte­ver­hal­ten eines Bor­der Col­lies –, ist die Ent­wick­lung und Aus­prä­gung indi­vi­du­el­ler Wesens­merk­ma­le zumeist auf die Lern­ge­schich­te jedes ein­zel­nen Hun­des zurück­zu­füh­ren. Wie selbst­be­wusst ein Hund inter­agiert – wie aus­ge­gli­chen, aggres­siv oder schreck­haft er in bestimm­ten Situa­tio­nen reagiert –, und wie gut er Stress ver­ar­bei­ten kann, hängt also viel­mehr mit der Lebens­welt zusam­men, in die er gebo­ren wird. Oder anders: Hät­te Aga­tha J. Bei­derb­ecke das Talent ihres Soh­nes nicht früh­zei­tig erkannt und hät­ten die musi­ka­li­schen Tra­di­tio­nen der Fami­lie es nicht erlaubt, den Jun­gen ent­spre­chend zu för­dern, wäre aus ihm dann das glei­che Wun­der­kind geworden?

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Die ers­ten Lebens­wo­chen eines Wel­pen sind also ent­schei­dend – wobei nicht ver­ges­sen wer­den darf, dass die Lern­ge­schich­te eines Hun­des nicht been­det ist, wenn er die Zucht­stät­te ver­lässt, und die Vor­ar­beit des Züch­ters immer sinn­voll wei­ter­ge­führt wer­den will. Im bes­ten Fall hat der Züch­ter als ers­ter mensch­li­cher Für­sor­ge­ga­rant aber eine ent­wick­lungs­ge­rech­te Auf­zucht­um­welt geschaf­fen. Er hat dem Wel­pen emo­tio­na­le Sicher­heit gege­ben und ihm – ohne Über­be­hü­tung, aber auch ohne Über­for­de­rung – zur Ent­fal­tung der Eigen­ak­ti­vi­tät ver­hol­fen. Nest­wär­me, zum einen. Mil­der Früh­stress, zum ande­ren.  

Das beginnt schon am Tag der Geburt – mit der Ent­schei­dung, nur dort zu unter­stüt­zen, wo es zwin­gend not­wen­dig ist. Wäh­rend der Ein­satz von Rot­licht in den ers­ten Lebens­wo­chen bei­spiels­wei­se ger­ne damit begrün­det wird, das Wohl­be­fin­den zu stei­gern, wirkt er sich viel eher nach­tei­lig aus: die künst­li­che Nest­wär­me ver­hin­dert das sozia­le Kon­takt­lie­gen – und beschnei­det den Wel­pen somit nicht nur in sei­ner psy­chi­schen Ent­wick­lung, son­dern auch in der Mög­lich­keit, durch Eigen­ak­ti­vi­tät zum Erfolg zu kom­men. Unter­stüt­zen soll­te der Züch­ter viel eher durch die geziel­te Anspra­che des Gleich­ge­wichts­sinns, die unab­hän­gig von Seh- und Hör­fä­hig­keit schon in den ers­ten Lebens­wo­chen durch ein­fa­che, stress­aus­lö­sen­de Übun­gen und Rei­ze mög­lich ist: der Wel­pe wird gedreht, der Wel­pe hängt kopf­über – und wenn die Zeit gekom­men ist, dann wagt er sich auch selbst­be­wusst in die Welt jen­seits der Wurf­kis­te hin­aus. 

Drei Wochen alt, haben unse­re Wun­der­kin­der gera­de damit begonnen.

Das dritte Fotoshooting …

… und was in und um die Wurfkiste passiert.

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