Gottgegebene Talente: über Wunderkinder und Wesensentwicklung – und was der Züchter während der Welpenaufzucht tut, um beides zu unterstützen.
One thing I like about jazz, kid,
is that I don’t know what’s going to happen next. Do you?
Bix Beiderbecke (1903–1931)
Am Morgen des 4. Juli 1910 trug Agatha J. Beiderbecke ein Grinsen vor sich her, das sich kaum übersehen ließ. Die neueste Ausgabe des Davenport Democrat unter den linken Arm geklemmt, schlenderte sie die Grand Avenue hinunter – und wem das breite Grinsen nicht auffiel, der wunderte sich doch über die hüpfenden Schritte der fast vierzigjährigen Frau des ortsansässigen Kohlenhändlers. Um der guten Laune der vierfachen Mutter nachzuspüren, hätte es allerdings schon genügt, einen Blick auf die Titelseite der Zeitung zu werfen, die sie stolz mit sich trug. »Ein siebenjähriger Junge, ein musikalisches Wunderkind«, stand dort in großen Buchstaben zu lesen. »Der kleine Bickie Beiderbecke spielt jedes Stück, das er hört«, folgte ein wenig kleiner darunter.
Dass das dritte von vier Kindern – der Junge wurde auf Wunsch des deutschstämmigen Vaters auf den schwergewichtigen Namen Bismarck getauft – noch ein wenig mehr musikalisches Talent besaß, als die übrigen, war bereits früh aufgefallen. Schon als Zweijähriger hatte er damit begonnen, auf dem Klavier seiner Mutter zu klimpern, die der Familie ein schmales Zubrot als Klavierlehrerin verdiente – und weil er sein Gehör auch bei den Klavierstunden der älteren Schwester schulen konnte, spielte er mit drei Jahren bereits Liszt. Dass der kleine Bickie niemals gelernt hatte, Noten zu lesen, und selbst im Grundschulalter noch auf einem Wörterbuch sitzen musste, um die Tasten des Klaviers zu erreichen, tat seinem Ruf als Wunderkind keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, war er schon über die Nachbarschaft hinaus als solches bekannt, als er mit sechs Jahren an der Tyler Grade School in Davenport, Iowa, eingeschult wurde.
Agatha J. Beiderbecke war also stolz. Womöglich wäre sie noch stolzer gewesen, hätte sie am Morgen dieses 4. Juli 1910 bereits geahnt, dass der schmächtige Junge einmal als erster einflussreicher weißer Jazzmusiker in die Geschichte eingehen sollte. Weil derselbe zu diesem Zeitpunkt aber noch lange nicht die Ausflugsdampfer für sich entdeckt hatte, die nur wenige Blocks von der Grand Avenue entfernt auf dem Mississippi kreuzten – weil er noch nie am Ufer gestanden und dieser neuen, schwarzen Musik gelauscht hatte, die mit dem Wind herübergetragen wurde –, war von Jazz auch noch keine Rede. Er war ein Wunderkind. Ihr Wunderkind. Ein wenig störrisch, bisweilen, aber mit einem Talent gesegnet, das sich bloß als gottgegeben bezeichnen ließ.
Es lässt sich darüber streiten, welche Verhaltensweisen eines Hundes erlernt und welche angeboren sind. Während der wissenschaftliche Diskurs sich in der Vergangenheit im Wesentlichen auf die Genetik konzentriert und das Lernverhalten vernachlässigt hat, kommt Letzterem tatsächlich eine viel größere Bedeutung zu. Abgesehen von den rassetypischen Eigenschaften – dem Jagdverhalten eines Deutsch Drahthaars, beispielsweise, oder dem Hüteverhalten eines Border Collies –, ist die Entwicklung und Ausprägung individueller Wesensmerkmale zumeist auf die Lerngeschichte jedes einzelnen Hundes zurückzuführen. Wie selbstbewusst ein Hund interagiert – wie ausgeglichen, aggressiv oder schreckhaft er in bestimmten Situationen reagiert –, und wie gut er Stress verarbeiten kann, hängt also vielmehr mit der Lebenswelt zusammen, in die er geboren wird. Oder anders: Hätte Agatha J. Beiderbecke das Talent ihres Sohnes nicht frühzeitig erkannt und hätten die musikalischen Traditionen der Familie es nicht erlaubt, den Jungen entsprechend zu fördern, wäre aus ihm dann das gleiche Wunderkind geworden?
Die ersten Lebenswochen eines Welpen sind also entscheidend – wobei nicht vergessen werden darf, dass die Lerngeschichte eines Hundes nicht beendet ist, wenn er die Zuchtstätte verlässt, und die Vorarbeit des Züchters immer sinnvoll weitergeführt werden will. Im besten Fall hat der Züchter als erster menschlicher Fürsorgegarant aber eine entwicklungsgerechte Aufzuchtumwelt geschaffen. Er hat dem Welpen emotionale Sicherheit gegeben und ihm – ohne Überbehütung, aber auch ohne Überforderung – zur Entfaltung der Eigenaktivität verholfen. Nestwärme, zum einen. Milder Frühstress, zum anderen.
Das beginnt schon am Tag der Geburt – mit der Entscheidung, nur dort zu unterstützen, wo es zwingend notwendig ist. Während der Einsatz von Rotlicht in den ersten Lebenswochen beispielsweise gerne damit begründet wird, das Wohlbefinden zu steigern, wirkt er sich viel eher nachteilig aus: die künstliche Nestwärme verhindert das soziale Kontaktliegen – und beschneidet den Welpen somit nicht nur in seiner psychischen Entwicklung, sondern auch in der Möglichkeit, durch Eigenaktivität zum Erfolg zu kommen. Unterstützen sollte der Züchter viel eher durch die gezielte Ansprache des Gleichgewichtssinns, die unabhängig von Seh- und Hörfähigkeit schon in den ersten Lebenswochen durch einfache, stressauslösende Übungen und Reize möglich ist: der Welpe wird gedreht, der Welpe hängt kopfüber – und wenn die Zeit gekommen ist, dann wagt er sich auch selbstbewusst in die Welt jenseits der Wurfkiste hinaus.
Drei Wochen alt, haben unsere Wunderkinder gerade damit begonnen.
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