Moral und Mitgefühl – und was das Zusammenleben mit einem Hund uns über beides lehren kann: unserem G-Wurf zum vierten Geburtstag.

Eigent­lich soll­te die nach­ste­hen­de Erzäh­lung – so wie die meis­ten, die ich anläss­lich der Geburts­ta­ge unse­rer Wür­fe geschrie­ben habe – bloß eines wer­den: kurz. Dass sie ganz im Gegen­teil ein wenig zu lang gera­ten ist, hat einer­seits mit ihrem Gegen­stand zu tun: dem Phi­lo­so­phen und Poli­ti­ker John Stuart Mill, der im vik­to­ria­ni­schen Eng­land gelebt hat, und der als einer der Vor­den­ker der moder­nen Tier­rechts­be­we­gung gilt. Zu weni­ge Wor­te hät­ten sei­ner Per­son ein­fach nicht gerecht wer­den kön­nen. 

Ein ande­rer Grund ist aber sicher­lich auch, dass dies die ers­te Erzäh­lung ist, die ich mit­hil­fe von künst­li­cher Intel­li­genz geschrie­ben habe. Die grund­le­gen­de Struk­tur wur­de dabei anhand eines Ein­ga­be­be­fehls (»Schrei­be eine fik­ti­ve Geschich­te, bei der sich ein bekann­ter Phi­lo­soph mit einem Hund unter­hält«) durch die künst­li­che Intel­li­genz erstellt und im dia­lo­gi­schen Aus­tausch wei­ter aus­ge­ar­bei­tet. Das soge­nann­te »Trai­ning« der KI ersetzt zwar nicht die eige­ne Hal­tung und Krea­ti­vi­tät – das lässt sich durch­aus mit der Arbeit mit einem Hund ver­glei­chen –, führt aber zu detail­lier­te­ren Ergeb­nis­sen: je prä­zi­ser die Befeh­le (»Prompts«) gewählt wer­den, des­to zufrie­den­stel­len­der fällt die Arbeit mir der KI aus. Auch das dürf­te Hun­de­be­sit­zern nicht fremd sein.

Das Stu­dier­zim­mer des Hau­ses wies zur Stra­ße hin, auf der am frü­hen Mor­gen schon geschäf­ti­ges Trei­ben herrsch­te. Zwei­spän­ni­ge Kut­schen rum­pel­ten über das regen­nas­se Pflas­ter, und dazwi­schen has­te­ten Dienst­bo­ten von einer Stra­ßen­sei­te zur ande­ren, um eili­ge Besor­gun­gen zu erle­di­gen. 

Auch John Stuart Mill, der in sei­nem Stu­dier­zim­mer über sei­nem neu­es­ten Essay brü­te­te, hat­te das Dienst­mäd­chen des Hau­ses zu Besor­gun­gen aus­ge­schickt. Tags zuvor schon war ihm die Tin­te aus­ge­gan­gen – und weil auf dem Weg durch die Vic­to­ria Street, an deren Ende sich der nächst­ge­le­ge­ne Schreib­wa­ren­han­del befand, ohne­hin die Apo­the­ke an der Ein­mün­dung zur Orchard Street pas­siert wer­den muss­te, hat­te er ihr auf­ge­tra­gen, auch ein neu­es Fläsch­chen der Opi­um­tink­tur zu erwer­ben, die so zuver­läs­sig jeden Kopf­schmerz ver­trieb. »Lau­da­num« hat­te er dem Mäd­chen also auf den Zet­tel geschrie­ben, bevor es das Haus ver­ließ, und sie im Gehen noch ange­wie­sen, die Haus­tür offen ste­hen zu las­sen: »Womög­lich wird ein wenig fri­sche Luft auch schon genü­gen, um die­se elen­den Schmer­zen zu vertreiben!«

Ein Jahr war ver­gan­gen, seit­dem Mill sein Amt als Abge­ord­ne­ter des Wahl­be­zirks West­mins­ter im bri­ti­schen Par­la­ment ange­tre­ten hat­te. Obwohl er sich selbst immer wie­der ver­si­cher­te, das Amt bloß zum Wohl der Gemein­schaft ange­nom­men zu haben und kei­nen per­sön­li­chen Nut­zen dar­aus zie­hen zu wol­len, belas­te­te ihn die feind­se­li­ge Ableh­nung, mit der die weni­ger libe­ra­len Abge­ord­ne­ten sei­nen Ideen begeg­ne­ten. Die Unter­stüt­zung für den Antrag zum Frau­en­wahl­recht, den fast fünf­zehn­hun­dert Frau­en gezeich­net hat­ten, bevor er von Mill im Juni des­sel­ben Jah­res auf das Drän­gen sei­ner Stief­toch­ter ins Par­la­ment ein­ge­bracht wor­den war, hat­te sich zu sei­nem Erstau­nen zwar nicht nur auf ein poli­ti­sches Lager beschränkt, war aber den­noch erfolg­los geblie­ben. Trotz sei­ner fes­ten Über­zeu­gun­gen fühl­te er sich oft allein in einem Meer von Wider­spruch und Gleich­gül­tig­keit. Auch die Kopf­schmer­zen, die ihm seit Wochen zusetz­ten, schie­nen daher zu rüh­ren. 

»Aber die­se phy­si­schen Beschwer­den«, hat­te er Car­lyle kürz­lich in einem der Brie­fe gestan­den, die er dann und wann noch mit dem Schrift­stel­ler aus­tausch­te, »die­se Beschwer­den sind nichts im Ver­gleich zu mei­nen mora­li­schen Qua­len«. Mill und Car­lyle waren ein­an­der über vie­le Jah­re freund­schaft­lich ver­bun­den gewe­sen – dar­an hat­te weder die kon­ser­va­ti­ve Hal­tung, noch die poli­ti­sche Über­zeu­gung des Schrift­stel­lers etwas ändern kön­nen –, hat­ten sich aber auf­grund der Tat­sa­che, dass Car­lyle sich nur zu ger­ne an dem bös­ar­ti­gen Tratsch betei­ligt hat­te, der schon lan­ge vor der Ehe­schlie­ßung der Ehe­leu­te Mill im Umlauf gewe­sen war, zuse­hends von­ein­an­der ent­frem­det. »Das ein­zig erfreu­li­che Gefühl, das ich mit ihrem Tod ver­bin­den kann, ist, dass ich seit die­sem Tag nie wie­der ein sol­ches Maß an Schmerz und Ver­lust erlebt habe«, hat­te er Car­lyle nach dem Tod von Har­riet anver­traut, der sich im Dezem­ber bereits zum ach­ten Mal jäh­ren wür­de. Der­sel­be hat­te bloß nichts­sa­gend genickt. Und ihr Aus­tausch war ober­fläch­lich geblieben.

Er hat­te sich gera­de wie­der an den Schreib­tisch am Fens­ter gesetzt, als sein Blick auf den zot­te­li­gen Hund fiel, der sich unbe­merkt einen Weg ins Haus gebahnt hat­te. Ver­blüfft, aber nicht abge­neigt, streck­te Mill sei­ne Hand aus, um den Hund her­an­zu­win­ken. Der Hund, der den phi­lo­so­phi­schen Geist des Hau­ses offen­bar erkannt hat­te, setz­te sich vor Mill und starr­te ihn mit klu­gen Augen an. »Was ver­schafft mir die Ehre dei­nes Besuchs, mein treu­er Freund?«, frag­te Mill den Hund. Und obwohl ihm die Fra­ge bei­na­he wahn­wit­zig erschien – der Hund wür­de ohne­hin nicht dar­auf ant­wor­ten kön­nen –, setz­te er noch hin­zu: »Hat Har­riet dich geschickt?«

Tat­säch­lich konn­te der Hund nicht spre­chen, aber sein Blick schien eine Ver­bin­dung zwi­schen ihren See­len her­zu­stel­len. Nicht weni­ge Schrif­ten, die Mill im Lauf sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Kar­rie­re ver­fasst hat­te, hat­ten das Tier als füh­len­des Wesen her­aus­stel­len wol­len, das, dem Men­schen nicht unähn­lich, zu Freu­den und Lei­den fähig war. War­um soll­te also die­ser Hund nicht in der Lage sein, dem Lei­den sei­nes mensch­li­chen Gegen­übers nach­zu­spü­ren? Sei­ne Neu­gier war geweckt. »Komm, wir wer­den gemein­sam nach drau­ßen gehen«, sag­te er.

Die Glo­cken von West­mins­ter Abbey läu­te­ten neun Uhr, als sie das Haus ver­lie­ßen. Wäh­rend Mill die Tür hin­ter sich schloss und den Blick unschlüs­sig schwei­fen ließ, steu­er­te der Hund ziel­si­cher eine der Gas­la­ter­nen an, die sich ent­lang der Stra­ße auf­reih­ten, und hob das Bein. Mill ließ den Geh­stock, den ein sil­ber­ner Knauf in Gestalt eines Löwen­kop­fes zier­te, von der einen in die ande­re Hand wech­seln und folg­te schließ­lich dem Hund. »Ver­zei­hung«, rief er den Pas­san­ten im Lauf­schritt ent­ge­gen, die sich dicht auf dem Geh­steig dräng­ten, um nicht den Anschluss an den Hund zu ver­lie­ren. Fast hät­te er den­sel­ben am Abzweig zur Tot­hill Street ein­ge­holt, als die­ser zwi­schen zwei Pfer­de­fuhr­wer­ken flink die Stra­ßen­sei­te wech­sel­te. Mill, der es ihm gleich­tun woll­te, stieß mit einem Zei­tungs­ver­käu­fer zusam­men. »Gift­mi­scher von Hertford ange­klagt«, schrie der­sel­be ihm laut­hals eine der Schlag­zei­len des Tages hin­ter­her, »jun­ge Frau aus Albu­ry stirbt nach einer Kur mit Opi­um und Arsen!«

Über Storey’s Gate gelang­ten sie schließ­lich zum St. James’s Park. Mill dach­te, dass er viel zu sel­ten die Gele­gen­heit nutz­te, um ohne beson­de­ren Grund durch die Stadt zu spa­zie­ren, und womög­lich, weil sich das Laub der Bäu­me schon zu fär­ben begon­nen hat­te, fiel ihm auf, wie viel Zeit er auch in die­sem Jahr schon ver­lo­ren hat­te. Der brei­te Weg war von hohen Bäu­men gesäumt, hin­ter denen sich die spie­geln­de Ober­flä­che eines lang­ge­zo­ge­nen Teichs abzeich­ne­te. Der Hund lief vor­aus, dem Was­ser ent­ge­gen, und schreck­te ein Enten­pär­chen auf, das im nied­ri­gen Bewuchs des Ufers Schutz gesucht hat­te. Wäh­rend die Enten über den Teich glit­ten und der Hund vorn­über gebeugt sei­nen Durst still­te, fass­te Mill eine der Bän­ke ins Auge, die ent­lang des Weges stan­den, und ließ sich mit einem zufrie­de­nen Seuf­zen dar­auf nie­der. Durch das lich­te Laub der Bäu­me konn­te er die Dächer des Palasts erken­nen, der seit dem Tod des Prinz­ge­mahls vor fünf Jah­ren aber wie ein Geis­ter­haus schien. Erst im Früh­jahr die­sen Jah­res hat­te man die Köni­gin wie­der zu Gesicht bekom­men – nur wider­wil­lig war die schwar­ze Wit­we von Wind­sor zur Par­la­ments­er­öff­nung von ihrem Land­sitz auf der Isle of Wight ange­reist –, ob die Mon­ar­chin sich ohne ihren Albert aber jemals wie­der in Lon­don hei­misch füh­len wür­de, war unge­wiss. »Ach, Har­riet«, seufz­te Mill.

Nach der Hoch­zeit waren sie nach Black­heath Park in Green­wich gezo­gen, weit weg von dem Gere­de in den groß­bür­ger­li­chen Salons. Hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand hat­te man schon lan­ge vor der Ehe­schlie­ßung über die unge­hö­ri­ge Bezie­hung gespro­chen, die Mill mit der ver­hei­ra­te­ten Har­riet Tay­lor ver­band. Nach­dem sie den Schritt gewagt und Ja zuein­an­der gesagt hat­ten – John Tay­lor, Har­riets ers­ter Ehe­mann, war zwei Jah­re zuvor ver­stor­ben –, schlug das Getu­schel aber in offe­ne Feind­se­lig­keit um. Mill konn­te sich nicht mehr dar­an erin­nern, wel­cher sei­ner Brü­der das Wort gegen ihn erho­ben hat­te, als er sein Ansin­nen kund­tat, mit Har­riet in das Haus am Ken­sing­ton Squa­re ein­zie­hen zu wol­len, in dem die Fami­lie seit mehr als zwan­zig Jah­ren gelebt hat­te. Er erin­ner­te sich aber, dass sich das Licht der Gas­la­ter­nen in den Pfüt­zen auf dem Pflas­ter spie­gel­te, als man ihm und sei­ner Ange­trau­ten die Türe wies. Dass er gera­de jetzt an Black­heath Park den­ken muss­te, über­rasch­te ihn nicht, denn die aus­ge­dehn­ten Grün­flä­chen des St. James’s Park boten eine gewis­se Ähn­lich­keit zu denen, die das Haus mit den hohen wei­ßen Säu­len umge­ben hat­ten, dass sie dort drau­ßen gemein­sam mit Helen, Har­riets jüngs­ter Toch­ter, bezo­gen hat­ten. Er dach­te dar­über nach, wie sehr Har­riet die Natur geliebt hat­te und wie oft sie gemein­sam durch die Gär­ten und Parks spa­ziert waren, wäh­rend sie ihre Ideen zu Bür­ger­rech­ten und sozia­len Refor­men dis­ku­tier­ten. Wie sehr er doch ihre Dis­kus­sio­nen vermisste!

»Was denkst du über Ethik, mein Freund?«, frag­te Mill den Hund, als die­ser freu­dig zu ihm zurück­kehr­te. »Glaubst du, dass es eine objek­ti­ve Moral gibt, der alles, das lebt, unter­wor­fen wer­den kann, oder dass alles rela­tiv ist, und mora­li­sche Regeln immer wie­der neu ver­han­delt wer­den müs­sen?« Der Hund ant­wor­te­te nicht, doch sein auf­merk­sa­mer Blick schien die phi­lo­so­phi­schen Gedan­ken sei­nes Gegen­übers zu ergrün­den. 

»Und was ist mit Frei­heit«, fuhr Mill fort, »glaubst du, dass wir alle das Recht auf Frei­heit und Selbst­be­stim­mung haben soll­ten, ganz gleich, wel­cher Art, wel­cher Ras­se, wel­chem Geschlecht wir ange­hö­ren?« Der Hund wedel­te mit dem Schwanz und sprang aus­ge­las­sen her­um. »Ja, mein Freund, du hast recht«, lach­te Mill, »viel­leicht liegt die Moral nicht in kom­ple­xen phi­lo­so­phi­schen Theo­rien, son­dern in den ein­fa­chen Freu­den, die wir im Leben fin­den«. Er erin­ner­te sich an Debat­ten, die er in sei­ner Jugend mit dem lan­ge schon ver­stor­be­nen Bent­ham über den Schutz von Arbei­tern in Fabri­ken und Minen oder die Abschaf­fung der Skla­ve­rei geführt hat­te, und er konn­te nicht anders, als Par­al­le­len zur Behand­lung von Tie­ren zu zie­hen. Hat­te der­sel­be ihn damals nicht auch dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass ein aus­ge­wach­se­ner Hund ver­gli­chen mit einem Säug­ling viel eher zur Ver­nunft begabt war? »Wenn wir das Glück ande­rer Lebe­we­sen för­dern kön­nen, dann soll­ten wir es tun, denn es trägt zu unse­rem eige­nen Glück bei«. 

Wie­der wedel­te der Hund mit dem Schwanz und Mill fühl­te eine gewis­se Befrei­ung. Er konn­te sei­ne Gedan­ken frei äußern, ohne sich um die Kri­tik oder das man­geln­de Ver­ständ­nis ande­rer Men­schen zu sor­gen. »Wenn eine Hand­lung das Glück der meis­ten Men­schen för­dert«, sag­te er, hielt dann aber inne und setz­te von Neu­em an, »wenn eine Hand­lung die meis­ten Lebe­we­sen glück­lich macht und das Lei­den mini­miert, dann ist sie mora­lisch rich­tig. Wenn nicht, ist sie falsch«. Zufrie­den tät­schel­te er dem Hund den Kopf.

Schließ­lich kehr­ten sie in die Vic­to­ria Street zurück, und der Hund ver­ab­schie­de­te sich genau­so plötz­lich, wie er gekom­men war. Mill sah ihm nach, dank­bar für die uner­war­te­te Unter­bre­chung, und gab sich an sei­nem Schreib­tisch unmit­tel­bar dar­an, sei­ne Emp­fin­dun­gen zu Papier zu brin­gen. »Ein uner­war­te­ter, aber äußerst will­kom­me­ner Gefähr­te hat mich heu­te auf mei­nem Spa­zier­gang durch den St. James’s Park beglei­tet«, begann er den Ein­trag in sei­nem Tage­buch. »Ein leben­di­ger Beweis für das, was ich in mei­nen Schrif­ten so oft betont habe – dass die Gren­zen der Moral und des Mit­ge­fühls nicht bei der Spe­zi­es enden, son­dern bei der Fähig­keit zu füh­len und zu emp­fin­den. Die­ser Hund, ein stil­ler Phi­lo­soph, gab mir in sei­ner Gegen­wart das Gefühl weni­ger ein­sam, weni­ger abge­schnit­ten von der Welt zu sein.« Sein Blick fiel auf das Fläsch­chen Lau­da­num, dass das Dienst­mäd­chen auf einem Bücher­sta­pel an der Ecke des Schreib­tischs abge­stellt hat­te, und mit einer weit aus­ho­len­den Bewe­gung feg­te er es mit dem Hand­rü­cken her­un­ter. »Ich bin glück­lich«, schrieb er, »ich bin frei«. Er dach­te an den Hund. Und lächelte.

Mit den bes­ten Wün­schen für Runa, Geth­si, Guc­ci, Dig­ger, Fire und Ghost: lasst euch von euren Men­schen fei­ern und habt gemein­sam einen beson­ders glück­li­chen Tag!

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