Unsere zweite Urlaubswoche in Schottland: mehr Berge und Moore, Burgen und Schlösser – und noch mehr Möglichkeiten, nass zu werden.
‘Come all ye’, the country says.
You win me, who take me most to heart.
Kathleen Jamie
Beste Reisezeit
Wer Wärme sucht, reist im August. Wer wenig Regen will, im Mai und Juni. Auf wechselhaftes Wetter muss man aber trotzdem eingestellt sein – insbesondere, wenn die Reise an die schottische Westküste geht. Die sonnigen 20 Grad, die man an dem einen Tag genießt, haben sich nicht selten am folgenden schon wieder halbiert – und wenn der Wind kalt über die kahlen Höhen weht, ist man dankbar, neben der Regenjacke auch den warmen Pullover im Rucksack zu haben.
Lange Kleidung bietet darüber hinaus weit weniger Angriffsfläche für die Highland Midges – einer Bartmückenart, die von Mai bis September bei feucht-warmer Witterung insbesondere in der Morgen- und Abenddämmerung in Schwärmen auftritt, und nicht nur dem Zweibeiner den Urlaub vermiesen kann.
Sunday, 28th May
Um vier Uhr klingelt der Wecker. Das nicht, weil sich der Old Man of Storr in den frühen Morgenstunden am besten fotografieren lässt. Nein, viel mehr, um den Aufstieg zu der schon von Weitem sichtbaren Felsnadel noch vor dem Anstrom der Menschenmassen bewältigen zu können, die das Wahrzeichen der Isle of Skye tagtäglich besuchen. Tatsächlich ist der kostenpflichtige Parkplatz noch leer, als wir dort ankommen. Der Weg hinauf zum Plateau ist gut ausgebaut, so dass es trotz einiger steiler Passagen gelingt, die 350 Höhenmeter zum Aussichtspunkt in weniger als einer Stunde zu erklimmen. Trotz des trüben Wetters entschädigt der Ausblick für die Mühen – und die Tatsache, dass sich der Parkplatz nach einer weiteren Stunde, die wir für den Abstieg benötigen, bereits zu füllen begonnen hat, für das frühe Aufstehen.
Ein halbe Stunde folgen wir der Küstenstraße daraufhin bis Staffin – und verpassen aufgrund der verwitterten Beschilderung beinahe die Single Track Road, die zum Quiraing abzweigt. Weil die Wanderung durch das Felslabyrinth mit vier Stunden recht lang ausfällt und an den abschüssigen Hängen einige Passagen überwunden werden müssen, die für die Hunde zu schwierig sein könnten, entscheiden wir, uns ohne dieselben nur das erste Wegstück vorzunehmen, und bei der – The Prison genannten – Felsformation am Horizont kehrt zu machen. »Eine halbe Stunde hin, eine halbe zurück«, sage ich noch, als ich den Kamerarucksack schultere, »was soll da schon schief gehen?«
Der Parkplatz ist schon wieder in Sichtweite, als es passiert. Gerade noch habe ich von einer Anhöhe aus ein Schaf fotografiert, das sich vor der – wie so oft in Schottland: aus zahlreichen Filmen bekannten – Kulisse in Pose geschmissen hat, gerade noch haben wir gescherzt, dass nur der Handler mit der Ausstellungsleine fehlt, um das Bild zu komplettieren. Dann ein unvorsichtiger Schritt, ein hörbares Knacken – und ein stechender Schmerz in meinem rechten Sprunggelenk. Fast augenblicklich habe ich das Gefühl, dass mir der Fuß aus dem Wanderstiefel quillt, und schaffe es nur mit zusammengebissenen Zähnen, das verbleibende Wegstück bis zum Parkplatz hinter mich zu bringen. »Talisker Bay können wir vergessen«, stöhne ich, während ich den schon dick angeschwollenen Fuß aus dem Schuh befreie, »und die Fairy Pools, zu denen wir vor der Abreise noch wandern wollten, wohl auch«. Ein Grund, um wiederzukommen, zweifelsohne. Aber keiner, der mich gerade wirklich glücklich macht.
Wednesday, 31st May
Wenn man den langgezogenen Loch Awe einmal umrundet – selbst mit dem Auto kann das mehr als zwei Stunden in Anspruch nehmen –, sind es vor allem zwei Bauwerke, die an den Ufern ins Auge fallen. Das eine weithin sichtbar auf einer Landzunge gelegen, die in den See hinein ragt, das andere so gut im dichten Grün versteckt, dass es im Vorbeifahren leicht übersehen wird: Kilchurn Castle und St Conan’s Kirk. »Ich kann morgen früh auch alleine um den See fahren, wenn du nicht vor Sonnenaufgang aufstehen willst«, hatte ich am Vorabend gesagt. Dirk hatte das letzte Stückchen Black Pudding nachdenklich durch die Soßenreste auf seinem Teller kreisen lassen. Dann hatte er zufrieden genickt: »Fahr’ ruhig alleine, mit den Hunden steh’ ich dir dort ohnehin nur im Weg«.
Von unserem Ferienhaus auf der gegenüberliegenden Seite des Sees braucht es eine gute Stunde, bis sich die im vierzehnten Jahrhundert durch Sir Colin Campbell, den ersten Lord von Glenorchy, erbaute Burg in mein Blickfeld schiebt. Die Lage allein ist schon beeindruckend – und das nicht nur, weil sich die hoch aufragenden Mauern und Türme der Ruine am frühen Morgen in der glatten Oberfläche des Sees spiegeln, sondern auch, weil die sich anschließenden Hügel im ersten Tageslicht in Flammen zu stehen scheinen. Der eindrucksvolle Blick lässt sich vom gegenüberliegenden Ufer – den Kilchurn Grazings, zu denen ein ausgetretener Pfad von der Landstraße abzweigt – noch viel besser genießen. Nachdem das Stativ aufgebaut worden ist – bis auf zwei Angler, die in einiger Entfernung ihre Zelte aufgeschlagen haben, sind es nur Schafe, die mir Gesellschaft leisten –, steuere ich den breiten Parkplatz an, von dem ein kurzer Wanderweg unter der Eisenbahnbrücke hindurch auf die Landzunge führt. Dieselbe ist erst im 19. Jahrhundert entstanden – der Wasserspiegel des Sees wurde 1817 durch einen verbreiterten Abfluss zum Glen Etive deutlich gesenkt –, zur Zeit ihrer Erbauung befand sich die Burg also noch auf einer Insel. Ich wandere einmal um das Gemäuer herum – der Burghof ist derzeit wegen Instandhaltungsarbeiten gesperrt –, und schließlich auf dem gleichen Weg zurück.
Am Nachmittag machen wir uns noch einmal gemeinsam auf Weg und umrunden den See in entgegengesetzter Richtung. Das schöne Wetter hat etliche Radfahrer auf die Straße gelockt – es braucht also noch ein wenig länger, bis wir bei dem merkwürdigen, kleinen Kirchenbau ankommen, der Dirk schon an unserem ersten Urlaubstag ins Auge gefallen ist. »Nachdem die Gegend im späten 19. Jahrhundert durch den Bau der Eisenbahn erschlossen wurde, kauften wohlhabende Städter hier viele Ländereien«, sage ich, als wir aus dem Auto aussteigen, das wir an der Straße im Schatten geparkt haben, »Walter Douglas Campbell, der jüngere Bruder des ersten Lord Blythswood, war einer davon. Zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester bezog er ein stattliches Herrenhaus auf Innischonain – der kleinen Insel, an der wir eben vorbeigefahren sind –, und weil der Mutter der Weg bis zum nächstgelegenen Gotteshaus zu weit schien, ließ er kurzerhand ein neues nach seinen eigenen Vorstellungen bauen«. Dass der Bauherr sich dabei nicht nur einem Baustil verpflichtet fühlte – dass er, ganz im Gegensatz, nach architektonischem Gutdünken all das einsammelte, was ihm aus schottischen Kirchen und Klöstern verschiedenster Epochen bekannt war –, wird schon offenbar, als wir den Kreuzgang betreten. Willkürlich wechseln sich die Stile ab – hier romanisch, dort normannisch –, und während wir durch das Kirchenschiff wandeln, dem zu allen Seiten noch weitere Kapellen angegliedert sind, stoßen wir immer wieder auch auf keltische Spuren. Am deutlichsten wird das vielleicht in der Kapelle des Heiligen Conval, in der Walter Douglas Campbell und seine Schwester unter dem in Stein gehauenen, liegenden Abbild des Erbauers ruhen, und in der die Zeit der verschlungenen keltischen Ornamentik einen zarten, grünen Anstrich verpasst hat. »Das könnte genauso auch im Phantasialand stehen«, meint Dirk. Und hat damit Recht, irgendwie.
Thursday and Friday, 1st and 2nd June
Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, warum die Campbells von Argyll in Schottland über die Jahrhunderte verhasst waren, wenn man durch die prächtig ausstaffierten Salons und Säle wandelt, die sich unter dem hoch aufragenden Dach von Inveraray Castle verbergen. Der Clan Campbell besaß nicht nur Macht und Einfluss, er sammelte durch geschickten Handel auch zahlreiche Ländereien ein, auf denen sein Reichtum gründete. Eben jener spiegelt sich auch in dem Schloss wieder, das nach Plänen der Architekten Roger Morris und William Adam zwischen 1745 und 1790 am Ufer des Loch Fyne im aufkommenden, neugotischen Stil erbaut wurde. Hier sind die Räume mit schweren Wandteppichen ausgeschmückt, die man im Auftrag in Frankreich fertigen ließ, dort funkelt ein Kristallleuchter von der stuckverzierten Decke. Und als ob der allgegenwärtige Glanz von Gold und Brokat nicht schon genügen würde, um den eigenen Machtanspruch zu demonstrieren, wird derselbe in der großen Halle – die sich mit einer Deckenhöhe von über zwanzig Metern die höchste in ganz Schottland nennen darf – noch mit unzähligen Äxten, Schwertern und Musketen zementiert, die an den Wänden arrangiert sind.
Mir fällt bei unserem Rundgang vor allen Dingen eine kleine – fast als unscheinbar zu bezeichnende – Skulptur ins Auge, die unter einem Glassturz ausgestellt ist: Queen Victoria mit ihrem Border Collie Sharp. Dieselbe hat Inveraray Castle im September 1875 mit einer ganzen Meute ihrer Hunde für eine ganze Woche besucht. Weil Hunde im Schloss und den umgebenden Gärten heute aber nicht mehr gerne gesehen sind, und unsere fünf Border Collies im Auto warten müssen, beschränken wir uns auf zwei Stunden.
Auch Skipness Castle, das wir am folgenden Tag besuchen, landete im Laufe der Jahrhunderte in den Händen der Campbells. Mit dem Bau der Burg am Kilbrannan Sound wurde im 13. Jahrhundert durch den Clan McSween begonnen, der jenseits der Meerenge auch das Lochranza Castle auf der Isle of Arran unterhielt. Beide Schlösser konnte der Clan aber nicht sonderlich lange halten. Nachdem sich die Norweger nach der Schlacht von Largs aus Schottland zurückgezogen hatten und die westschottischen Inseln, die seit dem 9. Jahrhundert unter norwegischer Oberhoheit gestanden hatten, Teil des schottischen Königreichs unter Alexander III. wurden, entschied eben jener, den Clan zu enteignen – man hatte im Krieg den falschen König unterstützt – und seine Besitztümer an Walter Bailloch aus dem Hause Stewart zu übergeben. Aber auch der hatte nicht lange Freude daran: nur wenige Jahrzehnte später bezogen die MacDonalds die Burg. Die neuen Besitzer zeichneten in den folgenden zweihundert Jahren nicht nur für den Ausbau der Burg verantwortlich, sondern ließen an der Küste auch eine neue Kapelle errichten: St Brendan’s Chapel.
»Und noch ein Campbell«, sage ich zu mir selbst, als ich die verwitterte Inschrift entziffere, die einen der Grabsteine auf dem kleinen Friedhof ziert, von dem die Kapelle umgeben ist. Dass sich zwischen den moosbewachsenen keltischen Kreuzen so viele Grabstätten finden, die auf den Namen der Familie lauten, ist kaum verwunderlich: seit 1502 haben sich die Ländereien im Osten der Halbinsel Kintyre in deren Besitz befunden. Selbstvergessen bleibe ich zwischen den Steinen sitzen – die Sonne brennt vom Himmel und ein satter Salzgeruch liegt in der Luft –, und nicht nur der schmerzende Fuß redet vom Bleiben. Weil es Dirk und die Hunde aber an den Strand lockt, brechen wir auf. Zum Glück ist Carradale Beach nicht weit.
Saturday, 3rd June
»Here the crow starves, here the patient stag breeds for the rifle«, schreibt T.S. Eliot 1933, nachdem er durch das Rannoch Moor gewandert ist, »between the soft moor and the soft sky, scarcely room to leap and soar«. Der Dichter muss zweifelsohne einen verregneten Tag für seine Wanderung erwischt haben, denn der düstere, lebensunfreundliche Eindruck, den er in seinem Gedicht wiedergibt, will sich bei mir beim besten Willen nicht einstellen. Das Grün über den Torfsümpfen ist satt, in den unzähligen Seen und Tümpeln spiegeln sich Sonne und Wolken – und der Blick über die Hochebene ist so weit, dass der Platz zum Springen und Schweben unendlich scheint. Das finden im übrigen auch die Hunde.
Ein wenig unwirklich bleibt das Moor, das in seiner Ausdehnung fast 130 Quadratkilometer misst, aber trotzdem. Das wohl, weil das Gebiet für die landwirtschaftliche Nutzung vollkommen ungeeignet ist, und sich nicht einmal Schafe als Zeichen menschlicher Zivilisation ausmachen lassen. Als wir den überfüllten Parkplatz am Rande des Loch Bà hinter uns gelassen haben – einer von vielen entlang der A82, die auf dem Weg ins Glen Coe schnurgerade durch das Rannoch Moor führt –, sind auch wir bald ganz allein unter dem weiten, wilden Himmel. Weil mich das Wolkenspiel hinter jeder Wegbiegung aufs Neue herausfordert, die Kamera auszupacken, wandere ich mit immer größer werdendem Abstand hinter Dirk und den Hunden her – bis auch sie schließlich zu sechs winzigen Punkten irgendwo in der Weite werden. »Substance crumbles in the thin air«, schreibt T.S. Eliot. Das gilt auch für die Zeit, schreibe ich.
Sunday, 4th June
»Der führt zu wenig Wasser«, denke ich, als ich auf der schmalen Brücke stehe, die den River Orchy unterhalb des Eas Urchaidh überspannt. Dort, wo sich der Fluss sonst seinen wild schäumenden Weg über das ausgewaschene Gestein sucht und sich zahlreiche Kaskaden in die Tiefe stürzen, plätschert es nur. »Lohnt sich nicht, das Stativ auszupacken«, sage ich also auch zu Dirk, als ich zu ihm und den Hunden zurückkehre, und wir schließlich den Pfad einschlagen, der am Flussufer entlang ein Stück weit durch das Glen Orchy führt.
Etwas mehr, als zehn Meilen misst das grüne Tal, das in südwestlicher Ausrichtung zwischen dem Loch Tulla und dem Loch Awe liegt. Bis auf einen Schweinebauern ist es nahezu unbesiedelt. Schön ist es trotzdem. Die Flussufer sind mit Eichen bestanden, im Unterwuchs sind im Frühjahr vor allem Farn und Englisches Hasenglöckchen zu finden – und weil auch wir nur hier und da auf einen Angler treffen, der auf Lachs oder Forellen hofft, wird das seichte Plätschern des Flusses nur durch das Bellen der Hunde an einer der vielen Badestellen übertönt.
Das Rauschen wird lauter, als wir uns mit dem Eas a’ Chathaidh einem weiteren Wasserfall nähern. Es erfordert zwar etwas Geschick, um von dem Aussichtspunkt am Wegesrand zu einem der Felsen zu gelangen, die sich über das tiefblaue Becken erheben, in das der Fluss von beiden Seiten stürzt – das Gestein ist rutschig, leicht verliert man den Halt –, die tosenden Wasser vor der Linse entschädigen aber für die Mühen. »From the rim it trickles down off the mountains granite crown clear and cool; keen and eager though it go through your veins with lively flow«, schrieb der Dichter Duncan Ban MacIntyre, der 1724 im Glen Orchy geboren wurde. Blut pulst, das Herz schlägt höher. Zwei Wochen Schottland.
© Johannes Willwacher