Ein Jahresrückblick – und gute Vorsätze für das neue Jahr. Über bellende Hunde, die nichts sehen, und Züchter, die ganz einfach genauer hinschauen müssten.
Oh my!
The Wizard of Oz (1939)
Schon seit einer halben Stunde steht sie wie angewurzelt vor der grünen Hecke. Dass dann und wann einer der anderen Hunde an ihr vorbei läuft, scheint sie kaum zu bemerken. Ihr Blick ist fest auf das undurchdringliche Gewirr von Ästen und Zweigen gerichtet, und würde sie nicht von Zeit zu Zeit den Kopf heben, um ein kehliges Bellen hervorzustoßen, so ließe sich beinahe vermuten, dass sie im Stehen eingeschlafen ist. Sie bellt und schweigt, also. Bellt. Und schweigt wieder. Auch nach einer halben Stunde noch.
»Warum bellst du?«, will schließlich einer der anderen Hunde von der alten Hündin wissen. Erschrocken fährt die Angesprochene herum und kneift die Augen zusammen, um sich ein deutlicheres Bild des Fragestellers machen zu können. Als sich ihre trüben Augen davon überzeugt haben, dass es sich bei diesem nicht um einen Eindringling, sondern bloß um einen der übrigen Hunde handelt, hebt sie schließlich zu Sprechen an. »Wegen der Löwen«, sagt sie mit sich kräuselnden Lefzen, »wegen der Löwen, der Tiger und Bären«. Der andere Hund schüttelt verständnislos den Kopf, denn soweit er sich erinnern kann, ist er keinem der vorgenannten Tiere in diesen Breiten auch nur ein einziges Mal begegnet. Das lässt er also auch die alte Hündin wissen – die ihrerseits bloß den Kopf hebt und ein weiteres Mal bellt. »Was nur beweist, dass mein Bellen wirkt«, antwortet sie.
Ursache und Wirkung
Viele Dinge, mit denen sich Züchter und Züchterinnen im vergangenen Jahr auseinandersetzen mussten, scheinen im Rückblick auf ähnlichen Denkmustern zu beruhen: auf einer angenommenen Kausalität – einer verallgemeinernden Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Zwangsläufig muss in diesem Zusammenhang an erster Stelle die Novellierung der Tierschutz-Hundeverordnung genannt werden, die sich nicht nur weitreichend auf das Ausstellungsgeschehen ausgewirkt, sondern auch zu hitzig geführten Diskussionen in den Rassehundezuchtvereinen geführt hat. Wo steht man im Bezug auf diese oder jene Fragestellung? Was hat man in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unternommen, um das Tierwohl zu verbessern? Und welche Versäumnisse – welche Fehlentscheidungen – gilt es zu beklagen?
Die einen werden nun zweifelsohne anführen, dass zu wenig getan worden ist. Dass Züchter und Züchterinnen über Jahrzehnte die Augen verschlossen haben gegenüber der Gefahr, die von Löwen, Tigern und Bären ausgegangen ist, und dass die Rassehundezucht als solche deshalb nun kaum noch zu retten ist. In den allermeisten Fällen ist diese Annahme allerdings genauso falsch, wie die gegensätzliche, dass man nicht noch mehr hätte tun – nicht noch deutlicher hätte hinschauen – können. Wie also löst man dieses Dilemma? Indem man laut und anhaltend bellt, vielleicht? Oder indem man sich mit klarem Blick davon überzeugt, wo im Dickicht tatsächlich die Raubtiere lauern?
Im Sinne der Gemeinschaft
Es geht also darum, verständig hinzuschauen. Den Ist-Zustands nicht nur mit den eigenen Qualitätsansprüchen und Moralvorstellungen abzugleichen, sondern auch mit denen des Gegenübers. Und schlussfolgernd herauszuarbeiten, welche akute Fragestellung sich – zum Wohle des Tieres und im Sinne der Gemeinschaft – auf welche Weise lösen lässt.
Ganz persönlich hat das vergangene Jahr für mich mit einer ersten Wurfabnahme begonnen, zu der ich im Zuge der Zuchtwartausbildung eine Zuchtwartin unserer Landesgruppe am Neujahrsmorgen begleiten durfte. »Es genügt nicht, dich nur für die Belange deiner eigenen Hunde zu interessieren, oder nur für die Belange der Rasse, die du selbst züchtest«, gab mir jene bei einer der zahlreichen gemeinsamen Wurfabnahmen, die im Laufe des Jahres noch darauf folgen sollten, mit auf den Weg, »du musst deinen Blick schulen, um unabhängig von deinem Gegenüber entscheiden und konstruktiv auf Probleme und Veränderungsbedarfe hinweisen zu können«. Aktive Kritikfähigkeit, also. Während mir im Zuge der Wurfabnahmen zwar mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufgefallen sind – auch dort, wo ich sie kaum vermutet hätte –, bleibt am Ende des Jahres aber doch die Frage, ob es nicht gerade die Fähigkeit zur Selbstkritik ist, von der die Gemeinschaft am meisten profitiert.
Vielleicht wäre das deshalb der beste Vorsatz für das neue Jahr. Hinschauen, statt zu bellen. Die Erkrankungen in den eigenen Linien transparent zu kommunizieren, statt sie in Datenbanken zu verstecken. Den Wesensmangel zu benennen, mit dem diese oder jene Nachzucht aufgefallen ist, und Schlüsse daraus zu ziehen, statt unreflektiert weiter zu produzieren. Und auch die Fähigkeiten der eigenen Hunde selbstkritisch zu hinterfragen, statt sie bloß werbewirksam aufzublasen.
Sehen Sie das?
»Sehen Sie das«, fragt der Richter, als er an den Richtertisch herantritt, hinter dem ich gerade damit befasst bin, die Schleifen zu ordnen, mit denen die vier Hunde bedacht werden sollen, die in der Championklasse um die Platzierungen laufen, »sehen Sie, was ich meine?« Ich schaue auf und lasse den Blick über die Hunde schweifen, die sich am linken Rand des Ausstellungsrings aufgereiht haben. Hier fallen mir unweigerlich die weichen Pfoten auf, dort der Rücken, der sich merklich abzusenken scheint, und gleich bei zweien sind es die Augen, die für die Rasse zu rund, zu wenig mandelförmig geschnitten erscheinen. Ich nicke, also. »Angesichts der Defizite stellt sich doch die Frage, wie es diesen vier Hunden gelungen ist, sich die Anwartschaften für den Championtitel zu erlaufen«, gibt der Richter mit einem Kopfschütteln zurück und wendet sich ab, um die vier Hunde zu platzieren.
Nach fast sechzig Jahren, in denen er als Richter tätig gewesen ist, gehören diese vier Hunde zu den letzten, die er in seinem Amt in Augenschein nimmt, und scheidet er mit der Hundeausstellung in Kassel am zweiten Dezemberwochenende als Richter aus. Ich fühle mich dankbar. Dankbar, ihm nach einem Jahr, in dem zu viel geredet worden ist, ein letztes Mal über die Schulter schauen zu dürfen. Und mich wieder einmal daran erinnern zu lassen, wie wichtig der ungeschönte Blick ist, der sich nicht von modischen Einflüssen beeindrucken lässt, sondern die Gesamtkonstitution des einzelnen Hundes erfasst. Davon profitiert jeder. Ganz gleich, für welchen Bedarf er züchtet. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass noch genauer hingeschaut werden muss, wenn der Bedarf es erfordert, dass der Hund – dass die Rasse – an eben jenen angepasst werden muss. Womöglich sind dann nämlich nicht Richter und Zuchtvereine, sondern ist schlicht und ergreifend der Bedarf das Problem.
Das nehme ich mit aus diesem Jahr. Neben vielen weiteren bereichernden Gesprächen. Neben Begegnugen, die mich in diese oder jene Richtung bewegt, und Menschen, die sich nachhaltig einen Platz in meinem – in unserem – Leben verdient haben. Was kommt?
Wir werden sehen.
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