Zwei Erfolgsgeschichten mit bitterem Beigeschmack: warum Erfolg nur wenige glücklich macht und Liebe allein am Ende doch nicht genügt.
There’s nothing you can do that can’t be done.
The Beatles (1967)
Ich weiß nicht, wie oft mir die Leser*innen unserer Wurftagebücher schon den Vorschlag gemacht haben, ein Buch zu schreiben. Was ich weiß ist aber, dass ich beinahe bei jedem unserer vorangegangenen Würfe mit einem begonnen habe und zahllose angefangene Manuskripte in meinen Schreibtischschubladen liegen. Maßgeblich ist das wohl dem Umstand geschuldet, dass die Welpen in den ersten acht Lebenswochen einen Großteil des Tages mit Schlafen verbringen, und man als Züchter ziemlich tatenlos daneben sitzt, wenn nicht gerade das Welpenzimmer geputzt oder die Wäsche aufgehängt werden will. Bei diesem Wurf habe ich also auch wieder neben dem Welpenauslauf im Garten gesessen, einen stockfleckigen Blindband auf den Knien, und ein Wort nach dem anderen hinein gekritzelt. Auf den Vorschlag, doch einmal ein Buch zu schreiben, kann ich also entgegnen: näher, als mit dem Folgenden, komme ich derzeit nicht dran.
New York City, 1964
Seine Koffer standen vor der Tür. »Worte sind zu banal«, hatte Ellsworth ihm in einem hitzigen Wortgefecht entgegengeschleudert, bevor er ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, »Worte stehen allem entgegen, was Kunst heute noch sein will«. Damit war nicht nur die Diskussion beendet, sondern auch die Beziehung, die Ellsworth und Robert geführt hatten, seit Letzterer vor acht Jahren in das gleiche, baufällige Loft in Lower Manhattan eingezogen war. Der Schlag, mit dem sich die Tür geschlossen hatte, hallte noch durch das hohe, weiß getünchte Treppenhaus nach, als Robert einen der unscheinbaren, braunen Lederkoffer am Griff fasste, und sich – noch unschlüssig, bei welchem befreundeten Künstler er vorübergehend unterkommen könne – daran machte, das Gebäude zu verlassen. Eine Rückkehr zu Ellsworth war ausgeschlossen – das hatte ihm dieser mehr als deutlich gemacht –, und auch, wenn er fraglos zurückkehren musste, um die Bilder und Malutensilien abzuholen, die noch in den Räumen lagerten, war er sich sicher, Ellsworth dort nicht mehr anzutreffen. Er stieg also die Treppen hinunter, zog das schwere Rolltor im Eingangsbereich auf und trat auf die Water Street hinaus.
Die Brooklyn Bridge, die sich im frühmorgendlichen Dunst über der gegenüberliegenden Häuserzeile abzeichnete, war unverändert, blickte unbeeindruckt auf ihn hinab. »Klein und unbedeutend«, dachte Robert – weniger, um sich selbst zu beschreiben, mehr, um die Worte nachklingen zu lassen, mit denen Ellsworth seine neuesten Werke beschrieben hatte. »Das ist nicht Hard Edge, das ist volkstümelnder Blödsinn, den du mit meinen Farben überzogen hast!« Seine Farben. Ihm blieben nur die Worte. Und auch, wenn er gerade keine fand, reifte auf dem Weg, der ihn weg vom Coenties Slip in ein nahegelegenes Diner führte, ein Gedicht in ihm heran, das er hastig auf einer Papierserviette notierte. »My love, my love ist gone to you«, las sich die erste Zeile auf dem fleckigen Papier. »Liebe«, dachte Robert, und kritzelte vier Buchstaben darunter, »L-O-V-E«. So klein und unbedeutend. Und doch so groß.
Zentralasiatische Steppe, 15.000 v. Chr.
Seit vielen Nächten schon konnte man die Wölfe in der Weite heulen hören. Wenn Puk im Mondlicht vor einer der mit Tierhäuten bespannten Behausungen saß, die ihm und seiner Sippe in diesem Sommer als Wohnstatt dienten, schien das wilde Geheul so nah, dass er beinahe erwartete, eines der grauen Tiere aus dem Dunkel auftauchen zu sehen. Gom, der eine Kette aus ausgeblichenen Knochen um seinen breiten, sonnenverbrannten Nacken trug, hatte vor vielen Monden in heller Aufregung berichtet, dass er einen der kleineren Wölfe dabei beobachtet hatte, wie er sich durch den Unrat auf der Halde wühlte. »Einen langen Beinknochen hat er schließlich davon getragen«, hatte Gom gesagt, unschlüssig, ob es sich dabei um die Überreste des braunen Bocks gehandelt hatte, den die Männer auf der Jagd erlegt hatten, oder ob es die alte Rehkuh war, deren Fleisch – trotz aller Kräuter, mit denen die Frauen es zuvor eingerieben hatten – scheußlich geschmeckt hatte. »Wenn wir nicht aufpassen, dann trägt das Scheusal beim nächsten Mal eines der Kinder davon«, hatte Gom seine aufgeregte Rede geschlossen. Beschlossen hatte die Sippe dennoch nichts – und deshalb war es Puk auch noch vergönnt, alleine im Mondlicht am Feuer zu sitzen.
Wie viele Nächte Puk schon dort gesessen, in den sternklaren Himmel geblickt oder gedankenverloren mit einer dünnen Weidenrute in der Glut gestochert hatte, konnte er nicht sagen. Im Gegensatz dazu wusste er aber sehr genau, dass der Wolf, den er mit eigenen Augen zu schauen gehofft hatte, sich nicht hatte blicken lassen. Das Feuer war beinahe schon heruntergebrannt und der Wind, der unentwegt über die weite Steppe blies, hatte zugenommen, als er entschied, es für diese Nacht gut sein zu lassen. Zärtlich tätschelte er den schweren Knüppel, den er gewissenhaft bereitgelegt hatte, um sich vor einem Angriff der Wölfe zu schützen, erhob sich und strich das Bärenfell glatt, das um seine Schultern hing. Er wollte sich gerade anschicken, das geflochtene Seil zu lösen, mit dem der Eingang der Behausung gesichert war, als er ein Knacken aus der Dunkelheit vernahm. Erschrocken fuhr er herum, wissend, seinen Mut zusammen mit dem stolzen Knüppel an der Feuerstelle zurückgelassen zu haben, und erwartete schon, die gefletschten Zähne eines grauen Wolfs zu erblicken, die ihn an der Kehle packen und fort schleifen würden. Doch stattdessen sah er: nichts. Bloß Schwärze, die gleich hinter der verlöschenden Glut des Feuers einsetzte. So tief und dunkel, dass sie auch die Halde verschluckte, die sich in einiger Entfernung hinter einem hohen Felsen befand. »War das Geräusch von dort gekommen?«, fragte sich Puk, nun schon weit weniger ängstlich, viel eher wild entschlossen, dem nachzugehen. Leise schlich er also zu der Feuerstelle zurück, nahm den Knüppel vom Boden auf und machte sich daran, nachzusehen.
Puk erblickte sie zuerst, als er einen Mond später gemeinsam mit Gom und dem alten Tuk auf dem hohen Felsen über der Halde saß. Im letzten Licht der Dämmerung näherten sich drei Wölfe über die Ebene. Drei, auf die weitere folgen sollten. Puk löste den Riemen, der das Bärenfell auf seiner Brust zusammenhielt, ließ die Hand darunter gleiten und zog ein trockenes Stück Fleisch hervor, das er dort aufbewahrt hatte. Als die Wölfe schließlich den Felsen umringten – ihr Anblick längst nicht mehr scheußlich, beinahe schon vertraut – warf er das Fleisch johlend hinunter. »Wer weiß, wozu das noch gut ist«, dachte er.
New York City, 1965
Barr wusste nicht, wann er Indiana zuletzt gesprochen hatte. Die Besprechung einer Ausstellung, an der Indiana mit einigen neuen Bildern teilgenommen hatte, kam ihm in den Sinn – vor einem guten halben Jahr mochte das gewesen sein –, viel mehr, als dass dieser beteiligt gewesen war, hatte der Kritiker der Times aber nicht zu berichten gewusst. Das letzte Lebenszeichen – eine Weihnachtskarte, die der Künstler im Jahr zuvor an Freunde und Bekannte verschickt hatte – lag noch länger zurück.
Weil es Barr in diesem Jahr zugefallen war, das Motiv der Weihnachtskarte des Museum of Modern Art auszuwählen – immerhin das hatte man ihm noch zugestanden, nachdem man ihn als Direktor des Museums von all seinen Funktionen entbunden und zum wissenschaftlichen Berater degradiert hatte –, hatte er sich an die besagte Karte erinnert. Formal war diese nichts Besonderes, eine ungelenke, beinahe willkürlich anmutende Schraffur, die aus den umgebenden Linien ausbrechen zu wollen schien – die vier Buchstaben aber hatten es ihm angetan, weil sie in ihrer schlichten Umsetzung über das schäbige Papier hinaus transzendierten. Indiana, also. Zweifelsohne war dieser kein Warhol, obgleich er mit diesem offenkundig bekannt war und beide schon zusammengearbeitet hatten. Barr erinnerte sich an einen von Warhols Filmen – knapp vierzig Minuten in grobkörnigem Schwarz-Weiß –, der nichts anderes zeigte, als das andächtige Kauen und Schlucken Indianas, der einen Pilz verspeiste. Er besaß aber weder dessen Talent, sich selbst zu inszenieren, noch vermochte es seine Kunst, die Massen zu begeistern. »Das hier ist aber etwas anderes«, dachte Barr, während er die Karte in den Händen hielt, »das hier, das könnte etwas sein!«
Zweimal hatte er bereits vergeblich zum Hörer gegriffen und die Nummer des Ateliers gewählt, in dem Indiana nach Aussage einer gemeinsamen Bekannten derzeit arbeitete, als er den Künstler schließlich erreichte. Weil er zu Mittag einen Tisch im Waldorf reserviert und überdies wenig Lust auf das übliche belanglose Geplänkel hatte, zögerte er nicht lange, Indiana sein Anliegen vorzubringen. Wie er bereits erwartet hatte – nach mehr als vierzig Jahren, in denen Künstler bei ihm ein und aus gegangen waren, sprach er zwar noch immer nicht offen über die hündische Bedürftigkeit, die er den meisten davon unterstellte, setzte dieselbe bei Verhandlungen aber berechnend als gegeben voraus –, zeigte sich Indiana gleich aufgeschlossen. »Das Motiv habe ich im vergangenen Jahr mehrfach in Farbe umgesetzt, das sollten sie sich einmal anschauen, falls sie die Zeit finden, mich in Downtown zu besuchen«, hatte Indiana angeboten, bevor Barr auf die Vergütung zu sprechen kam. »Das Museum ist bereit, ihnen 1.000 Dollar für den Abdruck zu zahlen«, sagte Barr und wartete gespannt, was der Künstler darauf erwidern würde. Dieser antwortete mit einem knappen OK, um dann doch noch einmal weit auszuholen und auf die Entstehungsgeschichte seines Werks einzugehen. »Die brüderliche Liebe, die aus den vier Buchstaben sprechen soll, ist von den Kirchgängen inspiriert, die meine Kindheit geprägt haben, die Farben sind der Bildmarke von Phillips 66 entliehen, für die mein Vater damals tätig war«, sagte er, »im letzten Frühjahr schon habe ich in der Stable Gallery von Eleanor Ward eine Serie ausgestellt, die dem gleichen Sujet gewidmet war«. Das musste die Ausstellung gewesen sein, von der er gelesen hatte, dachte Barr.
»Nun gut, lieber Robert, ich möchte ihre Zeit nicht länger als unbedingt nötig beanspruchen, deshalb würde ich vorschlagen, dass wir noch schnell auf die Rechte an ihrem Werk zu sprechen kommen«, sagte Barr und räusperte sich laut. Der Künstler lachte schallend. »Rechte? Welches Recht kann ich schon an einem Wort besitzen? Die Liebe ist frei, die Liebe gehört allen und die Liebe wird auch ganz bestimmt nicht lizensiert!« Das klang modern und entsprach dem Zeitgeist, dachte Barr, aber auch ziemlich blöd. »Ziemlich gut«, erwiderte er aber stattdessen und vereinbarte mit Indiana, ihn alsbald in seinem Atelier zu besuchen. Als er auflegte, war er zufrieden. Das Mittagessen wartete auf ihn.
West Woodburn, Northumberland, 1893
Der Winter würde früh kommen in diesem Jahr, das wusste er. Die Bäume, die den Weg hinaus zu dem abgelegenen Farmhaus säumten, hatten bereits in den letzten Augustwochen damit begonnen, ihr Laub abzuwerfen, und wenn er jetzt, im Oktober, bei den Schafen auf der angrenzenden Weide stand, sah er nichts als kahle Wipfel aus dem Nebel ragen. Den letzten Gang des Tages um den Pferch tat er für gewöhnlich allein, und auch an diesem hatte er sich dafür entschieden, die Hunde in dem aus groben Holzlatten gezimmerten Verschlag zu lassen, in dem sie untergebracht waren. Der Rüde, ein forsches Tier mit starrem Blick, war ein Beißer und machte ihm die Schafe rund, statt sie geschickt zu treiben, und die Hündin, die zwar sanfter im Wesen war, knickte vor jedem Bock ein, der sich ihr widerspenstig entgegenstellte. Während er also einsam um den Pferch herum wanderte, dachte er bei sich, wie wunderbar es wäre, wenn es gelingen könnte, die Unerschrockenheit des einen mit dem Sanfmut der anderen zu kreuzen. »Ein Hund, der um sein wölfisches Erbe weiß, aber führig genug ist, es nicht bis zum Letzten zu nutzen«, seufzte er und wandte sich zum Gehen um. Der Nebel hatte derweil nicht nur die Baumwipfel verschluckt, sondern auch das Farmhaus verschwinden lassen. Gedämpft nahm er noch den Lichtschein der Petroleumlampen aus den niedrigen Sprossenfenstern wahr, genauso gedämpft die Stimme seiner Frau, die seinen Namen rief: »Adam!«
Jerusalem, 1977
Phyllis Mayhew war enttäuscht. Die spirituelle Erweckung, die sie sich von der Reise nach Israel versprochen hatte – einer Reise, die sie sich fest vorgenommen hatte, seitdem sie ihren Studentenausweise vor etwas mehr als fünf Jahren gegen eine Festanstellung in einer christlichen Buchhandlung eingetauscht hatte –, hatte sich nicht eingestellt. Nie hatte sie sich weiter von Gott entfernt gefühlt, als zwischen den unzähligen Touristen, mit denen man sie durch die Grabeskirche geschoben hatte, nie war ihr das eigene Leben so leer und nichtig vorgekommen, wie beim Gang über die Via Dolorosa – den Leidensweg Christi –, von billigen Ramschläden gesäumt. Auch ein Tagesausflug in die Wüste – in einem himmelblauen Bus, der furchtbar röhrte, und viel schlimmer noch als das, keine Air Condition besaß – hatte dem nicht abhelfen können. Keine Erweckung, keine Erleuchtung. Und Zungenrede? Nicht einmal das!
Phyllis saß also in mehr als nur getrübter Stimmung auf einer Steinbank im Garten des Nationalmuseums, in das es sie aus blinder Verzweiflung verschlagen hatte, als ein Mann in den mittleren Jahren an sie heran trat. Er trug einen braunen Schlapphut unter dem strähnige graue Haare hervorlugten, ein weit geschnittenes blaukariertes Hemd, das zu tief aufgeknöpft war, um die im Gegensatz zum sonnenverbrannten Gesicht schneeweiße Brust zu verbergen, und hielt eine Kamera in den Händen. Innerlich bereitete sich Phyllis schon darauf vor, ihn mit einem gezielten Schlag ihrer bunt bestickten Handtasche abzuwehren – darauf verstand sie sich ganz hervorragend, seitdem ein Kommilitone ihr 1969 ungefragt an die Titten gefasst hatte, während sie Coretta Scott King zum Weißen Haus hinterher liefen –, als er ihr lächelnd die Kamera entgegen streckte. »Würden sie so freundlich sein und ein Foto von mir machen?«, fragte er mit einem Akzent, den sie nicht zweifelsfrei zuordnen konnte. »Ein Hinterwäldler, am ehesten«, dachte Phyllis, »ein Hinterwäldler, der genauso wie ich auf Sinnsuche ist«. Statt ihn unwirsch in die Schranken zu weisen, erwiderte sie also das Lächeln und fragte, ob er ein bestimmtes Motiv dabei im Sinn hätte.
Wie sich herausstellte, hatte er das. Er führte sie über den geschotterten Hof zu einer hohen Skulptur aus rostbraunem Stahl, die sie als hebräische Schriftzeichen deutete. Vage fühlte sie sich an eine ganz ähnliche Skulptur erinnert, die im New Yorker Central Park gestanden hatte – dieselbe, die auch als Briefbeschwerer neben der Registrierkasse ihrer Buchhandlung stand, und die sie auch schon auf Briefmarken gesehen hatte, 1973 mochte das gewesen sein. »Ahava«, sagte der Mann, indem er auf die Skulptur deutete, »das ist das hebräische Wort für Liebe«. Phyllis nickte. »Tatsächlich«, dachte sie, »dann muss es sich doch um das gleiche Kunstwerk handeln«. Während der Mann sich breitbeinig vor der braunen Skulptur postierte und sie in schneller Folge dreimal den Auslöser drückte und den Film mit dem schwergängigen schwarzen Hebel weitertransportierte, dachte sie angestrengt darüber nach, von welchem Künstler das Kunstwerk stammte. War es Warhol? Oder Lichtenstein? Nein, niemand an dessen Namen sie sich noch erinnerte. John Lennon hätte ihr vielleicht auf die Sprünge helfen können, wenn der zufällig vorbeigekommen wäre, denn dieser hatte sich schließlich – das hatte ihr vor Jahren jemand auf einer Party erzählt, auf der es zu viele Trips und nur ein Badezimmer gegeben hatte – von dem besagten Kunstwerk zu »All you need is Love« inspirieren lassen. Weil der gerade aber wohl Besseres zu tun hatte – wahrscheinlich saß er gemeinsam mit Yoko Ono im Dakota Building und lachte herzhaft über das neueste Album der Wings –, richtete sie die Frage an ihr Gegenüber. »Von einem Idioten, der an dem ursprünglichen Entwurf aus falscher Bescheidenheit kaum mehr als 1.000 Dollar verdient hat«, lautete die Antwort, »einem, dem die Kritik aber trotzdem nur zu gerne bescheinigt hat, seine Ideale verkauft und seine Kunst kommerzialisiert zu haben«.
Phyllis Mayhew schüttelte den Kopf. »Wie kommen sie nur dazu, so etwas zu sagen?«, entfuhr es ihr. »Liebe auf billigen Kaffeebechern, Liebe auf schlecht vernähten T-Shirts, Liebe auf Postern, Postkarten und Kitsch«, gab er mit einer hohen Fistelstimme zurück, die der ihren gleichen sollte, »als was würden sie das bezeichnen, wenn nicht als kompletten künstlerischen Ausverkauf?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Aber wer sind denn sie, um so hart zu urteilen und den Künstler als Idioten zu bezeichnen?«, lärmte sie mit sich überschlagender Stimme zurück, »Weil ich dieser Idiot bin«, schrie er. Und der heilige Geist kam über sie.
Love Park, Philadelphia, 2022
»Aus evolutionärer Sicht, lieber Reginald, ist die Geschichte des Hundes, trotz aller Widernisse, eine Erfolgsgeschichte«, sagte Barnum und lehnte sich schaukelnd zurück, um nach einem Grashalm zu haschen, »stell’ dich auf den Kopf, meinetwegen, und es wird trotzdem nichts daran ändern, dass die Entscheidung, dem Menschen zu folgen, die beste gewesen ist, mit der sich irgendein Familienmitglied der Canidae brüsten kann«.
Reginald, der die Stirn nicht erst in Falten legen musste, um dieselbe zu kräuseln, blies stumm Luft durch seine üppigen, herabhängenden Lefzen. »Geahnt habe ich es gleich, dass du meinen Ausführungen kaum zustimmen wirst, aber – lieber, bester Reginald – lass’ mich dir noch eines sagen«, und damit fügte der eitle, schwarz-weiße Border Collie eine dramatische Kunstpause ein, »wenn du alle Wölfe dieser Welt bittest, in der einen Waagschale eine Waage Platz zu nehmen, und versammelst alle Hunde dieser Welt in der anderen, wer wird da wohl gewinnen?«
Der stämmige Shar Pei ließ den Blick schweifen, bis er an einer kleinen Bulldogge hängen blieb, die sich im Schatten einer der umstehenden Bänke die kurze Schnauze mit den Pfoten rieb. »Nimm’ sie, nur als Beispiel«, sagte Reginald, »zu welchem Preis hat sie gewonnen? Verglichen mit dem Wolf ist ihr Gehirn winzig klein, ihre Beine viel zu kurz, und selbst, wenn sie noch ein wenig länger wären, würde es der Ärmsten kaum gelingen, den Weg in den Park selbständig zu bezwingen«. Mit einem Nicken wies er auf den schnittigen Kinderwagen hin, der gleich neben der Parkbank stand. Er wollte gerade dazu anheben, ein weiteres Beispiel anzuführen – konnte sich aber nur schwer entscheiden, ob er Fletcher, den blinden Border Collie, oder den viel zu früh verstorbenen Choice, einen herzkranken Dobermann, für geeigneter hielt –, als er von einer näselnden Stimme unterbrochen wurde.
»Es scheint, dass die Natur dem Menschen den Hund geschenkt hat, für seinen Schutz und seine Freude. Er ist von allen Tieren das Treueste: er ist der beste Freund, den der Mensch je haben könnte.« Mit wohlgesetzten Schritten umrundete Cassius die beiden anderen Hunde – unbemerkt musste er sich den beiden von hinten genähert und deren angeregtes Gespräch belauscht haben –, schüttelte das frisch auftoupierte Haupt und raunte: »Voltaire!« Beklommen blickten Barnum und Reginald zuerst einander, dann den weißen Königspudel an. Es war Reginald, der schließlich als erster die Sprache wiederfand. »Das stellt doch auch niemand in Frage«, sagte er, »die Frage ist doch viel eher, ob es sich für uns Hunde gelohnt hat, die Freiheit gegen Treue einzutauschen. Selbstverständlich haben wir freies Futter bekommen und uns den Menschen ein stückweit gefügig gemacht. Wir haben aber auch Erbkrankheiten bekommen und uns nach Belieben umgestalten lassen. Wenn die Evolution das eine Erfolgsgeschichte nennt, war das vielleicht nicht ihr allerbestes Geschäft!«
Barnum schnappte zornig nach Luft. »Aber, aber«, japste er, »aber die Menschen lieben uns doch!« Reginald lachte verächtlich. »Tun sie das alle? Und bloß aus selbstlosem Grund? Oder ist deren Liebe oftmals so stark verblendet, dass sie selbst darin versagt, unsere hündischen Bedürfnisse wahrzunehmen? Dass sie bloß noch unser angenehmes Äußeres wahrnimmt, aber zu blind ist, um zu sehen, dass wir rennen und springen und atmen wollen?« Alle drei schwiegen. Gegenüber wurde die kleine Bulldogge gerade zurück in den schnittigen Kinderwagen gehoben. »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig«, wollte Cassius gerade zum Besten geben, als ihm Reginald ein letztes Mal ins Wort fiel. »Ich weiß nicht, welche zerlesene Zitatensammlung du in deiner Welpenzeit zerfetzt hast, Cassius«, schnauzte er den weißen Pudel an, »mit Pathos allein kommen wir hier aber nicht mehr weiter. Liebe muss heißen, den anderen zu sehen, und auch die Fehler nicht schön zu reden. Andernfalls ist sie nicht mehr, als ein Monument, das mit Taubendreck überzogen ist«. Und alle drei richteten den Blick auf das mit Rost überzogene Gebilde, das sich hoch über den Platz erhob, über dem die Mittagshitze flirrte.
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