Drei Takte Musik und die Frage, welche Wesensmerkmale sich beim Welpen festigen – und welche zwischen Wurfkiste und Welpenauslauf verloren gehen.
Life is around you and in you.
Hair (1967)
Ich höre die ersten Takte des Basslaufs und die Haare an meinen Unterarmen stellen sich auf. Statt der Welpen, die meine nackten Beine umringen, während ich im Welpenauslauf auf dem Boden sitze, sehe ich vor meinem geistigen Auge für einen kurzen Moment das Bild einer jungen Frau aufblitzen, die sich wie ein Derwisch um sich selbst dreht. Ihre Haare reichen ihr bis zu den Hüften, die bunt gemusterte Bluse bläht sich bei jeder Drehung auf, und als sie endlich stehen bleibt, kann ich ein silbernes Piercing auf ihrem Nasenrücken funkeln sehen. »We starve, look at one another short of breath«, tönt es aus dem Nebenraum über den Basslauf hinweg – einer von mehr als fünfhundert Titeln auf der aktuellen Playlist –, und zu der Gänsehaut und den glücklich spielenden Welpen gesellt sich ein eigentümliches Gefühl.
Somewhere, inside something
Dieses Gefühl ist fünfundzwanzig Jahre alt. Genauso alt wurde das Gymnasium, das ich damals besuchte. Zu diesem Anlass hatten einige Schülerinnen und Schüler entschieden, ein Musical auf die Bühne zu bringen. Für Musicals hatte ich mich bis zu diesem Tag zwar nur wenig begeistern können, weil eine meiner Mitschülerinnen sich aber daran erinnerte, dass ich im Jahr zuvor bei einer improvisierten Aufführung der Rocky Horror Show mitgewirkt hatte, sprach sie mich kurzerhand an, ob ich nicht Lust hätte, dabei mitzumachen. »Das Treffen findet in der Mittagspause im großen Musiksaal statt«, sagte sie, und drückte ihre selbstgedrehte Zigarette an der grauen Betonwand der Raucherecke aus. Dann sprang sie davon, ihre Haare wehten im Wind. Und ich ging hinterher. »Haare«, dachte ich.
Fünfzehn, vielleicht zwanzig Schülerinnen und Schüler standen schon um den schwarzen Flügel herum, als wir den Musiksaal betraten. In der Mitte stand Michael, der zwei Klassen über mir im Abschlussjahrgang war, und von dem ich als Einzigem wusste, dass er eine klassische Gesangsausbildung besaß, daneben das stille blonde Mädchen aus der Zwölften, das mir zuvor schon aufgefallen war. Die übrigen Gesichter kannte ich bloß vom Sehen – die meisten älter, nur wenige jünger, noch weniger aus meinem Jahrgang. Weil jemand die Stühle im großen Musiksaal gestapelt und vor der langen Fensterfront aufgereiht hatte, setzten wir uns auf den niedrigen Heizkörper, der sich vor dem Fenster zum Schulhof befand, und warteten ab. Kurz darauf wurden kopierte Liedzettel herumgereicht – die Ersten begannen schon, die Melodie anzustimmen, bevor man auch den Letzten ihren Zettel in die Hände gedrückt hatte –, und weil das Stimmengewirr bald den ganzen Raum auszufüllen schien, verstand ich kein Wort, als eine der älteren Schülerinnen an mich herantrat. Sie streckte die Hand aus, stellte sich vor, und dann noch einmal die Frage, die ich zuvor nicht verstanden hatte. »Kannst du singen und tanzen?«, wollte sie wissen. Ich bejahte mit fragender Stimme. »Dann kannst du den Hud geben«, gab sie mit einem breiten Lächeln zurück, setzte einen Haken auf der Liste, die sie in den Händen hielt, und wandt sich dem Nächsten zu. »Keine Ahnung, was ein Hud sein soll«, dachte ich. Allem Anschein nach war ich aber nun einer. Und blieb es auch.
I fashion my future
Das, was wir in den folgenden Monaten einstudierten und in zahlreichen, bis auf den letzten Platz ausverkauften Vorstellungen auf die Bühne brachten, wäre aus heutiger Sicht undenkbar gewesen. Zu laut hätten sich die moralischen Bedenken bemerkbar gemacht – die berechtigte Kritik, Blackfacing zu betreiben –, und vielleicht hätte ein heutiges Publikum auch die Darbietung selbst als zu kitschig und bunt empfunden. Vor fünfundzwanzig Jahren aber fand niemand etwas daran, dass gleich drei der Darstellerinnen und Darsteller mit schwarz angemalten Gesichtern auf der Bühne standen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie lange es nach jedem Auftritt brauchte, bis auch das letzte Bisschen Farbe von meinem Körper herunter gewaschen war. Noch deutlicher ist aber die Erinnerung an das Gefühl, das bereits Erwähnung gefunden hat. Eines von Zusammengehörigkeit, von Liebe, Frieden und Harmonie. Von Rollenbeschreibungen, die für einen begrenzten Zeitraum zur gelebten Realität wurden. Beads, Flowers, Freedom, Happiness!
Die meisten, mich eingeschlossen, sind nach dem letzten Vorhang in ihre bewährten Rollenbilder zurückgekehrt. Haben sich, wenn man so will, die Haare geschnitten und die Bühnenpersönlichkeit abgelegt. Das lässt sich, vielleicht, auch mit den Welpen vergleichen, die bei uns aufwachsen. Bei denen ich über den begrenzten Zeitraum von acht bis neun Wochen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale aufblühen sehen kann, die aber immer in Abhängigkeit zu den Geschwistern – zu der Wurfkiste und dem Welpenauslauf als Bühne – gesehen werden müssen. Welches dieser Merkmale sich langfristig durchsetzen, ob die schüchterne Zurückhaltung oder das laute Draufgängertum auch dauerhaft zur Persönlichkeit des einzelnen Hundes gehören wird, zeigt sich oftmals erst nach der Abgabe. Weil auch die Welpen untereinander Rollen spielen, die nur im Verbund wahr und gültig sind. Und weil am Ende immer auch die neue Lebensrealität entscheidet – die Bindung an und die Befähigung des neuen Besitzers, der neuen Besitzerin –, welcher Hund aus welchem Welpen wird. Das, was ich in der dritten Lebenswoche der Welpen beobachten kann, lässt sich deshalb am besten als unbeholfene Choreographie beschreiben – als Tanzschritte, die ausprobiert werden, als Gesangspartien, die bald dieser und bald jener Welpe übernimmt.
Answer for Timothy Leary
Was bleibt, ist am Ende vielleicht nur ein Gefühl. Die Gänsehaut, wenn der Bass einsetzt. Und eine Ahnung, was hätte sein können. Oder besser: was sein wird.
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