Die dritte Lebenswoche: warum Sehen gelernt werden will und Welpen entwurmt werden müssen. Und wieso ein Schinkensandwich nichts im Welpenauslauf verloren hat.
I’ve just seen a Face
Zwei Welpen kommen mir bereits mit wackligen Schritten entgegen, als ich am frühen Morgen das Welpenzimmer betrete. Weil die Entwicklung der Welpen eilends voranschreitet, wenn erst einmal Licht in die neonatale Dunkelheit gedrungen ist, und sie mit jedem Tag selbständiger werden, habe ich das Welpenzimmer am Vortag um einen Auslauf erweitert, der sich in gerader Linie von der Wurfkiste zum gegenüberliegenden Fenster zieht. Ein schwarzes Gitter dient als Begrenzung. An eben jenem endet schließlich auch der Wettlauf der beiden Welpen. Unbeholfen recken beide Köpfe. Unstet wandern die Blicke hin und her. Das Gitter selbst zu erfassen – senkrechte Linien im gleichbleibenden Abstand, die unregelmäßig mit waagerechten Linien verwoben sind – kann den Welpen in diesem frühen Entwicklungsstadium noch nicht gelingen. Und auch mich nehmen sie höchstwahrscheinlich nur als unscharfes Schattenbild wahr. Das hindert beide aber nicht, es darauf ankommen zu lassen und sich am Gitter emporzustrecken. Doch während es dem einen gelingt, die Schnauze so geschickt durch die schwarzen Gitterstäbe zu zwängen, dass er sich für einen kurzen Augenblick halten kann, verliert der andere taumelnd das Gleichgewicht – und kippt um.
Wie komplex die Abläufe in diesem frühen Entwicklungsstadium sind – und wie sehr die verschiedensten Umwelteinflüsse die gesunde Entwicklung eines Welpen bedingen –, lässt sich anhand der Entwicklung der Sehfähigkeit gut beschreiben. Taub und blind geboren, öffnet ein Welpe im Laufe der zweiten Lebenswoche die Augen. Weil das Nervensystem des Welpen zu diesem Zeitpunkt aber noch unreif ist, können entsprechende Reize auch noch nicht verarbeitet werden – das Sehen muss der Welpe also erst noch lernen. Würde man nun hergehen und den Welpen in völliger Dunkelheit aufwachsen lassen, könnte sich trotz der normalen Entwicklung des Auges keine Sehfähigkeit entwickeln. Um zu wachsen, benötigt das Nervensystem des Welpen also Seheindrücke. Und Seheindrücke gibt es nur, wenn das Nervensystem ausreichend entwickelt ist.
Vielleicht ist deshalb auch ein Welpengitter viel mehr, als nur ein banaler Alltagsgegenstand. Es sind horizontale und vertikale Linien. Und die Erkenntnis, dass die Augen oftmals viel weiter sehen, als die Pfoten zu tragen im Stande sind.
I’m your Witch Doctor
»Wasser«, denke ich, als die sechs Welpen sich am frühen Nachmittag schließlich zufrieden auf dem feuchten Handtuch ausgestreckt haben, das ich auf dem Boden neben der Wurfkiste ausgebreitet habe. Die Hitze ist beinahe unerträglich. Obwohl die schon am Morgen bis auf einen schmalen Spalt herabgelassenen Läden kaum Licht in das Zimmer dringen lassen, hat es sich dort doch so weit aufgeheizt, dass das Thermometer auf dem Fensterbrett über dreißig Grad zeigt. Ich stemme mich ächzend vom Boden hoch, wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, und möchte gerade über das Gitter des Welpenauslaufs steigen, als mein Blick auf das Mobiltelefon fällt, das zu meiner Linken auf dem Bett liegt. Nur kurz hat das Display aufgeleuchtet – lange genug aber, um meine Aufmerksamkeit einzufangen –, ich strecke also die Hand aus und tippe das grüne Symbol im Display an.
»Haben Sie noch Welpen frei, wir hätten gerne einen Rüden«, steht in der ersten von vier Textnachrichten zu lesen. Während die zweite knapp nach dem Kaufpreis fragt und es sich bei der dritten um einen unscharfen Schnappschuss handelt, der ein Kleinkind mit einem braunen Mischlingshund zeigt, hebe ich bei der Frage, die in der vierten gestellt wird, schließlich verwundert die Brauen. »Uns wäre wichtig, dass der Welpe nicht enwurmt und nicht geimpft wird, können Sie das möglich machen?« Ich schüttle den Kopf.
Als Züchter bin ich dazu angehalten, entsprechend der Vorgaben meines Zuchtvereins zu handeln. Das bedeutet unter anderem, dass ein Welpe im Zuge der zweiten Wurfabnahme nur dann zur Abgabe freigegeben wird, wenn er nach der Empfehlung der ständigen Impfkommission geimpft und ab der zweiten Lebenswoche regelmäßig entwurmt worden ist. Daran kann auch der Einwand nichts ändern, dass etwa 80 Prozent aller strategischen Entwurmungen unnötig sind, und nur nach einem positiven Befund bei einer Kotuntersuchung entwurmt werden sollte. »Wie soll das ihrer Meinung nach bei einem Saugwelpen gelingen, bei dem die Mutterhündin in der Regel alle Hinterlassenschaften frisst«, schreibe ich deshalb zurück, »wenn der Welpe bereits mit der Muttermilch Wurmeier aufgenommen hat, ist sein Darm schon zersetzt, bevor ich ausreichend Probenmaterial sammeln kann!«
Zehn Minuten später, als ich mit einem großen Glas Wasser am Küchentisch sitze, folgt die Antwort. »Haben Sie schon einmal über gehäckselte Pferdeschweifhaare als Alternative nachgedacht«, heißt es dort, »damit werden die Wurmlarven ganz natürlich aufgespießt!« Es ist zu heiß. Es ist ganz einfach viel zu heiß.
And everyone’s getting fat
»In der Nähe von der Dicken hier solltest du auch kein Schinkensandwich stehen lassen«, sage ich und halte Dirk einen der sechs Border Collie Welpen entgegen. Während die fast drei Wochen alte Hündin sich in meiner Hand entspannt zurücklehnt, zieht Dirk fragend die Brauen zusammen. »Wieso denn ausgerechnet ein Schinkensandwich?«, gibt er kopfschüttelnd zurück.
Cass Elliot war fett. Da waren sich alle einig. Keine andere Künstlerin im Musikbusiness der sechziger Jahre konnte da mithalten. Das wusste Cass auch selbst. Genauso wusste sie, dass man hinter vorgehaltener Hand über ihre Körperfülle sprach. Dass sie jedes Mal, wenn sie mit der Band auf die Bühne ging, dem Vergleich mit der gertenschlanken Michelle Phillips standhalten musste. Dass man in ihr vor allen Dingen die komische Dicke sah. Und nicht die Künstlerin, die dahinter steckte. Aus Trotz nahm sie diese Rolle an. Gab sich laut und frech und fordernd. Scheute sich auch nicht, nackt für ein Musikmagazin zu posieren. Doch wirklich glücklich war sie damit nie. Ganz im Gegensatz zu den Mädchen und jungen Frauen, denen es dank ihres Vorbildes besser gelang, sich selbst anzunehmen, litt sie zeitlebens sehr unter ihren Pfunden. So sehr, dass sie eine Extremdiät nach der anderen ausprobierte. Immer wieder für Monate fastete. Und dabei nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Gesundheit vergaß. Als Mama Cass schließlich im Juli 1974 während eines Konzertengagements in London überraschend starb, entschied aber auch Allan Carr, ihr Manager, dass die Öffentlichkeit nicht bereit wäre, die Wahrheit zu erfahren. Statt zuzugeben, dass Cass – in Folge ihrer zweifelhaften Diäten und eines zunehmenden Drogenmissbrauchs – an einem Herzinfarkt gestorben war, wies er eine befreundete Kolumnistin an, eine von ihm erfundene Geschichte zu lancieren. »Setz’ dich an deine Schreibmaschine und schreib’, dass sie an einem Schinkensandwich erstickt ist!«, schrie er am Telefon. Und genauso wie Mama Cass – wie Ellen Naomi Cohen, das fette Mädchen aus Baltimore, Maryland, mit der noch fetteren Stimme – ist auch diese Geschichte unsterblich geworden.
Die Welpenzeit eignet sich übrigens für niemanden, um abzunehmen.
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