Trotz wilder Gelüste in der sechsten Trächtigkeitswoche: warum mehr nicht nur für die Hündin, sondern auch für die Welpen nicht immer das Beste ist.
Über Nacht hat das Gewitter alle Farben aus der Landschaft gewaschen. Die wenigen Bäume, die entlang des betonierten Weges aus dem Dunst auftauchen, erscheinen deshalb ebenso grau, wie die Blüten des Fingerhuts, der die nackten Wurzelstöcke auf den Kahlflächen beinahe vollständig überwuchert hat. Unbemerkt von den drei Hündinnen, die mit den Nasen einer Spur zur gegenüberliegenden Seite des Weges gefolgt und schon halb zwischen dem hoch aufragenden Mädesüß verschwunden sind, springt ein junger Rehbock in der Senke auf. Mit weiten, fast lautlosen Sprüngen setzt er über die Kahlfläche hinweg und hat sich, als die drei Hündinnen schließlich zu mir zurückgekehrt sind, schon im morgendlichen Dunst verloren. Der Wind indessen scheint die Spur des Rehbocks aber zumindest der einen zugetragen zu haben, denn statt sich zu den beiden anderen zu gesellen und mit hungrigem Blick auf meine ausgebeulten Jackentaschen zu schielen, reckt diese aufgeregt die Nase und nimmt Witterung auf. »Als wären drei Mahlzeiten am Tag nicht schon genug«, sage ich und lasse den Karabiner der Leine am Geschirr der Hündin klicken. Den vorwurfsvollen Blick, mit dem mich die Hündin dabei bedenkt, bemerke ich aber nur am Rande. Viel mehr fällt mir auf, dass das Geschirr am Bauch der Hündin doch ziemlich spannt.
Drei Näpfe
Zeit, um die Gurte des Geschirrs zu verstellen – oder auch nur, um noch einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden –, bleibt mir aber vorerst nicht. Als ich nach unserer Rückkehr an der Küchenanrichte stehe, will nämlich nicht nur das portionierte Fleisch über das Trockenfutter gelöffelt werden, das ich zuvor auf die Näpfe verteilt habe, sondern wollen auch die drei Hundeschnauzen abgewehrt werden, die sich von hinten unter meine Ellenbogen schieben. Dass sich bloß in einem der drei Näpfe etwas mehr Futter befindet – ab der fünften Trächtigkeitswoche wird die Futtermenge der Hündin nach und nach um etwa ein Drittel erhöht – und ich den Löffel an den Näpfen der beiden anderen lediglich abstreife, tut der Gier keinen Abbruch: kaum, dass ich die Näpfe auf dem Boden abgestellt und das Futter freigegeben habe, hat auch schon die Erste alles hinunter geschlungen. »Wenn allein der Hunger entscheidend wäre«, sage ich lachend, als wenig später auch die Letzte genüsslich ihren Napf ausgeleckt hat, »dann könnte mir wahrscheinlich jede von euch erzählen, dass sie gerade trächtig ist!«
»Fünf Zentimeter mehr, am Bauch und an der Taille«, denke ich, als ich das Geschirr am Nachmittag von dem schmiedeeisernen Haken nehme, der vor der Tür zum Garten angebracht ist. Es ist mir beinahe gelungen, die schwarze Schnalle vom Gurtband zu lösen, als Dirk in der Tür steht und mir einen Plastikbeutel entgegenstreckt. Gefrorene Fleischstücke sind darin zu erkennen. »Soll ich das für morgen auftauen?«, fragt er und drückt mir den Beutel in die Hand. Ich verziehe angewidert das Gesicht: »Wenn du mir sagen kannst, was das ist, sage ich dir, ob du es auftauen kannst!« Er legt die Stirn in Falten: »Fleisch, vielleicht?« Ich schüttele entschieden den Kopf: »Über das Trockenfutter ist die Hündin schon weitestgehend mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt. Als zusätzliche Proteinquelle ist gegen Fleisch grundsätzlich zwar nichts einzuwenden – insbesondere im letzten Drittel der Trächtigkeit ist der Bedarf an Protein um bis zu 20 Prozent erhöht. Wenn das hier aber ausgerechnet rohe Leber sein sollte, besteht die Gefahr, dass sie zu viel Vitamin A zu sich nimmt. Und zu viel davon, kann für die ungeborenen Welpen genauso schädlich sein, wie zu viel Vitamin D oder Kalzium«. Er nimmt mir den Beutel wieder aus der Hand und betrachtet ihn sorgfältig von allen Seiten. »Vielleicht«, sagt er schließlich und zieht die Nase kraus, »vielleicht ist das aber auch das Hirschgulasch vom letzten Obedience-Turnier«. Ich lache. »Ich glaube, das würde Heidi ziemlich gut gefallen!« Und während Letztere wieder einmal neugierig die Nase reckt, hüpft irgendwo ein junger Rehbock ins Vergessen davon.
© Johannes Willwacher