Zwischen Zementsäcken und der Abrissbirne: über Hormone und flüchtende Hasen. Oder: zwei Border Collie Hündinnen in der Pubertät.
Wenn ein Welpe einzieht, wird man im besten Fall zuerst eine Phase durchlaufen, in der die Fortschritte beständig sind. Die Beziehung vertieft sich, der Lerneifer wächst, und weil alles so gut läuft, beginnt man sich zu entspannen: »War ja doch nicht so schwierig, wie alle immer gesagt haben!« Dass der Welpe, der zu diesem Zeitpunkt längst zum Junghund herangewachsen ist, nur auf diesen Moment gewartet hat, versteht sich von selbst. Während er sich in den vergangenen Monaten nämlich als Musterschüler ausgegeben hat, dem einzig und allein daran gelegen ist, seinem Menschen zu gefallen, hat er heimlich Beobachtungen angestellt und sich die Unzulänglichkeiten notiert, durch die ihm der Hundeführer aufgefallen ist. Vielleicht ist es die unsichtbare Leine, die im Freilauf schon immer ein wenig zu locker gesessen hat, vielleicht die Autorität, die mit den falschen Mitteln etabliert worden ist. Der Hund hat aber auf jeden Fall verstanden: ein besserer Zeitpunkt, um sich der auferlegten Erziehungsleitlinien zu entledigen und die eigenen Grenzen zu verschieben, wird kaum mehr kommen.
Zugegeben ist es nicht allein die erzieherische Konsequenz, die man in Frage stellen muss, wenn der pubertierende Hund plötzlich nicht mehr hört – Cortisol und Dopamin hinterlassen nämlich auch im Gehirn von konsequent erzogenen Artgenossen ihre Spuren. Man darf sich das vielleicht ein wenig wie auf einer Großbaustelle vorstellen, an der an allen Ecken und Enden gleichzeitig gewerkelt wird, um die Effizienz zu optimieren: hier werden neue Nervenzellen aufgebaut, dort Brücken zwischen kognitiven Vorgängen und passenden Reaktionen geschlagen, dazwischen kommen immer wieder Lieferungen an, von denen niemand weiß, wer sie geordert hat. Impulsiv wird also mal dieser und mal jener Karton aufgerissen und der Inhalt – nicht weniger impulsiv – zwischen den Zementsäcken und der Abrissbirne ausgeschüttet. Bis sich die Arbeiter eingespielt haben und wissen, welches der angelieferten Hormone welchen Zweck erfüllt, braucht es eine ganze Weile – und der pubertierende Hund mindestens genauso lange, bis er nicht mehr so unberechenbar reagiert.
Die Jägerin und die Schlägerin
»Unberechenbar ist eigentlich das falsche Wort«, sage ich zu Dirk, als ich die beiden Hundeleinen nach der Abendrunde an den Haken hänge, »denn Unberechenbarkeit würde bedeuten, dass sich nicht einschätzen lässt, welche der beiden Hündinnen in welcher Situation welches Verhalten zeigt«. Weil Dirk genauso gut weiß, welche Verhaltensweisen ich damit meine, erwidert er darauf nichts und bleibt mit übereinander geschlagenen Beinen schweigend auf der Gartenbank sitzen. Die beiden Hündinnen derweil scheinen aber beweisen zu müssen, was gerade gesagt worden ist. Während Fate plötzlich die Ohren hebt, sich abwendet und mit lautem Gebell auf den Gartenzaun zu schießt, folgt Halo mit hoch erhobener Rute einer Spur, die quer durch die Beete verläuft. »Die Jägerin und die Schlägerin«, sage ich mit einem Nicken, »da haben wir’s!«
Über die Erlebnisse, die dem auf der Abendrunde vorausgegangen sind, berichte ich erst, als wir später am Esstisch sitzen. »Den flüchtenden Hasen habe ich erst bemerkt, als Halo schon dazu angesetzt hatte, ihm hinterher zu hetzen«, sage ich und lasse das Salatbesteck durch die Schüssel klappern, »viel zu spät, um sie noch durch Rufen zu beeindrucken«. Kauend schaut Dirk von seinem Teller auf: »Fate ist nicht mitgelaufen?« Ich muss einen Moment überlegen – genauso wie Fate kurz das Für und Wider abgewogen zu haben scheint, es ihrer Schwester gleich zu tun –, versuche mich statt der Antwort aber gleich an einer Erklärung. »Wenn man sich die gegensätzlichen Verhaltensweisen der beiden einmal genauer betrachtet – das Jagen auf der einen und das Pöbeln auf der anderen Seite –, liegt die Vermutung nahe, dass es auch hormonell ein ähnliches Ungleichgewicht gibt«, sage ich. »Du meinst, die eine hat zu viel, wovon die andere zu wenig hat?« Ich schüttle den Kopf. »Das glaube ich eigentlich nicht«, sage ich und lege die Gabel neben meinem Teller ab, »ich habe vielmehr den Eindruck, dass bereits vorhandene Verhaltensweisen durch unterschiedliche Hormone verstärkt werden«.
All the dopa-dopamine
Im Folgenden versuche ich zu erklären, dass bei pubertierenden Junghunden die Aktivität der Nebennierenrinde deutlich erhöht ist und sich im Blut deshalb auch ein Anstieg von Cortisol bemerken lässt. »Cortisol lässt den Hund aber nicht nur anfälliger für Stress werden, – und für einen tendenziell eher unsicheren Hund, wie Fate, ist jeder fremde Hund erst einmal Stress –, auch die Reaktionen fallen viel stärker aus.« Dirk hat derweil aufgegessen und beginnt, laut nachzudenken: »Lässt sich die Aussage denn nicht eins zu eins auf den flüchtenden Hasen übertragen?« Die Antwort erfolgt zwischen zwei Bissen: »Bei selbstbelohnenden Verhaltensweisen, zu denen auch das Jagdverhalten gehört, ist Dopamin von viel größerer Bedeutung«, sage ich, »und dummerweise nimmt in der Pubertät gerade die Rezeptorendichte für dieses Hormon ständig zu«. Während Dirk sich anschickt, aufzustehen und die beiden leeren Teller vom Tisch zu räumen, singt er leise vor sich hin: »You make all the dopa-dopamine …« Ich lache. Und lasse den Hasen gedanklich ziehen.
Weil einen Hasen und fremde Hunde im Alltag aber doch immer wieder einholen, bleibt es natürlich nicht dabei. »Die Leine bleibt dran«, heißt es deshalb auch heute morgen. Während die Leine der einen nämlich mehr Sicherheit und Orientierung bietet – das pubertäre Gepöbel lässt gleich nach, wenn der Mensch mehr Präsenz beweist –, ist sie auch hilfreich, um die Impulskontrolle der anderen zu trainieren: absitzen, Blickkontakt einfordern und bleiben. Mit kleinen Schritten geht es vorwärts. Zwischen Zementsäcken und der Abrissbirne. Oder: mittendrin in der Pubertät.
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