Überall Gespenster: über die Hirnentwicklung beim Junghund – und warum deshalb auch so mancher Spaziergang zum Gruseltripp wird.
Jesus loves me – oh, yes he does.
Whitney Houston (1992)
Zwei feuchte Nasen drücken sich ungeduldig gegen den Netzstoff, als sich die Heckklappe öffnet. Kaum, dass der Reißverschluss einmal an den Rändern entlang gesurrt ist, schiebt sich die erste der beiden knapp sechs Monate alten Junghündinnen aus der Box und hebt den Blick. »Warte«, heißt es dann. Und auch wenn dieselbe oftmals zu überhören scheint, was ihr geheißen worden ist, wartet sie geduldig ab, bis sich eine Hand unter ihren Bauch geschoben und sie aus dem Kofferraum herausgehoben hat. Das Gleiche wiederholt sich mit der Zweiten. Dann stehen endlich beide angeleint auf dem Waldparkplatz, von dem aus ein gut halbstündiger Rundweg einmal durch das Wäldchen führt – und nachdem die Erste noch einmal vergeblich versucht hat, sich das störende Geschirr abzustreifen, ist man auch bereit, den Spaziergang anzutreten. Weit kommt man allerdings nicht. Warum? Weil ein nackter Mann am Waldrand herumhängt.
Halo ist es, die den Nackten zuerst bemerkt. Und weil sie trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – ihres jungen Alters schon ziemlich genau verstanden hat, dass nackte Männer nicht einfach so vor dem Wald herumhängen dürfen, schiebt sie sich sogleich die Ärmel ihrer – wahrscheinlich nur eingebildeten – Lederkutte hoch und schreit aus Leibeskräften: »Komm’ da runter, aber sofort!« Der nackte Mann indessen würdigt die kläffende Hündin keines Blickes. Ganz im Gegenteil, hängt er mit Leidensmiene weiter den Wolken nach, die über seinen dornenbekränzten Kopf hinwegziehen. »Kannste nich’ oder willste nich’, Bürschchen?«, setzt die junge Hündin nach, und schickt sich schon an, den Holzbalken zu erklimmen, an dem man den Nackten aufgehangen hat – scheut dann aber doch ängstlich zurück. »Das Gleiche hat sich erst gestern mit einem Straßenschild abgespielt«, sagt der Mensch entschuldigend zu dem Schmerzensmann, während er mit der flachen Hand besänftigend über das Holz streicht. Das besänftigt schließlich auch die kläffende Hündin. Und endlich geht es weiter.
Überall sind Gespenster
Wahrscheinlich kann fast jeder Hundebesitzer von ähnlichen Erlebnissen in der Jugendentwicklung berichten. Viele Dinge, mit denen der Hund im Alltag längst selbstverständlich umgegangen ist, scheinen urplötzlich eine Bedrohung darzustellen. Bei dem einen kann das eine Mülltonne sein, die auf dem Gehweg steht – eine, die schon immer dort gestanden hat, nun aber unbedingt verbellt werden muss –, bei dem anderen eine Plastiktüte, die sich flatternd im Gebüsch verfangen hat. Die empfindlichen Reaktionen, die beim Junghund durch verschiedenste Umweltreize ausgelöst werden können, lassen sich durch ein Ungleichgewicht in der Hirnentwicklung erklären. Im Laufe der Jugendentwicklung gewinnt der handelnde Teil des Gehirns die Oberhand gegenüber dem denkenden Teil: die Amygdala ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur wesentlich größer als der präfrontale Cortex, sie ist auch schon viel weiter ausgereift. Potenziell bedrohliche Situationen werden während der Adoleszenz also kaum noch rational eingeschätzt, viel mehr werden sie emotional bewertet. Daraus folgt nicht nur ein viel heftigeres Angst- und Aggressionsverhalten, sondern auch grundsätzlich eine gesteigerte Reaktivität. »Überall sind Gespenster«, hat man schon manchen Hundebesitzer deshalb sagen hören. Aber wie kommt man dem bei?
Wichtig ist vor allem, den Hund nicht durch falsche Aufmerksamkeit in seinem Verhalten zu bestätigen. Will heißen, der Hund sollte weder zu deutlich gemaßregelt, noch überforsorglich in Schutz genommen werden. Ich habe mir deshalb angewöhnt, in solchen Situationen die Verantwortung zu übernehmen – und dem unsicheren Junghund eindeutig zu vermitteln, dass er sich auf mich viel besser verlassen kann, als auf die Brüder der Nachtwache in seinem Kopf. Wo der Mensch nämlich bloß die Achseln zuckt und weitergeht – oder wo er sich der vermeintlichen Gefahr selbstbewusst nähert und, wie bei dem Wegkreuz, ganz selbstverständlich darüber streicht –, ist auch der Spuk ganz schnell beendet.
Zumindest dann, wenn die nackten Männer nur aus Holz sind.
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