Eine weitere Geschichte. Eine Letzte, vielleicht. Eine, die in diesem Wurftagebuch für sich steht – bevor das Leben für die Welpen ganz eigene Geschichten schreibt.
»Und dann lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Ende«, schloss der Mann seine Geschichte. Von den Gesichtern der Sechs, die seinen Worten gebannt gelauscht hatten, ließen sich noch deutlich die Gefühle ablesen, mit denen sie dem Helden der Geschichte auf seinem Weg durch die Welt gefolgt waren. In den Augen des einen funkelte etwa die Sehnsucht nach dem Abenteuer, während in dem offenen Mund des anderen noch die gespannte Erwartung ihren Widerhall fand. Dieser war es dann auch, der als Erster seine Stimme wiederfand und mit einem lauten »Noch mal, noch mal!« die allumfassende Stille durchbrach.
Von dem Spatz, der ein Adler sein wollte
Von dem Rufen des einen beflügelt, stimmten auch alle Übrigen in die dargebrachte Forderung ein, sprangen von ihren Plätzen auf und tanzten in einem wilden Reigen um den Mann in der Mitte herum. Jener legte bloß angestrengt die Stirn in Falten, dann den ausgestreckten Zeigefinger an den Mund: »Wollt ihr denn wirklich immer und immer wieder die gleichen Geschichten hören? Wie oft habe ich euch nun schon von dem ängstlichen Wolf und dem mutigen Hasen, von dem Spatz, der ein Adler sein wollte, erzählt?«
Nacheinander verstummten die Sechs und wandten dem Mann ihre Blicke zu. »Wäre es nicht viel schöner herauszufinden, welche großartigen Geschichten in die Bücher von jedem von euch eingeschrieben sind?«, hob der Mann wieder zu sprechen an, als endlich jeder zu seinem Platz zurückgefunden hatte. Auch diesmal sprachen die Gesichter der Sechs Bände, bloß dass auf jedem die gleiche Verwunderung geschrieben stand. »Wir besitzen aber doch gar keine Bücher, Herr«, schlug sich eben jene in Worten nieder, »keiner von uns hat jemals auch nur ein einziges Buch besessen!«
Eines, das ihr immer mit euch herumtragt
Jetzt war es der Mann, der von seinem Platz aufstand und schweigend – Runde um Runde – in dem dunklen Raum umherging. Immer dann, wenn er dabei das hohe Fenster passierte, fiel ein schmaler Streifen des Mondlichts auf sein Gesicht und ließ seine Züge wie eingefroren leuchten. »Jeder von euch hat am Tag seiner Geburt sein eigenes Buch bekommen«, sagte er schließlich und blieb vor der mächtigen Standuhr stehen, deren glänzendes Pendel völlig unbeeindruckt weiter schwang, »eines, das ihr schon, ganz ohne es zu wissen, mit euren eigenen Geschichten zu Füllen begonnen habt – eines, das ihr immer mit euch herumtragt, auch ohne es zu sehen«.
Vielstimmig versuchte sich erneut die Verwunderung Gehör zu verschaffen, und jeder der Sechs plapperte munter drauflos. »Was man nicht sehen kann, das lässt sich auch nicht beschreiben!«, schlussfolgerte etwa der Erste, während der Zweite in einem fort »Das kann doch gar nicht sein!« skandierte. »Lügengeschichte, Lügengeschichte!« Darin waren sich alle einig. Der Mann lächelte bloß, hielt das Pendel der Uhr an und wandte sich darauf zu den Sechsen um.
Ein kleines Stück unter seinem Herzen
»Jeder von euch hat am Tag seiner Geburt sein eigenes Buch bekommen«, sagte er noch einmal, »und wenn ihr es sucht, dann werdet ihr es an genau dieser Stelle finden«. Er hob die Hand und wies auf seine Brust, ein kleines Stück unter seinem Herzen. »Alles, was wir gemeinsam erlebt und gesehen haben, ist darin festgehalten, und alles, was ihr noch erleben und sehen sollt, wird ebenso Teil der Geschichte werden. Vor allen Dingen aber die Menschen, die euren Weg kreuzen. Solche, die gütig und großzügig sind, aber auch solche, die sich hässlich und gemein verhalten. Solche, die euch ein Leben lang auf Händen tragen, aber auch solche, die euch nur ein kurzes Stück des Wegs begleiten. Solche, die euch jede Seite eures Buchs begierig umblättern lassen werden, aber auch solche, die rein gar nichts dazu beizutragen haben, weil sie kein Wort verstehen.«
Eine tiefe Stille erfüllte den Raum. Schweigend kehrte der Mann zu der Standuhr zurück, öffnete den knarrenden Uhrenkasten und das Pendel begann von Neuem zu schwingen. »Achtet immer gut auf euer Buch, wenn ihr am Morgen mein Haus verlasst, lasst niemals zu, dass es euch jemand aus den Händen nimmt und eure guten Seiten schwärzt«, sagte er seufzend mit sorgenschwerem Blick, »auf dem Einband steht Verantwortung geschrieben, und wenn eine Seite fehlt, dann gibt es kein Zurück«. Dann winkte er die Sechs heran und breitete die Arme aus. Und nach einer letzten Umarmung machten sich alle Sechs im Morgengrauen auf den Weg, um ihre eigenen Geschichten zu finden.
Eigentlich wollte ich mich beim Schreiben des Wurftagebuchs diesmal darauf beschränken, den Alltag während der Welpenaufzucht möglichst ungefiltert zu wiederzugeben. Kurz vor dem nahenden Auszug der Welpen kam mir dann aber doch noch diese kleine Geschichte in den Sinn – eine, die hartnäckig darauf bestanden hat, erzählt zu werden. Weil Geschichten im Allgemeinen äußerst nachtragende Geschöpfe sind, und den, der sie so sträflich vernachlässigt hat, bevorzugt nachts heimsuchen, um ihm mit schrecklichen Klauen und Zähnen zu Leibe zu rücken, habe ich dem schließlich nachgegeben.
© Johannes Willwacher