Die achte Woche mit unseren sechs Border Collie Welpen: über das Hinschauen und Wegschauen – und warum am Ende bloß ein Fragezeichen steht.
Augen auf im Straßenverkehr!
»Wenn du bei den Welpen damit keinen Erfolg hattest, dann aber doch immerhin bei mir«, presse ich zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, während mein rechter Fuß hilflos nach der Bremse sucht, »mir ist nämlich jetzt schlecht!« Obwohl ich mir beide Hände vor die Augen halte, spüre ich, dass Dirk einen kurzen Blick zu mir auf dem Beifahrersitz wirft und die Mundwinkel strafft. »Immer musst du so dicht auffahren«, kommt es als Nächstes hinter den vorgehaltenen Händen hervor, »du hast doch wohl gesehen, dass der gebremst hat, oder nicht?« Die straffen Mundwinkel des Fahrers straffen sich noch ein wenig weiter – im Gegensatz zu dessen Augen, die sich zu gefährlich schmalen Schlitzen verengen. Was folgt, lässt sich vielleicht am ehesten mit einem Traktor auf der Landstraße vergleichen: immer dann, wenn man es besonders eilig hat, tuckert zwangsläufig einer daher. Das. Ist. Gesetz. »Du bist der anstrengendste Beifahrer, den man sich vorstellen kann«, schnauft Dirk also, als er den Wagen beschleunigt. »Gar nicht wahr«, schnaube ich wütend zurück. »Wenn ich mir den Fußraum unter dem Beifahrersitz einmal genauer anschauen würde, dann – da möcht’ ich drauf wetten – dann würde ich dort, wo du die Bremse vermutest, Vertiefungen in genau deiner Schuhgröße finden!« Das hat gesessen. Wobei. So sehr dann auch wieder nicht. »Würdest du gar nicht«, wettere ich noch ein wenig lauter zurück, »ohne Brille würdest du die besagten Vertiefungen genauso wenig sehen, wie das Stoppschild, das du eben beinahe überfahren hast!« Daraufhin sagt er nichts mehr. Er beschleunigt nur. Bald darauf meldet sich der erste Welpe aus dem Kofferraum zu Wort: »Krakeel, krakeel!«. »Siehste, jetzt ist auch denen schlecht!«
Als wir eine halbe Stunde später im Tieraugenzentrum in Staufenberg bei Gießen angekommen sind, haben sich alle Gemüter wieder beruhigt. Und auch die Untersuchung auf erbliche Augenerkrankungen, die bei allen sechs Welpen nichts zu beanstanden hat, erfolgt mit der gleichen Ruhe. Erst auf der Rückfahrt wird klar, dass die Hinfahrt doch ihre Spuren hinterlassen hat. Auf Dirks Nase. »Deine Schuhgröße«, sagt er und rückt sich die Brille zurecht.
Jackpot
Es braucht keine zwei Minuten, bis der erste Welpen begriffen hat, dass irgendetwas anders ist. Suchend läuft er im Zimmer umher und saugt begierig den Geruch ein, der ihm so schmeichelnd um die Nase weht. Auch seinen Geschwistern ist der nicht entgangen und bald darauf sind alle auf den Beinen – alle auf der Suche. Die Quelle des guten Geruchs ist deshalb auch in kürzester Zeit ausgemacht und mit aufgeregtem Kratzen mühen sich zuerst zwei, dann alle sechs Welpen an den Hosentaschen des Menschen ab, der in einer Ecke des Welpenzimmers auf dem Boden sitzt. »Nee, nee, nee«, stammle ich hilflos vor mich hin, als mich die wild gewordenen Pfoten und Zähne schließlich von allen Seiten bestürmen, »wer futtern will, muss auch etwas dafür tun«, und damit stemme ich mich vom Boden hoch.
Zu Anfang sind die sechs Welpen noch in heller Aufregung und ziehen sich abwechselnd an meinen Hosenbeinen hoch. Ich selbst bleibe ruhig stehen und lasse nur dann und wann das immer gleiche »Nee, nee, nee!« verlauten, während das duftende Futter gut verstaut in meinen Hosentaschen bleibt. Als sich die Ersten zu beruhigen beginnen und mit gespanntem Blick die Hand verfolgen, die sich langsam zur Hosentasche hin und wieder zurück bewegt, hebe ich schließlich den Zeigefinger – und warte ab, was passiert.
Es dauert eine ganze Weile, bis einer den Blick von der mit Futter gefüllten Hand abwendet und mir – vielleicht noch eher zufällig – direkt in die Augen schaut. Der kurze Blickkontakt wird sogleich bestätigt und der Welpe – sehr zur Verwunderung seiner Geschwister – mit einem Futterbissen belohnt. Daraufhin laufe ich einmal quer durch den Raum und lasse sich die Welpen neu sortieren, um einem anderen die Chance zu geben, sich im Aufmerksamkeitsspiel zu beweisen.
Nach nicht einmal zehn Minuten hat jeder schon mehrfach den Jackpot geknackt und hocken alle Welpen mit ruhigem, mir zugewandtem Blick vor mir, wenn es in die nächste Runde geht. Noch einmal zehn Minuten später – meine Hosentaschen haben sich längst geleert – sind alle sechs Welpen eingeschlafen. »Lernen ist anstrengend«, lächle ich, als ich leise die Tür hinter mir schließe, »die beste Beschäftigung an einem Regentag«.
Fragezeichen
Ich weiß nicht, ob es am Regen liegt, der mir in den Kaffee getropft ist, als ich in den frühen Morgenstunden mit den Welpen im Garten stand – aber zum ersten Mal seit der Geburt der Welpen ist mir ein wenig melancholisch zumute. Viel wahrscheinlicher ist aber wohl, dass sich der Grund für die bleischwere Traurigkeit in dem Umstand findet, dass mit dem heutigen Tag auch der Abschied zum Greifen nahe scheint – genau zehn Tage sind es noch, bis uns die ersten drei Welpen verlassen werden –, und mir eben jener doch weit mehr zu schaffen macht, als ich wahrhaben möchte.
Leicht ist es nie, einen Welpen gehen zu lassen – insbesondere bei denen nicht, die sich während den neun Wochen der Welpenaufzucht als eher fordernde Charaktere erwiesen haben –, und leicht wird es auch diesmal nicht sein. Denn auch wenn die Entscheidung für jeden einzelnen Welpen – für jeden zukünftigen Besitzer – äußerst bewusst getroffen worden ist, bleiben bei jedem Abschied doch Zweifel. »Wer annimmt, dass die Zeit oder die Erfahrung daran irgendetwas ändern können, der irrt«, denke ich deshalb auch an diesem Morgen im Stillen bei mir, »beide machen es, ganz im Gegensatz, nur noch viel schlimmer!«
Nicht nur der Kauf eines Welpen beinhaltet – so wie es in meinen Kaufverträgen zu lesen ist – immer das Risiko, dass er sich in der Folge zu seinem Nachteil entwickelt, auch auf zwischenmenschliche Beziehungen mag das in gewissem Maße zutreffen. An Stelle der blinden Zuversicht, von der das Handeln des Neuzüchters oftmals noch geprägt ist, rücken mit der Zeit – mit jeder schlechten Erfahrung – also immer mehr Zweifel. »Zu Anfang ist es das Herz, das den Welpen nicht in die Welt hinausschicken will«, denke ich und blicke in den Regen, »irgendwann aber ist es der Kopf, der noch viel lauter protestiert!«
Ein Donnerschlag reißt mich aus meinen Gedanken. Der Wind lässt weiße Blütenblätter aus den Kirschbäumen regnen, der Himmel über mir teilt sich in Nachtschwarz und Tiefblau – wie zweigeteilt. »Wie passend«, denke ich, »genauso uneins fühle ich mich auch«.
© Johannes Willwacher