Offene Augen und ein großes, warmes Herz: sechs Border Collie Welpen, die Zeit und die Schwerkraft – und das Unausgesprochene dazwischen.
Power, time, gravity, love.
The forces that really kick ass
are all invisible.
Cloud Atlas, David Mitchell (2004)
Wenn man es genau nimmt, dann habt ihr schon weit mehr von der Welt gesehen als ich. Australien habe ich nämlich – wie so viele andere Länder und Ziele – bislang bloß mit dem Finger auf der Landkarte bereist. Ohne es zu ahnen habt ihr Wüsten und Ozeane überquert. Habt die Wolkengrenze durchstoßen, die hohen, offenen Wälder aus Akazien und Eukalyptus, den roten Sand des Outbacks hinter euch gelassen, seid mit einer letzten Ahnung vom Sommer über den Äquator getanzt, um schließlich im deutschen Winter zu landen. Um blind und taub in meine Hände geboren zu werden. Nein, ihr ahnt nicht, wie lang euer Weg bereits war – wie oft ihr der Zeit und der Schwerkraft trotzen musstet, um endlich am Leben zu sein. Vielleicht ahnt ihr aber, dass diese Hände euch ein Stück eures Weges tragen werden. Dass sie zu den ersten Dinge gehören, die ihr wahrnehmt, wenn ihr beginnt, die Welt mit offenen Augen zu sehen.
Das erste Augenpaar blinzelt mir am Morgen des zehnten Tages entgegen. Draußen hat es gerade zu dämmern begonnen. Durch den schmalen Spalt des halb offenen Fensters dringen Vogelstimmen in das noch dunkle Welpenzimmer, und hinter den Hügeln mischt sich am Horizont eine erste Ahnung von Morgenrot in das eiskalte Blau. Nachdem ich das Fenster wieder geschlossen und mir den Weg zurück zur Tür gebahnt habe, flammt das Licht im Zimmer auf. Die Hündin, die mich – so wie an jedem Tag seit der Geburt – schon vor einer guten Stunde geweckt hat, liegt inmitten der Welpen und blickt mich an. Ich hocke mich zu ihr und schaue schweigend dabei zu, wie ein Welpe nach dem anderen von ihren Zitzen ablässt, sich langsam streckt und in eine andere Ecke der Wurfkiste davonkriecht. Einer der beiden Rüden gähnt und reckt den Kopf. Und da ist es. Das erste silbrige Glänzen, das erste Licht zwischen den halb offenen Augenlidern.
»Kein roter Sand, bloß grüne Wiesen, kein Eukalyptus, bloß zwei Kirschbäume mit nackten Zweigen«, flüstere ich dem Welpen zu, mit dem ich kurz darauf am Fenster stehe, »und im Gras darunter Krokus und Schneeglöckchen, vom Frühling selbst ins Grün gemalt«. Nichts davon wird er gesehen oder verstanden haben – nachdem sich die Augen der Welpen öffnen, braucht es noch einige Tage, bis die trübe Sicht klar geworden ist – gleiches gilt für die Ohren. Aber vielleicht muss er das auch gar nicht. Weil man in das Unausgesprochene auch ohne Hören und Sehen hineinwachsen kann.
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