Über Worte und die Schwierigkeit, die Richtigen zu finden. Und warum man Barmherzigkeit am besten von Hunden lernen kann.
Ein Pferd und ein Hund waren befreundet. Und jeder wollte dem Freund eine Freude machen. So sparte sich der Hund die besten Knochen vom Munde ab und schenkte sie dem Pferd. Und das Pferd verzichtete auf das beste Heu und schenkte es dem Hund. Und so litten sie beide Hunger.
»Ich werde niemals zulassen, dass man dich in ein Altersheim steckt«, steht auf dem Zettel geschrieben, den mein Vater mir in die Hände drückt. Eng reihen sich die Buchstaben aneinander, die Bleistiftspur ist breit und an den Rändern ausgewischt – und obwohl es mir größte Mühe bereitet, das Geschriebene zu entziffern, ist es gerade der Zusatz, der kaum einen Finger breit von den drei kurzen Zeilen abgesetzt ist, der mich erkennen und erschaudern lässt. »Mein Enkel Johannes, acht Jahre alt.« Mein Vater erzählt, dass er die Notiz in einem Schuhkarton gefunden hat, in der Dieses und Jenes von meinem Großvater aufbewahrt worden sei, und dass mein Großvater nach dem Tod meiner Großmutter häufig davon gesprochen habe, die Wohnung im Haus meiner Eltern gegen einen Altersheimplatz eintauschen zu wollen. Mal aus Wut. Mal aus Selbstmitleid. Mal aus dem Bedürfnis heraus, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Und obschon mein Großvater seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, spüre ich in diesem Moment eine Hand, die sich mir unsichtbar auf die Schulter legt. Wie nennt sich dieses Gefühl?
In den vergangenen Wochen hat mich ein Gedanke immer wieder umgetrieben: der Gedanke, was Barmherzigkeit ist. Grund dafür war die Losung für das kommende Jahr – ein Bibelvers, der alljährlich von einem ökumenischen Gremium ausgewählt wird –, und die Gewohnheit, meine Neujahrswünsche an eben jenem Vers auszurichten. In den vergangenen Jahren hat das gut geklappt, denn zumeist lassen mir die Bibelworte so viel Spielraum, dass sie sich auch leicht in einen anderen – weniger glaubensschweren – Zusammenhang überführen lassen. Einen, der mir eher liegt und in dem auch ein Hund seinen Platz finden kann. In diesem Jahr aber sah das anders aus. »Was ist Barmherzigkeit überhaupt?«, fragte ich mich. Und: »Wie sollst du das glaubhaft aus dem eigenen Leben und Erleben ableiten – so kalt und abweisend, wie du dich selbst oft genug zeigst?«
Bis mir mein Vater am zweiten Weihnachtsfeiertag jenen Zettel in die Hände drückte, bin ich – zugegeben – ziemlich hilflos um den Begriff der Barmherzigkeit herumgeschlichen. Habe mir das Wort von allen Seiten angeschaut, es nach links, nach rechts gedreht, zur Nachsicht und zum Mitleid verfolgt. Habe versucht zu verstehen, aber immer weniger verstanden. Mit dem besagten Zettel in den Händen verstand ich aber plötzlich alles. »Vielleicht meint Barmherzigkeit nicht bloß mitzufühlen, sondern mit meinem Handeln dafür zu sorgen, dass jemand neue Perspektiven, neue Lebensmöglichkeiten erhält?«
Ein Hund kann das. Ganz ohne Worte. Einfach, indem er da ist. Indem er seine Schnauze in deinen Schoß legt und dir wortlos beweist: »Das wird schon wieder!« Vielleicht nehmen wir uns ein Beispiel daran. Und sind da. Ohne zu erwarten, ohne etwas einzufordern, ohne nur nach uns selbst zu sehen. Im neuen Jahr haben wir 365 Chancen dazu.
© Johannes Willwacher