Wie wäre das, wenn jeden Tag Weihnachten wäre? Ein Weihnachtsmärchen, das viel mehr, als nur eine Geschichte erzählt.
Text und Bild (Copyright): Johannes Willwacher
Someday soon,
we all will be together – if the fates allow.
Until then, we’ll have to muddle through somehow.
So, have yourself a merry little
Christmas now.
Meet Me in St. Louis, Judy Garland (1944)
Wenn die Tage zum Jahresende hin kürzer werden – wenn es Mensch und Tier schon zu vorgezogener Stunde zurück in die warmen Stuben und Ställe zieht –, sieht sich ein jeder einem Übermaß an Zeit gegenüber, dass genutzt und bewältigt werden will. Auch ich habe mich so an einem wolkenverhangenen Oktoberabend an meinem Schreibtisch wiedergefunden – froh, die nasskalte Pflicht des nachmittäglichen Spaziergangs hinter mich gebracht zu haben –, und wohl, weil ich nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, begonnen zu zeichnen.
Einem müden Geist spielt die Dunkelheit nur zu gerne üble Streiche.
Ich muss schon einige Stunden dort gesessen und manches missglückte Blatt von dem schweren Skizzenblock abgerissen haben, der zwischen Stiften und Farben vor mir lag, als mich ein Räuspern aufschrecken ließ, das aus dem Halbdunkel unter mir drang. Ich hielt inne – lauschte – und wollte mich schon wieder der angefangenen Zeichnung zuwenden, als ich das heisere Geräusch zum zweiten Mal vernahm. Langsam stand ich auf, trat einen Schritt von meinem Schreibtisch zurück und lugte darunter. »Nur der Papierkorb«, stellte ich kopfschüttelnd fest – und setzte in Gedanken gleich noch hinzu, dass es wohl besser sei, den Zeichenstift beiseite und die Füße hoch zu legen. »Einem müden Geist spielt die Dunkelheit nur zu gerne üble Streiche«, sagte ich also zu mir selbst und beugte mich vor, um das Licht der Schreibtischlampe zu löschen. Weiter kam ich jedoch nicht, denn im gleichen Augenblick erklang das schaurige Räuspern schon zum dritten Mal.
Während es manchem längst gereicht – es mancher mit der Angst zu tun bekommen und die Tür fest hinter sich geschlossen hätte –, ging ich unumwunden vor dem Schreibtisch auf die Knie, stieß den Papierkorb um und begann, ein zerknülltes Blatt nach dem anderen aus dem Haufen zu ziehen. Derweil die ersten Zeichnungen, die ich mit der flachen Hand auf den Dielen glättete, kaum auffällig waren und nichts weiter als hingeschmierte Kritzeleien zeigten, grinste mir von dem dritten Blatt schließlich ein Hund entgegen, der dem zuvor Gesehenen in keinster Weise entsprach. Seine Augen schienen seltsam lebendig. Und als er zu sprechen anfing, war er es auch.
»Schön, dass du mich endlich bemerkt hast«, sagte der Hund und ließ die Augen rollen. »Schön, dass du dich bemerkbar gemacht hast«, entgegnete ich ungläubig und fasste mir an den Kopf. Offenkundig musste ich über der Arbeit eingenickt und mir den sprechenden Hund herbeigeträumt haben – anders konnte es nicht sein. Der Hund selbst hatte sich indessen erhoben und saß, den Kopf neugierig zu mir aufgereckt, aufrecht auf dem Papier. Wasserfarbe tropfte von seiner Nase. »Du hast mich gerade noch rechtzeitig bemerkt«, sagte er und ließ die Zunge schnalzen, »also trödle nicht noch weiter herum, nimm dir Stift und Papier und fang endlich an, meine Geschichte aufzuschreiben!« Ich hob die Brauen und blickte ihn mit offenem Mund an: »Deine Geschichte?« Von der erneuten Gegenfrage gelangweilt, schickte der Hund sich an, sich mit dem nur halb ausgemalten Hinterlauf am Ohr zu kratzen. Nasse Farbe spritzte weit über die Dielen hinweg. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Farbe vom Gesicht und überlegte.
Wenn es nach mir ginge, dann sollte jeden Tag Weihnachten sein!
Der junge Hund musste einer der Weihnachtsgeschichten entsprungen sein, die ich in den letzten beiden Jahren geschrieben hatte. Vorsichtig nahm ich das Blatt vom Boden auf und setzte es mitsamt dem Hund auf dem Schreibtisch ab. »Bester Freund«, hob ich schließlich zu sprechen an, »wie soll ich deine Geschichte schreiben, wenn die Weihnachtszeit noch nicht einmal vor der Türe steht? Weihnachten ist noch immer nur einmal im Jahr – und allein schon, weil deine Geschichte eine Weihnachtsgeschichte ist, wirst du dich wohl oder übel noch gedulden müssen!« Das gefiel ihm offenbar nicht, denn kaum, dass ich zu Ende gesprochen hatte, ließ er seine Bleistiftzähne fletschen. »Kannst du dir vorstellen, wie langweilig es ist, das ganze Jahr in der Schublade zu sitzen und darauf zu warten, endlich hervorgekramt und erzählt zu werden? Welchem Hund würde das gefallen? Wenn es nach mir ginge, dann sollte jeden Tag Weihnachten sein!« Lange blickte ich den jungen Hund schweigend an. Dann riss ich einen neuen Bogen vom Skizzenblock ab und begann zu zeichnen.
Mit schnellen Strichen zeichnete ich einen sich immer höher auftürmenden Berg von Geschenken. Der junge Hund schaute mir dabei neugierig über die Schulter. Als ich schließlich den Pinsel zur Hand nahm und damit begann, die Szene mit bunten Wasserfarben auszumalen, sprang er geradewegs in die Zeichnung hinein und nahm auf einem runden Päckchen Platz, das sich ganz oben auf dem Geschenkeberg befand. »Wenn jeden Tag Weihnachten wäre, dann würden sich binnen einer Woche so viele Geschenke anhäufen, dass sie von einem Raum zum nächsten quellen und endlich aus der Haustür herausfallen würden. Die Eltern würden ihren Kindern täglich eine neue Puppe, ein Fahrrad und eine Ritterburg schenken, die Ehemänner ihren Frauen feine Wäsche, Schmuck und Lockenwickler – aber niemand mehr würde sich freuen, weil alles längst zu viel, zu teuer und zu selbstverständlich geworden wäre, und jeder würde die Freunde und Nachbarn verfluchen, die schon wieder ein achtlos hingeworfenes Päckchen auf dem Gehweg hinterlassen hätten.« Der junge Hund riss die Augen weit auf. »Bald schon wüsste niemand mehr, wohin mit den ganzen Geschenken – und auch deine Herrschaften würden wohl irgendwann beginnen, die Wäsche, den Schmuck und die Lockenwickler in die Schafställe auszulagern. Kannst du dir vorstellen, was ein Schaf mit zweihundert Lockenwicklern macht?«
Kannst du dir vorstellen, was ein Schaf mit zweihundert Lockenwicklern macht?
Der junge Hund drehte den Kopf und dachte nach. »So habe ich das gar nicht gesehen«, sagte er. Ich lehnte mich auf dem Stuhl langsam zurück und verschränkte die Arme im Nacken. »Wenn das Besondere zur lästigen Pflicht wird, hat niemand mehr Freude daran – schon gar nicht, wenn man der Pflicht täglich nachkommen muss und sie nach und nach ein immer tieferes Loch in den Geldbeutel frisst. Ein Geschenk kommt von Herzen. Zwanzig oder dreißig aber kommen mit Gift und Galle daher.« Mit spitzen Zähnen nagte der junge Hund an seinen Vorderläufen, hörte aber aufmerksam zu. »Ist das bei allen Dingen so?«, fragte er. »Bei vielen«, antwortete ich und ließ den Blick durch den fast nachtschwarzen Raum schweifen. »Wenn ich bloß ab und an einen Wurf Welpen aufziehe, ist jeder Einzelne etwas Besonderes. Ich bezweifle aber, dass das bei Züchtern, die jahrein, jahraus zwanzig oder dreißig Welpen aufziehen müssen, noch genauso aussieht. Da bleibt kaum noch etwas übrig von dem Gefühl, ein Geschenk in den Händen zu halten.« Der junge Hund nickte. »Das ist aber leider noch längst nicht alles«, sagte ich.
»Wie viele Tiere leben auf dem Hof, den ich für dich erfunden habe?«, fragte ich. Der junge Hund setzte sich auf und sprang von dem einen auf ein neues Blatt Papier. »Zuerst wären da die Schafe, zweihundert vielleicht, mit Lämmern und Böcken«, sagte er und hetzte mit strengem Blick den Bleistift über das Papier, »dann noch Hühner, Enten und Gänse, die in diesem oder jenem Pferch leben, die aber kein Hund, der etwas auf sich hält, jemals zählen würde«. Während ich ein Tier nach dem anderen zu Papier brachte, kreiste der junge Hund aufgeregt um die Zeichnung herum. »Wie gut das schon riecht!«, stieß er hervor und hob die Nase. »Du kannst den Gänsebraten schon riechen?«, fragte ich. »Und schmecken, sogar«, gab er zurück. Ich lachte. »Dann koste den Geschmack besser aus, denn bald schon wird auch die letzte Gans ihren Weg in den Kochtopf gefunden haben. Wo man an jedem Tag Weihnachten feiert, wird auch an jedem Tag gut gegessen. Und dass es auf dem Hof binnen weniger Wochen weder Gänse, noch Enten oder Hühner gäbe – dass man allesamt verspeist hätte –, ist eine traurige Gewissheit, die der unendliche Weihnachtstag mit sich bringt.«
Was wird dann aus mir?
Der junge Hund hielt im Laufen inne. »Aber was sollen die Herrschaften denn dann noch essen? Was sollen sie mir zustecken – heimlich, unter dem gedeckten Tisch –, wenn alles Federvieh gerupft und gebraten worden ist? Die Schafe, etwa?« Ich schüttelte den Kopf. »Die Schafe würden mit ihren Lockenwicklern viel zu albern aussehen, um sie noch zu essen. Viel eher würde man wohl tagein, tagaus gekochten Maisbrei auftischen – zu jeder Mahlzeit –, dick und klumpig und zäh.« Der junge Hund verzog das Gesicht. »Mit der Zeit würden deine Herrschaften dem Brei immer ähnlich werden – genauso dick, weil zu viele Ingwerplätzchen, zu viele Schokoladenpralinen und zu viel Pudding nun einmal dick machen, und genauso klumpig, weil sie am Esstisch festkleben und kaum noch das Haus verlassen würden.« Mitleidig betrachtete der junge Hund die übrigen Tiere, die sich neben ihm aufgereiht hatten, und ließ die Ohren hängen. »Wenn aber niemand mehr das Haus verlässt«, seufzte er, »und niemand mehr mit mir über die Weiden streift, was wird dann aus mir?« Ich überlegte und wollte schon einen neuen Bogen vom Skizzenblock abreißen, um eine weitere Zeichnung zu beginnen – zog stattdessen aber einen zerknüllten Zettel hervor, auf dem am Morgen meine Kaffeetasse gestanden hatte. »Für dich sähe es kaum besser aus«, sagte ich.
»Wenn jeden Tag Weihnachten wäre und ich jeden Tag eine neue Geschichte erfinden müsste, in die ich dich hinein erzählen kann, würde mir bald schon der Spaß daran vergehen. Die Zeichenstifte wären längst abgenutzt und auch die Farben verbraucht, so dass ich mich mit Spucke und Kaffeesatz begnügen, dein schwarzes Fell mit Asche und Staub ausmalen müsste. Du wärst nicht länger der junge Hund, den jedermann liebt und dem jeder gerne bei seinen Abenteuern folgt – du wärst bloß noch ein Schatten deiner selbst. Und deine Geschichten nichts als vergeudete Zeit.« Stumm saß der junge Hund mit gesenktem Kopf da. Es fiel nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Nachdem wir beide eine Weile geschwiegen und sich die Dunkelheit noch weiter im Raum ausgebreitet hatte, flüsterte er schließlich kaum hörbar in die Stille hinein, dass Weihnachten doch weiterhin nur einmal gefeiert werden und seine Geschichte eine Weihnachtsgeschichte bleiben sollte. »Auch wenn das bedeutet, bloß Teil einer Geschichte zu sein, die das ganze Jahr über in der Schublade liegt«, sagte er.
Nur weil man etwas nicht sieht, ist es nicht weniger bedeutsam.
»Nur weil man etwas nicht sieht, es nicht jeden Tag greifen und um sich haben kann, ist es nicht weniger bedeutsam«, antwortete ich und schluckte. »Du wirst niemals alt und krank werden, niemals sterben. Und wenn doch, dann wird es genügen, drei oder vier Seiten zurückzublättern, um dich wieder lebendig zu machen.« Nun tropfte auch mir Wasserfarbe von der Nasenspitze und hinterließ einen hellblauen Fleck auf dem Papier. »Weihnachten wird anders sein in diesem Jahr«, sagte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen. »Warum?«, fragte der junge Hund. »Weil in diesem Jahr ein großes Stück von meinem Herzen fehlt«, gab ich als Antwort zurück. »Dann schreib euch doch einfach selbst in die Geschichte hinein, mach sie zu eurer eigenen und blättere zurück«, lächelte er. Dann streckte er sich noch ein letztes Mal, zwinkerte aufmunternd und verschwand. »Unsere eigene Geschichte schreiben«, dachte ich. Und genau das tat ich dann auch.
Wir wünschen allen hoffnungsvolle Weihnachtstage!
Johannes, Dirk, Nell, Zion und Heidi
im Dezember 2020
Mehr davon?
Die Weihnachtsmärchen der beiden letzten Jahre
– »Die Geschichte vom alten Hund« und »Die zwölfte Nacht« –
kannst du hier nachlesen.
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