Der Sommer, die Hunde und das Virus: zehn Geschichten über das Glück, das war – und eine über die Angst, die bleibt.
I think we’re alone now,
there doesn’t seem to be anyone around.
I think we’re alone now,
the beating of our hearts is the only sound.
Tiffany (1987)
Es ist noch früh am Morgen, als ich mir am letzten Augustwochenende einen Platz zwischen zwei schlafenden Hunden suche, die sich auf dem Sofa breit gemacht haben. Mit dem Notizblock, den ich zusammengerollt in der linken Hand halte, schiebe ich den einen vorsichtig beiseite, und stelle den Kaffeebecher, der randvoll in der rechten Hand dampft, auf der breiten Lehne des Ledersofas ab. Während der so geweckte Hund sich streckt und gähnend erhebt, um irgendwo im Halbdunkel des benachbarten Esszimmers zu verschwinden, zuckt der andere bloß im Schlaf mit den Beinen. Seine Lefze kräuselt sich und die Rute klopft aufgeregt auf eines der weichen Kissen. Ich habe mich noch nicht ganz gesetzt, als er schließlich ein ersticktes Wuffen zwischen den Zähnen hervorstößt, aufschreckt und mich anklagend anblickt. »Das warst du«, sage ich zu ihm, »ich kann noch immer nicht bellen«.
Ich kann ohne Mühen den ganzen Tag damit verbringen, meine Hunde zu beobachten, mit ihnen zu sprechen oder einfach nur mit ihnen abzuhängen. In Zeiten, in denen sich selbst das Arbeitsleben auf Videokonferenzen am Küchentisch beschränkt, ist das ein nicht unbedeutender Vorteil. Die Hunde können zwar nicht jedwedes Bedürfnis nach sozialem Kontakt auffangen, ihre Gegenwart allein macht das Ausbleiben sozialer Kontakte aber um ein Vielfaches leichter. Um das nachvollziehen zu können, genügt es schon, früh morgens mit einem Notizblock in den Händen auf dem Sofa zu sitzen: wenn dabei der Kopf eines Hundes auf einem der ausgestreckten Beine ruht, fühlt sich das viel besser an.
Die volle Tragweite des Problems wird sich aber während der vergangenen Monate noch nicht vollends gezeigt haben: bei gutem Wetter und warmen Temperaturen lassen sich genügend andere Wege finden, um über den Mangel hinwegzutäuschen, der sich durch »Social Distancing« ergeben hat. Wie wird das im Herbst, im Winter werden? Wie, wenn die nächste große Infektionswelle, der nächste Lockdown das Land erfasst, und das Leben, das sich seit dem Frühjahr zum Großteil draußen abgespielt hat, zum Erliegen kommt? Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, der angesichts der ersten Herbststürme befürchtet, sich irgendwann doch noch aufs Bellen einlassen zu müssen.
Seit dem Beginn der Pandemie habe ich Tagebuch geführt. Anfangs bloß, um den Tod von Ida zu bewältigen. Ganz allein für mich – und ohne die Absicht, dass irgendjemand sonst auch nur ein Wort davon zu lesen bekommen sollte. In den Wochen und Monaten, die folgten, ist aus der anfänglichen Trauerbewältigung aber nach und nach etwas anderes geworden. Mal habe ich die Zeit am Morgen dazu genutzt, um meinen Alltag mit den Hunden zu beschreiben. Mal aktuelle Ereignisse zum Anlass genommen, um mir schreibend meinen eigenen Standpunkt zu verdeutlichen. Und mal hatte ich – das kann ich ganz offen zugeben – einfach auch nichts Besseres zu tun. Zehn dieser Tagebucheinträge habe ich stellvertretend ausgesucht, um unseren Sommer zu beschreiben.
Sonntag, 28. Juni
Sommer mit Hund, das heißt immer auch früh aufzustehen, um der Hitze zu entkommen, und die Wege möglichst so auszuwählen, dass sie durch schattige Wälder oder am Wasser entlangführen. Von beidem haben wir im Westerwald zum Glück nicht wenig, und mit noch etwas mehr Glück findet man am frühen Morgen tatsächlich auch noch ein Plätzchen, an dem nicht schon dreiundzwanzig andere Hunde durch das Wasser waten – eines, dass man ganz für sich alleine hat.
In der Kroppacher Schweiz gibt es entlang der Nister so manche schöne Badestelle, die zum Verweilen einlädt. Aber wie das mit schönen Dingen nun mal leider so ist, gefallen sie auch den meisten anderen, so dass es gerade an heißen Tagen schwer fällt, zwischen Kinderwagen und Campingdecken noch einen Platz für sich und die Vierbeiner zu finden. Wir sind deshalb besonders früh aufgebrochen – und haben nicht nur die drei Hauptanziehungspunkte, zu denen wohl das Weltende bei Stein-Wingert, der Zusammenfluss von Großer und Kleiner Nister bei Heimborn und die Wanderwege rund um das Kloster Marienstatt gehören, sondern auch den Westerwaldsteig bewusst links liegen lassen.
Und siehe da: ein Paradies ganz für uns allein – von dem einen oder anderen Eisvogel, der pfeilschnell wieder verschwunden ist, einmal abgesehen –, ein Paradies, in dem sich auch drei Border Collies pudelwohl fühlen. Und ich mich ein klein wenig so wie das Kind, das schon vor dreißig Jahren in jeden Bach gefallen ist. »Herr Willwacher macht sich nass« – das könnte ein schöner Titel für einen Wanderführer sein.
Montag, 27. Juli
Es ist Montagmorgen, kurz vor sieben – aber von den beiden Hündinnen, deren Trippeln ich für gewöhnlich spätestens dann im Treppenhaus höre, wenn ich meine erste Tasse Kaffee ausgetrunken habe und mir eine zweite einschenken will, ist noch nichts zu vernehmen. »Besuch ist doch anstrengender, als man denkt«, sage ich zu mir selbst. Zu wem auch sonst? Es ist ja sonst niemand da!
In den vergangenen Monaten ist mein Postfach von zahlreichen Welpenanfragen geflutet worden. Wenige sind das zwar auch sonst nicht – seit dem Beginn der Pandemie hat die Zahl aber stetig zugenommen. Auffallend ist, wie viele dieser Anfragen einem spontanen Impuls zu folgen scheinen – oder im Umkehrschluss: wie wenige Welpeninteressenten sich die Langfristigkeit einer solchen Entscheidung bewusst vor Augen führen. Woher ich das wissen will? Weil ich meinem Bauchgefühl folge und sehr gezielt nachfrage – und gerade von den Familien, die seit dem Frühjahr mit Kind und Kegel zuhause sitzen, fast nie eine Antwort erhalte.
Das mag natürlich auch daran liegen, dass wir derzeit gar keine Welpen zu vergeben haben und der geplante Wurf frühestens im April nächsten Jahres das Licht der Welt erblicken wird. Viele Interessenten tun sich schwer damit zu warten – viele möchten nach dem ersten Besuch gleich den gewünschten Traumwelpen mit nach Hause nehmen. Ich möchte mir aber die Zeit nehmen, die zukünftigen Welpeneltern kennenlernen zu können – selbst eine Beziehung aufzubauen, wenn man so will. Das nicht allein, um schlussendlich den richtigen Welpen aussuchen zu können, sondern auch, um ganz beherzt »Ja!« sagen zu können. Man kauft bei uns schließlich nicht nur einen Welpen. Man hat auch mich für eine ziemlich lange Zeit an der Backe.
Es ist jetzt viertel nach sieben – und die beiden Hündinnen schlafen noch immer. Ich glaube, das Besuchswochenende muss gut gewesen sein.
Dienstag, 28. Juli
Es gibt wohl kaum eine andere Pflanze, die das Gesicht des Sommers so sehr prägt, wie die leuchtend blaue Kornblume. Aus genau diesem Grund schätze auch ich sie, wenn ich mit der Kamera losziehe: der körbchenförmige Blütenstand ist ein willkommener Farbtupfer auf den sommerlich trockenen Äckern – und zusammen mit einem schwarz-weißen Hund macht sich ein bisschen Farbe immer ausnehmend gut.
Als studierter Germanist verbinde ich mit der blauen Blume aber noch ein wenig mehr – auch wenn ich das Studium zugunsten der »schönen Künste« schon nach vier Semestern abgebrochen habe: Liebe und Sehnsucht, Erkenntnis und Unendlichkeit sind spätestens seit der Romantik symbolträchtig an die Kornblume geknüpft. Dass sie aber auch in rechten Kreisen gerne als Erkennungssymbol genutzt wird, war mir lange nicht bewusst – am ehesten wahrscheinlich, weil das zarte Pflänzchen für so eine hässliche politische Instrumentalisierung doch viel zu hübsch ist. Schon klar, dass romantische Ideale wie »Heimatliebe« und »Naturverbundenheit« den Faschisten gefallen. Am Revers eines selbsternannten Patrioten mag ich das Pflänzchen aber trotzdem nicht sehen.
Deshalb: holt sie euch zurück. Lasst die Kornblume blühen, wo sie will. Und wenn überhaupt, dann soll sie ein schwarz-weißer Hund tragen. Weil schwarz und weiß zusammen doch um so vieles besser aussieht, als ödes, blödes Braun.
Mittwoch, 29. Juli
Wenn ich mich umschaue und mich durch die Deckmeldungen und Wurfankündigungen anderer Züchter klicke, dann überkommt mich nicht selten das Gefühl, das alles immer schneller geht. Kaum ist die erste Hündin eingezogen, wird eine Zuchtstätte angemeldet und der erste Wurf geplant – und weil eine Hündin alleine nicht reicht, kommen in Windeseile noch eine zweite und dritte dazu, die auch schnellstmöglich zuchtfertig gemacht werden müssen. Das kann man hinnehmen und sagen, dass die Zielsetzung den Zeitpunkt bestimmt – und wenn das Ziel ist, sich als Züchter zu etablieren, behält man die Zeit am besten ständig im Blick. Das nicht allein, weil das öffentliche Gedächtnis möglichst lückenlos mit süßen Welpenbildern gespeist werden will, sondern auch, weil eine Hündin – sie ahnen es – ganz einfach nicht jünger wird. Man muss also früh anfangen, wenn man viel erreichen will. Das kann man hinnehmen, wie gesagt. Muss man aber nicht.
Unsere Zuchtwartin hat einmal gesagt, dass man nach drei selbst gezogenen Würfen bereits zum alten Eisen gehört. Zum einen, weil wohl nicht wenige Züchter schon nach dem ersten Wurf merken, dass ihnen die Welpenaufzucht zu viel abverlangt: wer trotz der Anstrengungen weiter macht, hat wohl Gefallen daran gefunden. Zum anderen sind zwischen dem ersten und dem dritten Wurf aber – hier widerspricht die Annahme meinem Bauchgefühl – auch schon mehrere Jahre vergangen. Jahre, in denen man Erfahrungen sammeln und die Züchterpersönlichkeit reifen konnte. Wie passt ein »Höher, Schneller, Weiter« da ins Bild? Findet man Zeit, einen Wurf zu evaluieren und sich kritisch mit dem Erreichten auseinanderzusetzen, wenn die Hündin schon wieder belegt, der nächste Wurf schon wieder in Erwartung ist? Oder geht es gar nicht mehr darum, sich ehrlich mit den Vorzügen und Fehlern zu befassen? Und nur noch darum, auch selbst als Züchter mitzumischen?
In neun Jahren habe ich sieben Würfe gezogen – zum alten Eisen dürfte ich also längst schon gehören. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr überkommt mich der Eindruck, dass ich vielleicht auch nur einer jener Alten bin, die mit dem Kissen den ganzen Tag im Fenster liegen, und lauthals auf die Jungen – auf die Neuzüchter – schimpfen. Das kann man so sehen. Muss man aber nicht.
Sonntag, 2. August
Wer von Bad Marienberg aus durch das Nistertal wandert, der wird – sobald er Langenbach passiert und die Hardter Mühle hinter sich gelassen hat – irgendwann verwundert den Kopf heben und über die dichten Baumreihen hinweg zum Himmel spähen. Kurz bevor die gleichnamige Ortschaft erreicht ist, spannt sich nämlich ein mächtiges Ungetüm über das Nistertal. Einstmals ist die Erbacher Brücke – eben jenes, beinahe vierzig Meter hohe Bauwerk – die größte Betonbrücke Deutschlands gewesen. Heute – fast fünfzig Jahre nach der Aufgabe des Bahnverkehrs – erinnert nur noch ihre imposante Größe an die ehemalige Bedeutung. Am Bauwerk selbst hat längst der Zahn der Zeit genagt.
Den Hunden und mir ist der Weg nach oben an diesem Tag zu beschwerlich – schon früh am Morgen zeigt das Thermometer gut und gerne fünfundzwanzig Grad –, also ziehen wir es vor, uns abseits des Westerwaldsteigs durch die dichte Ufervegetation zu schlagen und Füße sowie Pfoten bei einem Bad in der rauschenden Nister zu kühlen. »So lässt sich auch der heißeste Tag des Jahres gut aushalten«, denke ich bei mir, während die Hunde über die rundgewaschenen Basaltbrocken hinweg hechten und in die tiefen Gumpen tauchen, »so lässt es sich aushalten und die Zeit ganz vergessen«. Mit dem Gestern hoch über unseren Köpfen, dem Morgen irgendwo die steilen Hänge hinauf, bleiben nur das Wasser, die Hunde und das Jetzt. Und das reicht. Genauso sieht’s aus.
Dienstag, 4. August
Wenn ich unsere Nell gerade eintopfen würde, könnte ich in ein paar Jahren wahrscheinlich Kirschen ernten. Nell tut seit Wochen nämlich nichts lieber, als die überreifen Kirschen zu fressen, die zu weit oben hingen, um von uns gepflückt und eingekocht zu werden, und die nun aus freien Stücken vom Baum heruntergefallen sind. Das sicherlich nicht nur, weil der Zuckergehalt der süßen Früchte nun besonders hoch ist, sondern auch, weil das überreife Steinobst im Magen zu Alkohol nachgärt. Als ältere Dame weiß eben auch unsere Nell: ein Likörchen geht immer! Und: so richtig lustig wird’s erst nach dem zweiten. »Ich bin gar nicht betrunken, der Boden wollte nur kuscheln!« Dass wir ihr den Spaß zunehmend verderben und die übrig gebliebenen Kirschen täglich entsorgen, gefällt ihr deshalb herzlich wenig.
Den Hang zum gepflegten Vollrausch hat aber scheinbar nicht nur die elfjährige Hündin – die mit gezuckertem Bier gefüllte Wespenfalle, die ich unter einem der Bäume in unserem Garten aufgestellt habe, ist auch mit schöner Regelmäßigkeit ausgetrunken. Beobachten konnte ich den Übeltäter dort zwar noch nicht – mein Instinkt sagt mir aber, dass es sich lohnen könnte, einmal unter den Blätterhaufen hinter dem Schuppen zu schauen. Mit ziemlicher Sicherheit würde ich dort einen betrunkenen Igel finden. Der mich schielend anschaut und lallt: »Herr Ober, noch ein Helles, bitte!«
Freitag, 7. August
Der Ort, in dem ich aufgewachsen bin und in dem meine Eltern noch immer leben, hatte bis in die sechziger Jahre hinein einen – nicht nur für zeitgenössische Ohren – ziemlich anrüchigen Namen. In der Hoffnung, ein neuer Name möge sich günstig auf den Fremdenverkehr auswirken, entschied man 1959, sich von »Kotzenroth« zu trennen und fortan »Rosenheim« zu heißen. Ähnliches war auch schon früher in anderen Gemeinden auf dem Westerwald geschehen, waren Ortsnamen wie »Rotzenhahn« und »Kackenberg« von der Landkarte verschwunden – und wohl weil sich am Ort gleich zwei Flurnamen fanden, bei denen sich der unwiderstehliche Rosenduft erahnen ließ, einigte man sich schließlich mehrheitlich darauf, eben jenem Duft zu folgen. Bis 1963 sollte es dauern, bis der Namenswechsel endlich genehmigt wurde. Eine Belebung des Fremdenverkehrs ist ausgeblieben. »Kotzert« hingegen ist in der Umgangssprache auch heute noch ziemlich lebendig.
Dass auch die Hunde etwas mit dem Namen anzufangen wissen, hat aber einen anderen Grund. Nicht weit vom Ortsrand entfernt, befindet sich ein Basaltsteinbruch, der in den siebziger Jahren in den Ruhestand geschickt und der Natur überlassen worden ist: die »Kotzenrother Lay«. Während die Brecheranlagen, an die ich mich noch aus Kindertagen erinnern kann, in den frühen neunziger Jahren verschwunden sind, und nur noch vereinzelte, von wildem Grün überwucherte Betonruinen an die industrielle Nutzung erinnern, hat es den Hunden vor allem der See angetan, der nach der Flutung des Steinbruchs in den achtziger Jahren entstanden ist. Schon mein erster Border Collie hat vor zwanzig Jahren im klaren Wasser seine Runden gedreht – und damals ist es dort tatsächlich noch herrlich ruhig gewesen. Heute muss man Glück haben, um einen ruhigen Moment zu erwischen – zu viele Besucher lockt der abgeschiedene Flecken mittlerweile an. Mit Kinderwagen, Kugelgrill und Campingstühlen schlägt man dort auf, hat nicht nur die Bratwurst, sondern auch den Bierkasten dabei – und weil manchem die Ruhe dann doch zu eintönig ist, muss auch das mitgebrachte Radio im Dauerbetrieb lärmen.
Wir haben Glück an diesem Morgen und sind ganz allein. Vor der Schranke parkt lediglich ein weiteres Auto. »Meine Mutter ist wieder früh unterwegs«, sage ich zu Dirk und lache. Das besagte Auto gehört nämlich ihr. Und nicht nur das fühlt sich ein wenig wie Nachhause kommen an.
Dienstag, 11. August
Stellen sie sich ein Maisfeld vor. Hochgewachsene Reihen aus kräftigen Pflanzen, die sich noch viel weiter erstrecken, als sie schauen können. Sehen sie das Feld vor sich? Dann fassen sie sich ein Herz und setzen den ersten Schritt hinein. Schon nach dem zweiten oder dritten hat der Mais sie verschluckt, und spätestens nach dem fünften sieht es in alle Richtungen gleich aus. Trauen sie sich, trotzdem weiter zu gehen? Auch auf die Gefahr hin, sich selbst zu verlieren und ziellos im dichten Grün umherzuirren? Oder schrecken sie jetzt schon vor dem Knacken, dem Schmatzen, dem Stampfen und Grollen zurück? Vielleicht geht es ihnen ähnlich, und die Angst, sich im Mais zu verlaufen, haben längst andere Ängste abgelöst. Vielleicht ist es jetzt die Angst, von etwas Ungeheurem gefunden zu werden, die ihnen das Herz bis zum Hals schlagen lässt. War das ein Wildschwein? Oder ein Wolf? Oder etwas, für das sie noch gar keinen Namen haben?
Vor fast zwanzig Jahren habe ich mich selbst in einem solchen Maisfeld verloren. Einem, das gemeinhin als Panikstörung bezeichnet wird. Zu begreifen, was das heißt, gelingt nur wenigen – und auch mir will es nicht gelingen, jedes Symptom, jede Einschränkung, jedes Vermeidungsverhalten zu beschreiben. Wie ein wildes Tier, das danach strebt, sein Territorium zu erweitern, fordert auch die Krankheit immer mehr Raum – werden es mit der Zeit immer mehr Orte und Anlässe, die willkürlich markiert, mit der Angst vor der Angst besetzt sind. Der namenlose Schrecken versteckt sich nicht mehr nur im Maisfeld. Er ist überall. Er ist die ganze Welt.
In zwanzig Jahren habe ich gelernt, damit zu leben. Habe herausgefunden, was den Beutetrieb des Ungeheuers triggert, und Techniken entwickelt, um die aufkeimende Panik möglichst schnell wieder zu ersticken. Meistens gelingt das gut. Manches – wie große Menschenansammlungen – muss ich mir aber bis heute deshalb versagen. Wenn sie sich schon einmal gefragt haben, warum ich selbst nie im Ausstellungsring stehe: hier haben sie die Antwort.
Stellen sie sich ein Maisfeld vor. Nur diesmal, mit einem Hund an ihrer Seite. Das fühlt sich gleich viel besser an. Oder?
Freitag, 21. August
»Wie hat es nur so weit kommen können?«, ist einer der Gedanken, die mich seit einer Woche umtreiben. Grund dafür ist eine größere Anzahl von Hunden, die durch das zuständige Veterinäramt bei einer namhaften Züchterin beschlagnahmt worden ist – einer Züchterin, die in meinem Zuchtverein tätig war. Die Missstände vor Ort waren seit vielen Jahren bekannt und seitens des Vereins ist oft genug versucht worden, dem einen Riegel vorzuschieben – das weiß ich aus erster Hand. Von Hausverboten ist im Nachgang die Rede, von Zuchtwarten, die Wurfabnahmen im Freien durchführen mussten, und von Ausschlussverfahren, die wegen Formfehlern niemals wirksam wurden. Die Frage, wen hier am Ende die Hauptschuld trifft – ob Ämter und Behörden früher hätten eingreifen müssen, ob der Zuchtverein selbst zu lange die Hände untätig in den Schoß gelegt hat – interessiert mich aber nur zweitrangig. »Wie hat es nur so weit kommen können?«, frage ich mich viel eher im Hinblick auf die Züchterin selbst. Gibt es eine unsichtbare Linie, die man als Züchter niemals überschreiten sollte?
Ich glaube, dass wir als Züchter in mehrfacher Hinsicht von solchen Linien umgeben sind. Eine trennt Leidenschaft von Profit und Prestige. Eine andere das Glück von der Gewohnheit. Eine weitere die Fürsorge von der Überforderung. Und eine letzte vielleicht den Zweifel von der Selbstverleugnung.
Mir ein Urteil anzumaßen, wie viele Linien im besagten Fall überschritten worden sind, halte ich für vermessen. Vielleicht sollten wir Züchter uns stattdessen noch viel öfter die Frage stellen, wo wir selbst gerade stehen. Ob es noch Leidenschaft ist, die uns Hunde halten lässt. Ob wir noch Glück dabei empfinden, einen Wurf Welpen aufzuziehen. Ob wir noch jedem unsere Hunde ganz individuell gerecht werden können. Und ob wir noch Zweifel hegen – denn wer aufhört zu zweifeln, der hinterfragt sich auch nicht selbst.
Sonntag, 23. August
Treffen sich zwei, die sich im Wald verlaufen haben. Während sich herausstellt, dass der eine schon seit Tagen dort umherirrt und längst nicht mehr sagen kann, auf welchem Weg er in den Wald hineingeraten ist, hat der andere den sicheren Pfad erst vor Kurzem verlassen. Die Frage, wie es am leichtesten gelingen kann, aus dem dichten Wald wieder herauszufinden, lässt dann auch nicht lange auf sich warten. Aber wer soll sich nun wem anschließen? Hat der, der schon seit Tagen unterwegs ist, die besseren Chancen sich zu orientieren? Oder führt dessen »Zweimal links und an der toten Eiche rechts abbiegen« auch den anderen bloß in die Irre?
Wenn ich in Hundeforen die Frage lese, welchen Züchter man empfehlen kann, muss ich immer ein wenig an dieses Bild denken. Wenn es mir, bildlich gesprochen, bloß darum geht, möglichst bald wieder aus dem Wald heraus zu finden, macht es kaum einen Unterschied, wessen Meinung ich folge: ohne ein erklärtes Ziel gelange ich früher oder später auf jedem Weg dorthin. Anders sieht das aus, wenn ich klare Absichten verfolge. Wenn ich weiß, wo ich am Ende des Tages ankommen will. Dann fühlt sich vielleicht sogar das »Zweimal links und an der toten Eiche rechts abbiegen« für mich erst einmal richtig an. Um herauszufinden, welcher Weg durch den Wald der richtige ist, bleibt mir letztendlich aber doch nichts anderes übrig, als mir Zeit zu lassen – und auf eigene Faust auszuprobieren. Selbst wenn das heißt, dass sich so mancher Weg als Holzweg erweist.
Treffen sich zwei, die sich im Wald verlaufen haben. Und nach vielen Reden ist keiner klüger, als der andere. Auch das sieht in Hundeforen nicht anders aus.
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