Der Sommer, die Hunde und das Virus: zehn Geschichten über das Glück, das war – und eine über die Angst, die bleibt.

I think we’­re alo­ne now,
the­re does­n’t seem to be anyo­ne around.
I think we’­re alo­ne now,
the bea­ting of our hearts is the only sound.
Tif­fa­ny (1987)

Es ist noch früh am Mor­gen, als ich mir am letz­ten August­wo­chen­en­de einen Platz zwi­schen zwei schla­fen­den Hun­den suche, die sich auf dem Sofa breit gemacht haben. Mit dem Notiz­block, den ich zusam­men­ge­rollt in der lin­ken Hand hal­te, schie­be ich den einen vor­sich­tig bei­sei­te, und stel­le den Kaf­fee­be­cher, der rand­voll in der rech­ten Hand dampft, auf der brei­ten Leh­ne des Leder­so­fas ab. Wäh­rend der so geweck­te Hund sich streckt und gäh­nend erhebt, um irgend­wo im Halb­dun­kel des benach­bar­ten Ess­zim­mers zu ver­schwin­den, zuckt der ande­re bloß im Schlaf mit den Bei­nen. Sei­ne Lef­ze kräu­selt sich und die Rute klopft auf­ge­regt auf eines der wei­chen Kis­sen. Ich habe mich noch nicht ganz gesetzt, als er schließ­lich ein erstick­tes Wuf­fen zwi­schen den Zäh­nen her­vor­stößt, auf­schreckt und mich ankla­gend anblickt. »Das warst du«, sage ich zu ihm, »ich kann noch immer nicht bellen«.

Ich kann ohne Mühen den gan­zen Tag damit ver­brin­gen, mei­ne Hun­de zu beob­ach­ten, mit ihnen zu spre­chen oder ein­fach nur mit ihnen abzu­hän­gen. In Zei­ten, in denen sich selbst das Arbeits­le­ben auf Video­kon­fe­ren­zen am Küchen­tisch beschränkt, ist das ein nicht unbe­deu­ten­der Vor­teil. Die Hun­de kön­nen zwar nicht jed­we­des Bedürf­nis nach sozia­lem Kon­takt auf­fan­gen, ihre Gegen­wart allein macht das Aus­blei­ben sozia­ler Kon­tak­te aber um ein Viel­fa­ches leich­ter. Um das nach­voll­zie­hen zu kön­nen, genügt es schon, früh mor­gens mit einem Notiz­block in den Hän­den auf dem Sofa zu sit­zen: wenn dabei der Kopf eines Hun­des auf einem der aus­ge­streck­ten Bei­ne ruht, fühlt sich das viel bes­ser an.

Die vol­le Trag­wei­te des Pro­blems wird sich aber wäh­rend der ver­gan­ge­nen Mona­te noch nicht voll­ends gezeigt haben: bei gutem Wet­ter und war­men Tem­pe­ra­tu­ren las­sen sich genü­gend ande­re Wege fin­den, um über den Man­gel hin­weg­zu­täu­schen, der sich durch »Social Distancing« erge­ben hat. Wie wird das im Herbst, im Win­ter wer­den? Wie, wenn die nächs­te gro­ße Infek­ti­ons­wel­le, der nächs­te Lock­down das Land erfasst, und das Leben, das sich seit dem Früh­jahr zum Groß­teil drau­ßen abge­spielt hat, zum Erlie­gen kommt? Ich glau­be, ich bin nicht der Ein­zi­ge, der ange­sichts der ers­ten Herbst­stür­me befürch­tet, sich irgend­wann doch noch aufs Bel­len ein­las­sen zu müssen.

Seit dem Beginn der Pan­de­mie habe ich Tage­buch geführt. Anfangs bloß, um den Tod von Ida zu bewäl­ti­gen. Ganz allein für mich – und ohne die Absicht, dass irgend­je­mand sonst auch nur ein Wort davon zu lesen bekom­men soll­te. In den Wochen und Mona­ten, die folg­ten, ist aus der anfäng­li­chen Trau­er­be­wäl­ti­gung aber nach und nach etwas ande­res gewor­den. Mal habe ich die Zeit am Mor­gen dazu genutzt, um mei­nen All­tag mit den Hun­den zu beschrei­ben. Mal aktu­el­le Ereig­nis­se zum Anlass genom­men, um mir schrei­bend mei­nen eige­nen Stand­punkt zu ver­deut­li­chen. Und mal hat­te ich – das kann ich ganz offen zuge­ben – ein­fach auch nichts Bes­se­res zu tun. Zehn die­ser Tage­buch­ein­trä­ge habe ich stell­ver­tre­tend aus­ge­sucht, um unse­ren Som­mer zu beschreiben.

Sonntag, 28. Juni

Border Collie Hündin beim Schwimmen
Zum Schwim­men in der Kropp­a­cher Schweiz

Som­mer mit Hund, das heißt immer auch früh auf­zu­ste­hen, um der Hit­ze zu ent­kom­men, und die Wege mög­lichst so aus­zu­wäh­len, dass sie durch schat­ti­ge Wäl­der oder am Was­ser ent­lang­füh­ren. Von bei­dem haben wir im Wes­ter­wald zum Glück nicht wenig, und mit noch etwas mehr Glück fin­det man am frü­hen Mor­gen tat­säch­lich auch noch ein Plätz­chen, an dem nicht schon drei­und­zwan­zig ande­re Hun­de durch das Was­ser waten – eines, dass man ganz für sich allei­ne hat.

In der Kropp­a­cher Schweiz gibt es ent­lang der Nis­ter so man­che schö­ne Bade­stel­le, die zum Ver­wei­len ein­lädt. Aber wie das mit schö­nen Din­gen nun mal lei­der so ist, gefal­len sie auch den meis­ten ande­ren, so dass es gera­de an hei­ßen Tagen schwer fällt, zwi­schen Kin­der­wa­gen und Cam­ping­de­cken noch einen Platz für sich und die Vier­bei­ner zu fin­den. Wir sind des­halb beson­ders früh auf­ge­bro­chen – und haben nicht nur die drei Haupt­an­zie­hungs­punk­te, zu denen wohl das Welt­ende bei Stein-Win­gert, der Zusam­men­fluss von Gro­ßer und Klei­ner Nis­ter bei Heim­born und die Wan­der­we­ge rund um das Klos­ter Mari­en­statt gehö­ren, son­dern auch den Wes­ter­wald­steig bewusst links lie­gen lassen.

Und sie­he da: ein Para­dies ganz für uns allein – von dem einen oder ande­ren Eis­vo­gel, der pfeil­schnell wie­der ver­schwun­den ist, ein­mal abge­se­hen –, ein Para­dies, in dem sich auch drei Bor­der Col­lies pudel­wohl füh­len. Und ich mich ein klein wenig so wie das Kind, das schon vor drei­ßig Jah­ren in jeden Bach gefal­len ist. »Herr Will­wa­cher macht sich nass« – das könn­te ein schö­ner Titel für einen Wan­der­füh­rer sein.

Montag, 27. Juli

Border Collie Hündin hält eine Sonnenblume in der Schnauze
Gol­de­ne Fel­der, blau­er Him­mel: so soll der Som­mer aussehen

Es ist Mon­tag­mor­gen, kurz vor sie­ben – aber von den bei­den Hün­din­nen, deren Trip­peln ich für gewöhn­lich spä­tes­tens dann im Trep­pen­haus höre, wenn ich mei­ne ers­te Tas­se Kaf­fee aus­ge­trun­ken habe und mir eine zwei­te ein­schen­ken will, ist noch nichts zu ver­neh­men. »Besuch ist doch anstren­gen­der, als man denkt«, sage ich zu mir selbst. Zu wem auch sonst? Es ist ja sonst nie­mand da!

In den ver­gan­ge­nen Mona­ten ist mein Post­fach von zahl­rei­chen Wel­pen­an­fra­gen geflu­tet wor­den. Weni­ge sind das zwar auch sonst nicht – seit dem Beginn der Pan­de­mie hat die Zahl aber ste­tig zuge­nom­men. Auf­fal­lend ist, wie vie­le die­ser Anfra­gen einem spon­ta­nen Impuls zu fol­gen schei­nen – oder im Umkehr­schluss: wie weni­ge Wel­pen­in­ter­es­sen­ten sich die Lang­fris­tig­keit einer sol­chen Ent­schei­dung bewusst vor Augen füh­ren. Woher ich das wis­sen will? Weil ich mei­nem Bauch­ge­fühl fol­ge und sehr gezielt nach­fra­ge – und gera­de von den Fami­li­en, die seit dem Früh­jahr mit Kind und Kegel zuhau­se sit­zen, fast nie eine Ant­wort erhalte.

Das mag natür­lich auch dar­an lie­gen, dass wir der­zeit gar kei­ne Wel­pen zu ver­ge­ben haben und der geplan­te Wurf frü­hes­tens im April nächs­ten Jah­res das Licht der Welt erbli­cken wird. Vie­le Inter­es­sen­ten tun sich schwer damit zu war­ten – vie­le möch­ten nach dem ers­ten Besuch gleich den gewünsch­ten Traum­welpen mit nach Hau­se neh­men. Ich möch­te mir aber die Zeit neh­men, die zukünf­ti­gen Wel­pen­el­tern ken­nen­ler­nen zu kön­nen – selbst eine Bezie­hung auf­zu­bau­en, wenn man so will. Das nicht allein, um schluss­end­lich den rich­ti­gen Wel­pen aus­su­chen zu kön­nen, son­dern auch, um ganz beherzt »Ja!« sagen zu kön­nen. Man kauft bei uns schließ­lich nicht nur einen Wel­pen. Man hat auch mich für eine ziem­lich lan­ge Zeit an der Backe.

Es ist jetzt vier­tel nach sie­ben – und die bei­den Hün­din­nen schla­fen noch immer. Ich glau­be, das Besuchs­wo­chen­en­de muss gut gewe­sen sein.

Dienstag, 28. Juli

Border Collie mit Kornblume in der Schnauze
Schmückt jeden Hund: die Kornblume

Es gibt wohl kaum eine ande­re Pflan­ze, die das Gesicht des Som­mers so sehr prägt, wie die leuch­tend blaue Korn­blu­me. Aus genau die­sem Grund schät­ze auch ich sie, wenn ich mit der Kame­ra los­zie­he: der körb­chen­för­mi­ge Blü­ten­stand ist ein will­kom­me­ner Farb­tup­fer auf den som­mer­lich tro­cke­nen Äckern – und zusam­men mit einem schwarz-wei­ßen Hund macht sich ein biss­chen Far­be immer aus­neh­mend gut.

Als stu­dier­ter Ger­ma­nist ver­bin­de ich mit der blau­en Blu­me aber noch ein wenig mehr – auch wenn ich das Stu­di­um zuguns­ten der »schö­nen Küns­te« schon nach vier Semes­tern abge­bro­chen habe: Lie­be und Sehn­sucht, Erkennt­nis und Unend­lich­keit sind spä­tes­tens seit der Roman­tik sym­bol­träch­tig an die Korn­blu­me geknüpft. Dass sie aber auch in rech­ten Krei­sen ger­ne als Erken­nungs­sym­bol genutzt wird, war mir lan­ge nicht bewusst – am ehes­ten wahr­schein­lich, weil das zar­te Pflänz­chen für so eine häss­li­che poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung doch viel zu hübsch ist. Schon klar, dass roman­ti­sche Idea­le wie »Hei­mat­lie­be« und »Natur­ver­bun­den­heit« den Faschis­ten gefal­len. Am Revers eines selbst­er­nann­ten Patrio­ten mag ich das Pflänz­chen aber trotz­dem nicht sehen.

Des­halb: holt sie euch zurück. Lasst die Korn­blu­me blü­hen, wo sie will. Und wenn über­haupt, dann soll sie ein schwarz-wei­ßer Hund tra­gen. Weil schwarz und weiß zusam­men doch um so vie­les bes­ser aus­sieht, als ödes, blö­des Braun.

Mittwoch, 29. Juli

Border Collie Rüde auf einem Heufeld
Ein Bor­der Col­lie – zweifelsohne

Wenn ich mich umschaue und mich durch die Deck­mel­dun­gen und Wurf­an­kün­di­gun­gen ande­rer Züch­ter kli­cke, dann über­kommt mich nicht sel­ten das Gefühl, das alles immer schnel­ler geht. Kaum ist die ers­te Hün­din ein­ge­zo­gen, wird eine Zucht­stät­te ange­mel­det und der ers­te Wurf geplant – und weil eine Hün­din allei­ne nicht reicht, kom­men in Win­des­ei­le noch eine zwei­te und drit­te dazu, die auch schnellst­mög­lich zucht­fer­tig gemacht wer­den müs­sen. Das kann man hin­neh­men und sagen, dass die Ziel­set­zung den Zeit­punkt bestimmt – und wenn das Ziel ist, sich als Züch­ter zu eta­blie­ren, behält man die Zeit am bes­ten stän­dig im Blick. Das nicht allein, weil das öffent­li­che Gedächt­nis mög­lichst lücken­los mit süßen Wel­pen­bil­dern gespeist wer­den will, son­dern auch, weil eine Hün­din – sie ahnen es – ganz ein­fach nicht jün­ger wird. Man muss also früh anfan­gen, wenn man viel errei­chen will. Das kann man hin­neh­men, wie gesagt. Muss man aber nicht.

Unse­re Zucht­war­tin hat ein­mal gesagt, dass man nach drei selbst gezo­ge­nen Wür­fen bereits zum alten Eisen gehört. Zum einen, weil wohl nicht weni­ge Züch­ter schon nach dem ers­ten Wurf mer­ken, dass ihnen die Wel­pen­auf­zucht zu viel abver­langt: wer trotz der Anstren­gun­gen wei­ter macht, hat wohl Gefal­len dar­an gefun­den. Zum ande­ren sind zwi­schen dem ers­ten und dem drit­ten Wurf aber – hier wider­spricht die Annah­me mei­nem Bauch­ge­fühl – auch schon meh­re­re Jah­re ver­gan­gen. Jah­re, in denen man Erfah­run­gen sam­meln und die Züch­ter­per­sön­lich­keit rei­fen konn­te. Wie passt ein »Höher, Schnel­ler, Wei­ter« da ins Bild? Fin­det man Zeit, einen Wurf zu eva­lu­ie­ren und sich kri­tisch mit dem Erreich­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen, wenn die Hün­din schon wie­der belegt, der nächs­te Wurf schon wie­der in Erwar­tung ist? Oder geht es gar nicht mehr dar­um, sich ehr­lich mit den Vor­zü­gen und Feh­lern zu befas­sen? Und nur noch dar­um, auch selbst als Züch­ter mitzumischen?

In neun Jah­ren habe ich sie­ben Wür­fe gezo­gen – zum alten Eisen dürf­te ich also längst schon gehö­ren. Und je län­ger ich dar­über nach­den­ke, des­to mehr über­kommt mich der Ein­druck, dass ich viel­leicht auch nur einer jener Alten bin, die mit dem Kis­sen den gan­zen Tag im Fens­ter lie­gen, und laut­hals auf die Jun­gen – auf die Neu­züch­ter – schimp­fen. Das kann man so sehen. Muss man aber nicht.

Sonntag, 2. August

Border Collie Hündin am Flussufer
Schat­ti­ges Plätz­chen unter der Nistertalbrücke

Wer von Bad Mari­en­berg aus durch das Nis­ter­tal wan­dert, der wird – sobald er Lan­gen­bach pas­siert und die Hard­ter Müh­le hin­ter sich gelas­sen hat – irgend­wann ver­wun­dert den Kopf heben und über die dich­ten Baum­rei­hen hin­weg zum Him­mel spä­hen. Kurz bevor die gleich­na­mi­ge Ort­schaft erreicht ist, spannt sich näm­lich ein mäch­ti­ges Unge­tüm über das Nis­ter­tal. Einst­mals ist die Erba­cher Brü­cke – eben jenes, bei­na­he vier­zig Meter hohe Bau­werk – die größ­te Beton­brü­cke Deutsch­lands gewe­sen. Heu­te – fast fünf­zig Jah­re nach der Auf­ga­be des Bahn­ver­kehrs – erin­nert nur noch ihre impo­san­te Grö­ße an die ehe­ma­li­ge Bedeu­tung. Am Bau­werk selbst hat längst der Zahn der Zeit genagt.

Den Hun­den und mir ist der Weg nach oben an die­sem Tag zu beschwer­lich – schon früh am Mor­gen zeigt das Ther­mo­me­ter gut und ger­ne fünf­und­zwan­zig Grad –, also zie­hen wir es vor, uns abseits des Wes­ter­wald­steigs durch die dich­te Ufer­ve­ge­ta­ti­on zu schla­gen und Füße sowie Pfo­ten bei einem Bad in der rau­schen­den Nis­ter zu küh­len. »So lässt sich auch der hei­ßes­te Tag des Jah­res gut aus­hal­ten«, den­ke ich bei mir, wäh­rend die Hun­de über die rund­ge­wa­sche­nen Basalt­bro­cken hin­weg hech­ten und in die tie­fen Gum­pen tau­chen, »so lässt es sich aus­hal­ten und die Zeit ganz ver­ges­sen«. Mit dem Ges­tern hoch über unse­ren Köp­fen, dem Mor­gen irgend­wo die stei­len Hän­ge hin­auf, blei­ben nur das Was­ser, die Hun­de und das Jetzt. Und das reicht. Genau­so sieht’s aus.

Dienstag, 4. August

Border Collie Hündin im Feld
Die alte Dame

Wenn ich unse­re Nell gera­de ein­top­fen wür­de, könn­te ich in ein paar Jah­ren wahr­schein­lich Kir­schen ern­ten. Nell tut seit Wochen näm­lich nichts lie­ber, als die über­rei­fen Kir­schen zu fres­sen, die zu weit oben hin­gen, um von uns gepflückt und ein­ge­kocht zu wer­den, und die nun aus frei­en Stü­cken vom Baum her­un­ter­ge­fal­len sind. Das sicher­lich nicht nur, weil der Zucker­ge­halt der süßen Früch­te nun beson­ders hoch ist, son­dern auch, weil das über­rei­fe Stein­obst im Magen zu Alko­hol nach­gärt. Als älte­re Dame weiß eben auch unse­re Nell: ein Likör­chen geht immer! Und: so rich­tig lus­tig wird’s erst nach dem zwei­ten. »Ich bin gar nicht betrun­ken, der Boden woll­te nur kuscheln!« Dass wir ihr den Spaß zuneh­mend ver­der­ben und die übrig geblie­be­nen Kir­schen täg­lich ent­sor­gen, gefällt ihr des­halb herz­lich wenig.

Den Hang zum gepfleg­ten Voll­rausch hat aber schein­bar nicht nur die elf­jäh­ri­ge Hün­din – die mit gezu­cker­tem Bier gefüll­te Wes­pen­fal­le, die ich unter einem der Bäu­me in unse­rem Gar­ten auf­ge­stellt habe, ist auch mit schö­ner Regel­mä­ßig­keit aus­ge­trun­ken. Beob­ach­ten konn­te ich den Übel­tä­ter dort zwar noch nicht – mein Instinkt sagt mir aber, dass es sich loh­nen könn­te, ein­mal unter den Blät­ter­hau­fen hin­ter dem Schup­pen zu schau­en. Mit ziem­li­cher Sicher­heit wür­de ich dort einen betrun­ke­nen Igel fin­den. Der mich schie­lend anschaut und lallt: »Herr Ober, noch ein Hel­les, bitte!«

Freitag, 7. August

Border Collie Hündin beim Baden
Zuhau­se ist es doch am Schönsten

Der Ort, in dem ich auf­ge­wach­sen bin und in dem mei­ne Eltern noch immer leben, hat­te bis in die sech­zi­ger Jah­re hin­ein einen – nicht nur für zeit­ge­nös­si­sche Ohren – ziem­lich anrü­chi­gen Namen. In der Hoff­nung, ein neu­er Name möge sich güns­tig auf den Frem­den­ver­kehr aus­wir­ken, ent­schied man 1959, sich von »Kot­zen­roth« zu tren­nen und fort­an »Rosen­heim« zu hei­ßen. Ähn­li­ches war auch schon frü­her in ande­ren Gemein­den auf dem Wes­ter­wald gesche­hen, waren Orts­na­men wie »Rot­zen­hahn« und »Kacken­berg« von der Land­kar­te ver­schwun­den – und wohl weil sich am Ort gleich zwei Flur­na­men fan­den, bei denen sich der unwi­der­steh­li­che Rosen­duft erah­nen ließ, einig­te man sich schließ­lich mehr­heit­lich dar­auf, eben jenem Duft zu fol­gen. Bis 1963 soll­te es dau­ern, bis der Namens­wech­sel end­lich geneh­migt wur­de. Eine Bele­bung des Frem­den­ver­kehrs ist aus­ge­blie­ben. »Kot­zert« hin­ge­gen ist in der Umgangs­spra­che auch heu­te noch ziem­lich lebendig.

Dass auch die Hun­de etwas mit dem Namen anzu­fan­gen wis­sen, hat aber einen ande­ren Grund. Nicht weit vom Orts­rand ent­fernt, befin­det sich ein Basalt­stein­bruch, der in den sieb­zi­ger Jah­ren in den Ruhe­stand geschickt und der Natur über­las­sen wor­den ist: die »Kot­zen­ro­ther Lay«. Wäh­rend die Bre­cheran­la­gen, an die ich mich noch aus Kin­der­ta­gen erin­nern kann, in den frü­hen neun­zi­ger Jah­ren ver­schwun­den sind, und nur noch ver­ein­zel­te, von wil­dem Grün über­wu­cher­te Beton­rui­nen an die indus­tri­el­le Nut­zung erin­nern, hat es den Hun­den vor allem der See ange­tan, der nach der Flu­tung des Stein­bruchs in den acht­zi­ger Jah­ren ent­stan­den ist. Schon mein ers­ter Bor­der Col­lie hat vor zwan­zig Jah­ren im kla­ren Was­ser sei­ne Run­den gedreht – und damals ist es dort tat­säch­lich noch herr­lich ruhig gewe­sen. Heu­te muss man Glück haben, um einen ruhi­gen Moment zu erwi­schen – zu vie­le Besu­cher lockt der abge­schie­de­ne Fle­cken mitt­ler­wei­le an. Mit Kin­der­wa­gen, Kugel­grill und Cam­ping­stüh­len schlägt man dort auf, hat nicht nur die Brat­wurst, son­dern auch den Bier­kas­ten dabei – und weil man­chem die Ruhe dann doch zu ein­tö­nig ist, muss auch das mit­ge­brach­te Radio im Dau­er­be­trieb lärmen.

Wir haben Glück an die­sem Mor­gen und sind ganz allein. Vor der Schran­ke parkt ledig­lich ein wei­te­res Auto. »Mei­ne Mut­ter ist wie­der früh unter­wegs«, sage ich zu Dirk und lache. Das besag­te Auto gehört näm­lich ihr. Und nicht nur das fühlt sich ein wenig wie Nach­hau­se kom­men an.

Dienstag, 11. August

Border Collie Hündin im Maisfeld
Im Mais­feld

Stel­len sie sich ein Mais­feld vor. Hoch­ge­wach­se­ne Rei­hen aus kräf­ti­gen Pflan­zen, die sich noch viel wei­ter erstre­cken, als sie schau­en kön­nen. Sehen sie das Feld vor sich? Dann fas­sen sie sich ein Herz und set­zen den ers­ten Schritt hin­ein. Schon nach dem zwei­ten oder drit­ten hat der Mais sie ver­schluckt, und spä­tes­tens nach dem fünf­ten sieht es in alle Rich­tun­gen gleich aus. Trau­en sie sich, trotz­dem wei­ter zu gehen? Auch auf die Gefahr hin, sich selbst zu ver­lie­ren und ziel­los im dich­ten Grün umher­zu­ir­ren? Oder schre­cken sie jetzt schon vor dem Kna­cken, dem Schmat­zen, dem Stamp­fen und Grol­len zurück? Viel­leicht geht es ihnen ähn­lich, und die Angst, sich im Mais zu ver­lau­fen, haben längst ande­re Ängs­te abge­löst. Viel­leicht ist es jetzt die Angst, von etwas Unge­heu­rem gefun­den zu wer­den, die ihnen das Herz bis zum Hals schla­gen lässt. War das ein Wild­schwein? Oder ein Wolf? Oder etwas, für das sie noch gar kei­nen Namen haben?

Vor fast zwan­zig Jah­ren habe ich mich selbst in einem sol­chen Mais­feld ver­lo­ren. Einem, das gemein­hin als Panik­stö­rung bezeich­net wird. Zu begrei­fen, was das heißt, gelingt nur weni­gen – und auch mir will es nicht gelin­gen, jedes Sym­ptom, jede Ein­schrän­kung, jedes Ver­mei­dungs­ver­hal­ten zu beschrei­ben. Wie ein wil­des Tier, das danach strebt, sein Ter­ri­to­ri­um zu erwei­tern, for­dert auch die Krank­heit immer mehr Raum – wer­den es mit der Zeit immer mehr Orte und Anläs­se, die will­kür­lich mar­kiert, mit der Angst vor der Angst besetzt sind. Der namen­lo­se Schre­cken ver­steckt sich nicht mehr nur im Mais­feld. Er ist über­all. Er ist die gan­ze Welt.

In zwan­zig Jah­ren habe ich gelernt, damit zu leben. Habe her­aus­ge­fun­den, was den Beu­te­trieb des Unge­heu­ers trig­gert, und Tech­ni­ken ent­wi­ckelt, um die auf­kei­men­de Panik mög­lichst schnell wie­der zu ersti­cken. Meis­tens gelingt das gut. Man­ches – wie gro­ße Men­schen­an­samm­lun­gen – muss ich mir aber bis heu­te des­halb ver­sa­gen. Wenn sie sich schon ein­mal gefragt haben, war­um ich selbst nie im Aus­stel­lungs­ring ste­he: hier haben sie die Antwort.

Stel­len sie sich ein Mais­feld vor. Nur dies­mal, mit einem Hund an ihrer Sei­te. Das fühlt sich gleich viel bes­ser an. Oder?

Freitag, 21. August

Mensch und Hund Silhouetten vor Abendhimmel
Bei Son­nen­un­ter­gang

»Wie hat es nur so weit kom­men kön­nen?«, ist einer der Gedan­ken, die mich seit einer Woche umtrei­ben. Grund dafür ist eine grö­ße­re Anzahl von Hun­den, die durch das zustän­di­ge Vete­ri­när­amt bei einer nam­haf­ten Züch­te­rin beschlag­nahmt wor­den ist – einer Züch­te­rin, die in mei­nem Zucht­ver­ein tätig war. Die Miss­stän­de vor Ort waren seit vie­len Jah­ren bekannt und sei­tens des Ver­eins ist oft genug ver­sucht wor­den, dem einen Rie­gel vor­zu­schie­ben – das weiß ich aus ers­ter Hand. Von Haus­ver­bo­ten ist im Nach­gang die Rede, von Zucht­war­ten, die Wurf­ab­nah­men im Frei­en durch­füh­ren muss­ten, und von Aus­schluss­ver­fah­ren, die wegen Form­feh­lern nie­mals wirk­sam wur­den. Die Fra­ge, wen hier am Ende die Haupt­schuld trifft – ob Ämter und Behör­den frü­her hät­ten ein­grei­fen müs­sen, ob der Zucht­ver­ein selbst zu lan­ge die Hän­de untä­tig in den Schoß gelegt hat – inter­es­siert mich aber nur zweit­ran­gig. »Wie hat es nur so weit kom­men kön­nen?«, fra­ge ich mich viel eher im Hin­blick auf die Züch­te­rin selbst. Gibt es eine unsicht­ba­re Linie, die man als Züch­ter nie­mals über­schrei­ten sollte?

Ich glau­be, dass wir als Züch­ter in mehr­fa­cher Hin­sicht von sol­chen Lini­en umge­ben sind. Eine trennt Lei­den­schaft von Pro­fit und Pres­ti­ge. Eine ande­re das Glück von der Gewohn­heit. Eine wei­te­re die Für­sor­ge von der Über­for­de­rung. Und eine letz­te viel­leicht den Zwei­fel von der Selbstverleugnung.

Mir ein Urteil anzu­ma­ßen, wie vie­le Lini­en im besag­ten Fall über­schrit­ten wor­den sind, hal­te ich für ver­mes­sen. Viel­leicht soll­ten wir Züch­ter uns statt­des­sen noch viel öfter die Fra­ge stel­len, wo wir selbst gera­de ste­hen. Ob es noch Lei­den­schaft ist, die uns Hun­de hal­ten lässt. Ob wir noch Glück dabei emp­fin­den, einen Wurf Wel­pen auf­zu­zie­hen. Ob wir noch jedem unse­re Hun­de ganz indi­vi­du­ell gerecht wer­den kön­nen. Und ob wir noch Zwei­fel hegen – denn wer auf­hört zu zwei­feln, der hin­ter­fragt sich auch nicht selbst.

Sonntag, 23. August

Border Collie Hündin auf einer Waldlichtung
Ein Som­mer­mor­gen im Wald

Tref­fen sich zwei, die sich im Wald ver­lau­fen haben. Wäh­rend sich her­aus­stellt, dass der eine schon seit Tagen dort umher­irrt und längst nicht mehr sagen kann, auf wel­chem Weg er in den Wald hin­ein­ge­ra­ten ist, hat der ande­re den siche­ren Pfad erst vor Kur­zem ver­las­sen. Die Fra­ge, wie es am leich­tes­ten gelin­gen kann, aus dem dich­ten Wald wie­der her­aus­zu­fin­den, lässt dann auch nicht lan­ge auf sich war­ten. Aber wer soll sich nun wem anschlie­ßen? Hat der, der schon seit Tagen unter­wegs ist, die bes­se­ren Chan­cen sich zu ori­en­tie­ren? Oder führt des­sen »Zwei­mal links und an der toten Eiche rechts abbie­gen« auch den ande­ren bloß in die Irre?

Wenn ich in Hun­de­fo­ren die Fra­ge lese, wel­chen Züch­ter man emp­feh­len kann, muss ich immer ein wenig an die­ses Bild den­ken. Wenn es mir, bild­lich gespro­chen, bloß dar­um geht, mög­lichst bald wie­der aus dem Wald her­aus zu fin­den, macht es kaum einen Unter­schied, wes­sen Mei­nung ich fol­ge: ohne ein erklär­tes Ziel gelan­ge ich frü­her oder spä­ter auf jedem Weg dort­hin. Anders sieht das aus, wenn ich kla­re Absich­ten ver­fol­ge. Wenn ich weiß, wo ich am Ende des Tages ankom­men will. Dann fühlt sich viel­leicht sogar das »Zwei­mal links und an der toten Eiche rechts abbie­gen« für mich erst ein­mal rich­tig an. Um her­aus­zu­fin­den, wel­cher Weg durch den Wald der rich­ti­ge ist, bleibt mir letzt­end­lich aber doch nichts ande­res übrig, als mir Zeit zu las­sen – und auf eige­ne Faust aus­zu­pro­bie­ren. Selbst wenn das heißt, dass sich so man­cher Weg als Holz­weg erweist.

Tref­fen sich zwei, die sich im Wald ver­lau­fen haben. Und nach vie­len Reden ist kei­ner klü­ger, als der ande­re. Auch das sieht in Hun­de­fo­ren nicht anders aus.

Und noch mehr Sommer …

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