Was vom Winter bleibt: über gemeinsame und einsame Wege – und solche, die vielleicht die letzten sind.

This is how it works:
you’re young until you’re not, you love until you don’t,
you try until you can’t, you laugh until you cry,
you cry until you laugh and ever­yo­ne must breathe
until their dying breath.
On the Radio, Regi­na Spek­tor (2006)

Der Wind hat die Wol­ken auf­ge­ris­sen. Die Hügel am Hori­zont leuch­ten in einem unwirk­li­chen Grün vor dem regen­schwe­ren Blau. Zwei der drei Hun­de stö­bern mit gesenk­tem Kopf zwi­schen den knie­tie­fen Lachen, die in den Sen­ken auf den Wie­sen ste­hen, der Drit­te beob­ach­tet mich mit ein­dring­li­chem Blick – abwar­tend, erwar­tungs­voll –, aber auch dies­mal schaut er ver­ge­bens. »Kein Ball«, sage ich und zie­he zum Beweis die lee­ren Hän­de aus den Man­tel­ta­schen, »kein Ball, also lauf!« Weit ist es ohne­hin nicht mehr, denn an die­sem Mor­gen sind wir schon gut zwei Stun­den gelau­fen – gleich hin­ter der nächs­ten Anhö­he wird der Rund­weg zurück zum Park­platz füh­ren. Der for­dern­de Blick des Drit­ten hat sich schließ­lich auch ande­ren Din­gen zuge­wandt – viel­leicht einem Hasen, der am Weges­rand sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen hat –, jeder ist wie­der für sich, und ich in mei­nen Gedanken.

Dass uns Ida nur noch sel­ten auf den lan­gen, mor­gend­li­chen Spa­zier­gän­gen beglei­tet, mag die deut­lichs­te Ver­än­de­rung sein, die sich über den Win­ter erge­ben hat. Ihr Zustand hat sich seit der schwe­ren Kri­se in den ers­ten Dezem­ber­wo­chen zwar deut­lich gebes­sert, die Ein­schrän­kun­gen, die mit ihrer neu­er­li­chen Erkran­kung ein­her­ge­hen, machen sich aber in bei­na­he allen Berei­chen des täg­li­chen Lebens bemerk­bar – ange­fan­gen bei den Spa­zier­gän­gen, die für sie kör­per­lich zu anstren­gend sind, über die Mahl­zei­ten, die stets über­wacht wer­den müs­sen, bis hin zu den uner­war­te­ten Her­aus­for­de­run­gen, die sich aus stei­len Trep­pen und lang­ge­zo­ge­nen Stei­gun­gen erge­ben. An eine voll­stän­di­ge Gene­sung denkt nie­mand mehr – und wenn ich ehr­lich sein soll, genügt schon ein Blick, um sich davon zu über­zeu­gen, dass die­ser Hund ster­ben wird. Viel­leicht nicht heu­te oder mor­gen. Aber ihre Tage sind zwei­fels­oh­ne gezählt.

Border Collie Hündin im Schnee
06|12|2019 – Der ers­te Schnee auf der Fuchskaute

Mit die­sem Gedan­ken gehe ich auch heu­te spa­zie­ren – unnö­tig zu sagen, dass es mir trotz aller Abge­klärt­heit nicht gut damit geht. Denn auch wenn ich mir sicher bin, dass Ida mich wis­sen las­sen wird, wann der Zeit­punkt für den Abschied gekom­men ist, und ich mich seit Mona­ten gedank­lich dar­auf vor­be­rei­ten kann, lähmt mich der Gedan­ke sie zu ver­lie­ren zuse­hends. Es gibt vie­les, um das ich mich ger­ne küm­mern wür­de – Mails und Nach­rich­ten, die schon viel zu lan­ge dar­auf war­ten, beant­wor­tet zu wer­den –, aber für nichts davon schei­ne ich gera­de die nöti­ge Kraft zu haben. Bewe­gungs­un­fä­hig. In der Ver­zweif­lung erstarrt. Wäh­rend Schnee­glöck­chen schon die ers­te Ahnung von Früh­ling ver­brei­ten, herrscht in mei­nem Kopf noch der tiefs­te Winter.

»War­um lässt du sie lei­den«, hat man mich im Dezem­ber bereits gefragt, »war­um lässt du sie sich noch wei­ter quä­len, wenn sie ein­zu­schlä­fern doch für alle der leich­te­re Weg wäre?« Dem will ich auch jetzt noch ent­geg­nen, dass der letz­te Weg vie­les, aber nie­mals leicht ist – und dass, so lan­ge die guten Tage die schlech­ten über­wie­gen, ich es ger­ne der Zeit über­las­se, die letz­te Ent­schei­dung zu tref­fen. So lan­ge wir Tage erle­ben dür­fen, an denen Ida sich mit den drei ande­ren Hun­den im Gar­ten oder auf dem Feld ver­gnügt, sie ihre bei­den Mahl­zei­ten mit Heiß­hun­ger her­un­ter­schlingt und sie es schafft, ihrem aus­ge­zehr­ten Kör­per doch noch ein wenig Kraft und Lebens­freu­de abzu­trot­zen, hal­te ich wei­ter mit ihr aus. Denn auch das gehört zu der unaus­ge­spro­che­nen Über­ein­kunft, die man mit einem Hund an dem Tag trifft, an dem man ihn in sein Leben lässt. Das Aushalten.

07|02|2020 – Im Sonnenuntergang

Vor­wür­fe blei­ben aber auch mei­ner­seits nicht aus – sol­che, den schlei­chen­den Ver­lauf nicht früh genug erkannt und not­wen­di­ge Unter­su­chun­gen nicht zu einem Zeit­punkt ver­an­lasst zu haben, an dem die unver­meid­li­chen Nar­ko­sen nicht lebens­be­droh­lich gewe­sen wären. Um abklä­ren zu las­sen, ob der extre­me Gewichts­ver­lust der Hün­din, neben der Aus­sa­ckung der Spei­se­röh­re und der teil­wei­sen Läh­mung der Zun­ge und des Kehl­kopfs, noch auf wei­te­re Ursa­chen zurück­zu­füh­ren ist – einen unent­deck­ten, media­sti­na­len Tumor, bei­spiels­wei­se –, ist es nun zu spät. Gibt man sich damit zufrie­den, alles ver­sucht zu haben? Oder sucht man weiter?

»Ohne Lei­den gibt es kei­ne Erlö­sung«, habe ich irgend­wann ein­mal irgend­wo gele­sen. Ohne Win­ter kei­nen Früh­ling. Und dazwi­schen bloß Wege. 

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