Was vom Winter bleibt: über gemeinsame und einsame Wege – und solche, die vielleicht die letzten sind.
This is how it works:
you’re young until you’re not, you love until you don’t,
you try until you can’t, you laugh until you cry,
you cry until you laugh and everyone must breathe
until their dying breath.
On the Radio, Regina Spektor (2006)
Der Wind hat die Wolken aufgerissen. Die Hügel am Horizont leuchten in einem unwirklichen Grün vor dem regenschweren Blau. Zwei der drei Hunde stöbern mit gesenktem Kopf zwischen den knietiefen Lachen, die in den Senken auf den Wiesen stehen, der Dritte beobachtet mich mit eindringlichem Blick – abwartend, erwartungsvoll –, aber auch diesmal schaut er vergebens. »Kein Ball«, sage ich und ziehe zum Beweis die leeren Hände aus den Manteltaschen, »kein Ball, also lauf!« Weit ist es ohnehin nicht mehr, denn an diesem Morgen sind wir schon gut zwei Stunden gelaufen – gleich hinter der nächsten Anhöhe wird der Rundweg zurück zum Parkplatz führen. Der fordernde Blick des Dritten hat sich schließlich auch anderen Dingen zugewandt – vielleicht einem Hasen, der am Wegesrand seine Spuren hinterlassen hat –, jeder ist wieder für sich, und ich in meinen Gedanken.
Dass uns Ida nur noch selten auf den langen, morgendlichen Spaziergängen begleitet, mag die deutlichste Veränderung sein, die sich über den Winter ergeben hat. Ihr Zustand hat sich seit der schweren Krise in den ersten Dezemberwochen zwar deutlich gebessert, die Einschränkungen, die mit ihrer neuerlichen Erkrankung einhergehen, machen sich aber in beinahe allen Bereichen des täglichen Lebens bemerkbar – angefangen bei den Spaziergängen, die für sie körperlich zu anstrengend sind, über die Mahlzeiten, die stets überwacht werden müssen, bis hin zu den unerwarteten Herausforderungen, die sich aus steilen Treppen und langgezogenen Steigungen ergeben. An eine vollständige Genesung denkt niemand mehr – und wenn ich ehrlich sein soll, genügt schon ein Blick, um sich davon zu überzeugen, dass dieser Hund sterben wird. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber ihre Tage sind zweifelsohne gezählt.
Mit diesem Gedanken gehe ich auch heute spazieren – unnötig zu sagen, dass es mir trotz aller Abgeklärtheit nicht gut damit geht. Denn auch wenn ich mir sicher bin, dass Ida mich wissen lassen wird, wann der Zeitpunkt für den Abschied gekommen ist, und ich mich seit Monaten gedanklich darauf vorbereiten kann, lähmt mich der Gedanke sie zu verlieren zusehends. Es gibt vieles, um das ich mich gerne kümmern würde – Mails und Nachrichten, die schon viel zu lange darauf warten, beantwortet zu werden –, aber für nichts davon scheine ich gerade die nötige Kraft zu haben. Bewegungsunfähig. In der Verzweiflung erstarrt. Während Schneeglöckchen schon die erste Ahnung von Frühling verbreiten, herrscht in meinem Kopf noch der tiefste Winter.
»Warum lässt du sie leiden«, hat man mich im Dezember bereits gefragt, »warum lässt du sie sich noch weiter quälen, wenn sie einzuschläfern doch für alle der leichtere Weg wäre?« Dem will ich auch jetzt noch entgegnen, dass der letzte Weg vieles, aber niemals leicht ist – und dass, so lange die guten Tage die schlechten überwiegen, ich es gerne der Zeit überlasse, die letzte Entscheidung zu treffen. So lange wir Tage erleben dürfen, an denen Ida sich mit den drei anderen Hunden im Garten oder auf dem Feld vergnügt, sie ihre beiden Mahlzeiten mit Heißhunger herunterschlingt und sie es schafft, ihrem ausgezehrten Körper doch noch ein wenig Kraft und Lebensfreude abzutrotzen, halte ich weiter mit ihr aus. Denn auch das gehört zu der unausgesprochenen Übereinkunft, die man mit einem Hund an dem Tag trifft, an dem man ihn in sein Leben lässt. Das Aushalten.
Vorwürfe bleiben aber auch meinerseits nicht aus – solche, den schleichenden Verlauf nicht früh genug erkannt und notwendige Untersuchungen nicht zu einem Zeitpunkt veranlasst zu haben, an dem die unvermeidlichen Narkosen nicht lebensbedrohlich gewesen wären. Um abklären zu lassen, ob der extreme Gewichtsverlust der Hündin, neben der Aussackung der Speiseröhre und der teilweisen Lähmung der Zunge und des Kehlkopfs, noch auf weitere Ursachen zurückzuführen ist – einen unentdeckten, mediastinalen Tumor, beispielsweise –, ist es nun zu spät. Gibt man sich damit zufrieden, alles versucht zu haben? Oder sucht man weiter?
»Ohne Leiden gibt es keine Erlösung«, habe ich irgendwann einmal irgendwo gelesen. Ohne Winter keinen Frühling. Und dazwischen bloß Wege.
Comments are closed.