Gedächtnis, Geschichte und Genetik: wenn es an einem Morgen, den man mit den Welpen im Wald verbringt, ganz plötzlich »Klick« macht …
»Vielleicht«, denke ich, als ich am frühen Dienstagmorgen mit der Kamera in der Hand auf einer Waldlichtung unweit der schmalen Straße stehe, die von den letzten Anhöhen des Westerwalds durch das Buchhellertal ins Siegerland führt, »vielleicht hat an genau dieser Stelle auch schon der erste meiner Urahnen gestanden, der sich auf deutschem Boden niedergelassen hat«. Wie ich darauf komme?
Als Kind habe ich oft stundenlang vor dem kunstvoll illustrierten Stammbaum meiner Familie gestanden, der im dunklen, fensterlosen Flur der Wohnung meiner Großeltern hing. Den immer dünner werdenden Ästen bin ich mit den Augen zu den Blättern und Knospen gefolgt, habe dort die Namen meiner Eltern und Großeltern gefunden, auf einem jungen Spross bald meinen eigenen, und habe schließlich den umgekehrten Weg zurück zum Stamm eingeschlagen. Dort, ganz unten am Stamm, fand sich ebenfalls mein Name – mit dem Unterschied, dass zwischen der Geburt jenes ältesten bekannten Vorfahren meiner Familie und meiner eigenen mehr als dreihundert Jahre lagen. Jener Johannes Willwacher war 1653 in Tirol geboren und – so nimmt man an – im Zuge der Gegenreformation dazu veranlasst worden, seine Heimat zu verlassen. Der Ort, in dem er sich niederließ – Burbach – schließt sich im Norden an das Buchhellertal an.
Es ist also gar nicht unwahrscheinlich, dass auch er einmal dort gestanden hat, wo ich an diesem Morgen stehe – auch wenn das bewaldete Bachtal damals ganz anders ausgesehen haben muss: viele der Gruben und Bergwerke, die das Tal mehr als zweihundert Jahre prägten und denen man in den grünen Wäldern auch heute noch hier und da nachspüren kann, entstanden um 1700 – durch den Abbau von Kupfer und Blei werden die steilen Hänge damals also wohl viel eher kahl und baumlos gewesen sein. Ob das, was der Ort in mir auslöst, zum genetischen Gedächtnis gehört? »Vielleicht zieht es mich gerade deshalb immer wieder dort hin«, denke ich bei mir, als ich schließlich auf den Auslöser drücke, »und vielleicht gebe ich den Welpen bei ihrem ersten Ausflug deshalb auch ein wenig von meiner Geschichte mit«.
An diesem Morgen sind es aber vor allem unbekannte Eindrücke und Gerüche, die auf die Welpen einströmen: weiches, duftendes Moos, dünne Äste und Kiefernnadeln, die unter den zarten Welpenpfoten piksen, zwitschernde Vögel in den dunklen Tannenkronen und nicht weit entfernt ein plätschernder Bach. Die fremde Umgebung schüchtert die Welpen aber nicht im Geringsten ein, ganz im Gegenteil beginnen sie schon bald, den Waldboden neugierig zu erkunden und die Nasen ganz tief in das Moos, den Farn und die niedrigen Heidelbeersträucher zu stecken. Weil mich noch immer der Gedanke zum genetischen Gedächtnis umtreibt – im letzten Jahr habe ich einige wissenschaftliche Abhandlungen und Forschungsberichte zur Epigenetik gelesen, die auch für die Hundezucht immer größere Bedeutung gewinnt –, wirft das Verhalten der Welpen für mich die Frage auf, ob die Gelassenheit allein durch die Gegenwart des Menschen bedingt ist, auf den sie positiv geprägt sind, oder ob nicht irgendwo in ihrem Erbgut eine Erinnerung schlummert, die sie die neue Umgebung von vornherein positiv wahrnehmen lässt. Eine ererbte Vorliebe, sozusagen. Mit unseren erwachsenen Hunden – auch der Großmutter der Welpen – bin ich in diesen Wäldern schließlich schon oft unterwegs gewesen. Wenn gute Erinnerungen einen genetischen Vorteil bringen, warum sollten sie sich dann nicht auch vererben?
Das schlechte Erfahrungen sich oftmals im Erbgut niederschlagen und an die Nachkommen weiter vererbt werden, gilt nach klinischen Studien als erwiesen – auch vorgeburtlicher Stress kann dazu führen, dass Erbanlagen verändert werden und ein Welpe sich nachteilig, ganz anders als die Elterntiere entwickelt, ängstlich oder sogar aggressiv wird. Mit eben jener Veränderung von Genen durch Umwelteinflüsse beschäftigt sich die Epigenetik – mit der Möglichkeit, dass durch die Umwelt bestimmt wird, welche Anlagen sich in welchem Umfang und in welcher Weise entfalten. Für die Forschung ist das gerade im Hinblick auf Krankheiten von Interesse, bei denen angenommen wird, dass nicht nur der Ausbruch, sondern auch der Verlauf durch epigenetische Mechanismen gesteuert werden. Für den Züchter stehen vielleicht eher Wesensmerkmale – das Temperament, Vorlieben und Abneigungen – im Vordergrund. Für mich bedeuten jene Erkenntnisse also einen Wald voller Möglichkeiten, die gezielt genutzt werden können – aber auch eine noch größere Verantwortung bei der Wurfplanung, Aufzucht und Prägung der Welpen: welchen Schalter für welches Gen lege ich um?
Herr Willwacher steht im Wald – mit Welpen. Und dann macht es »Klick« …
Unsere fünf Border Collie Welpen haben nicht nur den kurzen Waldspaziergang gut aufgenommen, sondern auch die erste Autofahrt ganz gelassen hingenommen: während es bei unseren vorangegangenen Würfen immer einen oder zwei Welpen gab, denen das Fahren nicht gut bekommen ist, musste sich diesmal kein einziger Welpe übergeben. Ein wenig gesungen wurde zwar, aber vielleicht – reden wir uns das ein – auch eher aus Vorfreude.
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