Blind und taub geboren, öffnen die Welpen in der zweiten Lebenswoche ihre Augen und Ohren. Ein Versuch über Sinneseindrücke und Erinnerungen.
In dem deckenhohen Bücherregal, das in dem offenen, an das Welpenzimmer grenzenden Raum eine ganze Wand einnimmt, steht eine einfache weiße Pappschachtel, kaum größer als ein Schuhkarton. Dort steht sie neben anderen, die genauso groß und genauso weiß sind, die aber jemand im Gegensatz zu der bewussten Schachtel vor Jahren beschriftet hat: »Stifte« liest man auf der einen, »Nähgarn« auf der nächsten, »Farben« auf einer, bei der sich der Deckel nach oben wölbt. Die Schachtel daneben ist bloß weiß und verrät nichts. Würde man den Deckel lüften, um einen Blick hinein zu werfen, würde man wahrscheinlich zuerst das gefaltete Papier herausnehmen, das ganz zuoberst liegt, es gedankenlos beiseite legen, sich dann über die dickglasige Brille wundern, die darunter zum Vorschein gekommen ist, vielleicht kurz auflachen, und schließlich die Fotos betrachten, die am Boden der Schachtel lose ausgestreut sind. Darauf lachende Gesichter. Menschen, die gleichzeitig alt und jung und anders scheinen. Erinnerungen, die fast zwanzig Jahre lang in dieser Schachtel bewahrt worden sind. Das eben beiseite gelegte, in der Mitte gefaltete Papier ist eine davon. Das ist Inge.
Inges Zimmer befand sich ganz am Ende des gefliesten Gangs, gleich neben dem Zimmer von Doris. In diesem Zimmer verbrachte sie täglich Stunden an ihrem Schreibtisch, schnitt Dinge aus alten Zeitschriften aus und klebte die Schnipsel zu kleinen Kunstwerken zusammen. Kunstwerke, die oft nur sie selbst verstand, die sie niemandem erklären konnte. Sprechen konnte Inge ohnehin nicht, auch nicht hören. Inge war taubstumm. Wenn sie sprach, dann waren es nur wenige Worte, die nachvollziehbar klangen. »Papa« gehörte dazu. Und »Hua«, das hieß »Hund«. Ich weiß nicht, ob sie jemals einen eigenen Hund besessen hat, weiß viel zu wenig darüber, wie ihr Leben ausgesehen hat, bevor sie in das Wohnheim für Menschen mit geistiger Behinderung zog, in dem ich damals meinen Zivildienst ableistete. Ich weiß aber, dass auf ihren Klebebildern immer wieder Hunde auftauchten und sie oft genug von Hunden sprach, diese gespielt an sich drückte und zärtlich in den Armen wiegte. Ich weiß, dass sie sich vorstellen konnte, einen Hund zu haben, dass sie ein Bild vor Augen hatte, wie es sein würde. Damals dachte ich, das solle nicht nur Vorstellung bleiben, nicht nur ein Bild, das sie nur mit einem Sinn, nur mit den Augen erfasst.
Ich kann mich gut an den Tag erinnern – einen der letzten in meiner elfmonatigen Dienstzeit –, als ich mit einem jungen Border Collie an der Leine in der Eingangstür zur Wohngruppe stand. Laines war im Jahr davor bei uns eingezogen, zu diesem Zeitpunkt vielleicht neun oder zehn Monate alt, und auch wenn sein Alter anderes nahelegen möchte, ein eher zurückhaltender Vertreter seiner Rasse. Ich war mir also sicher, dass es seitens des Vierbeiners keine stürmische Begrüßung geben würde, mit der die Bewohner womöglich überfordert gewesen wären. Tatsächlich war bloß Inge überfordert, als ihr der Hund gegenüber stand. Tatsächlich war sie die Einzige, die sich strikt weigerte, sich dem Hund zu nähern oder, schlimmer noch, ihn anzufassen. Hatte ich nicht angenommen, dass gerade das ihr Herzenswunsch sei? Sich einen Hund nicht nur vorstellen zu müssen, sondern mit allen Sinnen zu erleben? Wie sehr hatte ich mich getäuscht! Denn scheinbar genügte ihr die bloße Vorstellung, brauchte sie das Fühlen und Tasten genauso wenig, wie ihre Stimme oder ihr Gehör – löste der Hund, der ihr dort im Gang gegenüber stand und der in der Realität, die sie für sich selbst konstruiert hatte, schlichtweg nicht vorgesehen war, keine Freude, sondern vielmehr Angst aus.
Warum ich heute morgen an die weiße Pappschachtel und an Inge denken muss? Weil ich mir gerade die Frage stelle, ob es einem Welpen, der blind und taub geboren wird und dem sich die Welt in den ersten beiden Lebenswochen fast allein über den Geruch erschließt, nicht ähnlich geht. Wie ist das, wenn sich die Sinneseindrücke erweitern, sich endlich Augen und Ohren öffnen, und ein Welpe das, was er bislang nur undeutlich wahrgenommen hat, zum ersten Mal bewusst erlebt? Löst das Angst und Ablehnung aus? Oder befeuert das nicht vielmehr die Neugier, das Erkundungsverhalten? Letzteres wird gerne als Triebfeder für die frühe Welpenentwicklung bezeichnet – als maßgeblich, bevor es in der späteren Entwicklung vom Angstverhalten überlagert wird. Heißt das, dass ein Welpe in den ersten Lebenswochen noch gar nicht fähig ist, Angst zu zeigen? Er allem erst einmal neugierig und ohne Ablehnung gegenüber tritt, um die Synapsen zum Glühen zu bringen und möglichst viele neuronale Verbindungen zu schaffen?
Ich kann es nicht sagen – genauso wenig, wie ich beantworten kann, was aus Inge geworden ist. Nach dem Ende des Zivildienstes bin ich nur noch einmal dort zu Besuch gewesen – alleine, fast ein Jahr später, ohne Hund. Bei diesem letzten Besuch habe ich eines von Inges Kunstwerken mitgenommen – eines, auf dem zwei Pudel auf einem Tretroller fahren –, und eben jenes gefaltete, mit bunten Schnipseln beklebte Blatt Papier liegt nun ganz zuoberst in der weißen Pappschachtel, die im Bücherregal vor dem Welpenzimmer steht. Eine Erinnerung. Etwas das ich begriffen, gesehen, erlebt habe, das mich – wenn man so will – für mein Leben geprägt hat.
An was werden sich unsere fünf Welpen später erinnern? Sind das Gesichter, Geräusche, Gerüche? Welches Bild machen sie sich von der Welt? Was macht ihnen Freude, was macht ihnen Angst? Wir werden sehen.
Zwei Wochen sind unsere fünf Border Collie Welpen nun alt – und alle Fünf schicken sich nicht nur an, ihr Geburtsgewicht langsam aber sicher zu verdreifachen, sondern öffnen auch nach und nach die Augen. Während ich bei dem einen oder anderen bereits am Anfang der Woche einen winzigen Spalt in den Augenwinkeln bemerken durfte, haben mittlerweile alle die Augen geöffnet und schauen mit trübem Blick vor sich hin. Sehen können die Welpen aber noch nicht – bis die Trübung der Augen verschwunden ist und sich die Sehfähigkeit voll entwickelt hat, wird es noch drei oder vier Tage dauern. Die Ruhe, von der die Welpenaufzucht in den ersten beiden Lebenswochen geprägt ist, gehört damit bald der Vergangenheit an – die Welpen nehmen ihre Umwelt von nun an nicht nur bewusst wahr, sie beginnen auch, diese auf eigene Faust zu erkunden. Die ersten wackligen Gehversuche sind bereits getan!
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