Unsere Nell feiert ihren zehnten Geburtstag: über Großmütter mit zwei und vier Beinen – und was beiden den Unterschieden zum Trotz gemeinsam haben.
Schon seit Jahren hege ich den Verdacht, dass in Nell die Seele meiner Oma steckt. Sechs Jahre bevor Nell geboren wurde, ist die besagte Seele frei geworden, hat sich – so stelle ich mir das vor – im Jenseits kurz davon überzeugt, dass alles beim Rechten ist, dann aber entschieden, dass ihrer Anwesenheit auf Erden die größere Dringlichkeit zukommt, als der ewigen Glückseligkeit, und sich einen neuen Körper gesucht. Einen, der es ihr erlaubt, ab und an einen Blick in die Küche ihrer zweitältesten Tochter zu werfen, sich davon zu überzeugen, dass der Kartoffelsalat – »Ojojo, nä!« – ohne ihr Zutun noch immer nicht gelingt, mit der Lieblingsenkelin zu schmusen, kurz: die Luft zu atmen, die ihr fast achtzig Jahre lang vertraut gewesen ist. Einen Körper, also. Eben jenen unserer Nell. Was man liebt, das lässt man nicht aus den Augen – selbst wenn man dazu im Körper eines Hundes leben muss. Das hätte meine Oma genau so gesagt haben können. Im Dialekt, versteht sich.
Als Nell noch jung war, ist jener Umstand wenig aufgefallen. Mit den Jahren haben sich aber die Hinweise gemehrt, und spätestens als die Hündin mit sieben oder acht Jahren begann, bei Spaziergängen den bekannten, großmütterlichen Watschelgang zu zeigen – sich fortwährend darüber zu beschweren, dass dieser oder jener Weg zu lang, zu steil oder zu weit von Zuhause entfernt sei –, hatte sich der blinde Seelen-Passagier doch verraten. »Esch wull noheem«, sagten das alte und das neue Ich von da an im Chor.
Beide feiern heute ihren zehnten Geburtstag – ihren zehnten Geburtstag als Hund. Und weil man immer ein bisschen von Omas Witz, Omas Weisheit und Omas Liebe in seinem Leben gebrauchen kann, hoffe ich inständig, dass mir beide noch lange erhalten bleiben – dass ich noch viele Jahre Zeit habe, Ähnlichkeiten zu entdecken und darüber zu schreiben. Über die Gewitterangst etwa, die beide teilen, und bei der ich bei Nell nur darauf warte, dass sie zitternd einen Rosenkranz aus ihrer schwarz-weißen Kittelschürze zieht, um mit bebender Stimme ein »Gegrüßet seist du Maria« zu beten. »Ojojo, Jung«, würde meine Oma mir darauf entgegnen – die Beine im Sessel übereinandergeschlagen, eine Tafel Schokolade unter dem Polster versteckt. Und vielleicht möchte Nell auch bloß auf Letzteres hinweisen, wenn sie sich mit rundem Bauch auf dem Sofa streckt: dass eine heimlich zugesteckte und ganz alleine verputzte Leckerei immer noch am besten schmeckt. Die gibt es heute natürlich. Zum zehnten, nein, vielleicht besser: zum vierundneunzigsten Geburtstag.
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