Ein Unfall kann in Sekunden ein ganzes Leben verändern: über eine junge Hündin mit großer Zukunft – und über die Augenblicke danach.
Das größte Unglück ist, glücklich gewesen zu sein.
Deutsches Sprichwort
Es sind genau sechs Worte, die in meinem Kopf widerhallen. Sechs Worte, die sich unentwegt wiederholen, in Endlosschleife – und mit jeder Wiederholung verschwindet etwas mehr Farbe aus meinem Gesicht: eine junge Hündin mit großer Zukunft. Was belanglos klingt – eine Zeile aus einem Richterbericht –, ist es an diesem Freitagabend ganz und gar nicht, denn in meinen Armen trage ich nicht nur die besagte junge Hündin vor mir her, sondern gleichwohl auch ein Stück jener Zukunft. Oder besser: einer Zukunft, die fünf Minuten zuvor fraglich geworden ist. Aber von Anfang an.
»Schon nach fünf«, denke ich und klappe das Notebook zu. Die Hunde, die gerade noch friedlich gedöst haben, schauen auf. Große Lust, mich noch einmal mit den Vieren auf den Weg zu machen, habe ich eigentlich nicht – und für einen kurzen Moment möchte ich es mir gerne erlauben, die Abendrunde ausfallen und die Hunde bloß in den Garten zu lassen –, setze dann aber doch einen Fuß vor den anderen, und nacheinander springen alle Vier ausgelassen auf. »Bloß zur Talsperre, eine halbe Stunde übers Feld«, denke ich, »das mögen alle«, und weil sich die ausgelassene Stimmung auch noch am Ziel angekommen fortsetzt, fallen gleich alle Leinen und die Hunde stürmen los – Zion und Heidi vorneweg, dahinter Nell, und schließlich Ida. Ich streife die Kapuze über und stecke beide Hände in die Jackentaschen – über das weite, baumlose Feld bläst ein eisiger Wind – und vielleicht ist es genau dieser Moment, in dem alles beginnt, falsch zu laufen.
Ida ist die Erste, die umkehrt, um nachzuschauen, was ich in meiner Jackentasche habe. Kurz darauf folgt ihr Nell, die auf Futter hofft, und ungestüm an mir hochspringt – einmal, zweimal, mit forderndem Gebell. Heidi möchte es ihr gleich tun – und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie zum Sprung ansetzt, sich weit hinaufschraubt und das Gleichgewicht verliert, wie sie kippt und schließlich ungebremst fällt. Dann schreit sie. Sie schreit nur einmal kurz auf. Es sind genau sechs Worte, die in meinem Kopf widerhallen – und die Zukunft liegt irgendwo in Trümmern auf dem Feld.
Es ist kein einfacher Bruch, steht am Tag darauf fest – der linke Hinterlauf ist über dem Sprunggelenk gleich zweifach gebrochen. Die Tierärztin, die uns in der Tierklinik Hofheim betreut und nur kurz den Raum verlässt, um mit dem chirurgischen Hintergrunddienst zu telefonieren, hat von Platten und Schrauben gesprochen – sechs Schrauben und einer fraglichen Aussicht auf vollständige Heilung –, und während ich mit der jungen Hündin im Behandlungsraum alleine bin, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Heidi, die zwar lahmt, sich sonst aber kaum etwas anmerken lässt, ist viel tapferer als ich. Das muss sie auch sein – denn als die Tierärztin kurze Zeit später zurückkehrt steht fest, dass Heidi noch am gleichen Tag operiert und stationär aufgenommen werden soll. Für wie lange, kann mir die Tierärztin nicht sagen. »Das hängt vom Schmerzempfinden der Patientin ab«.
Der Chirurg, der sich am Abend nach der Operation telefonisch an mich wendet, äußert sich dann aber schon viel optimistischer. Die Operation sei zwar schwieriger ausgefallen, als angenommen – im Röntgenbild waren nur die beiden Frakturen eindeutig zu erkennen gewesen, nicht aber, dass das mittlere Knochenstück zusätzlich in zahlreiche Bruchstücke zersplittert war –, mit dem Ergebnis sei er aber sehr zufrieden. Er redet über weitere Röntgentermine – nach zwei, sechs und zwölf Wochen –, darüber, dass die Platte in einem weiteren Eingriff entfernt werden muss, und weist darauf hin, dass der Hund für sechs bis acht Monate geschont werden muss. Mich interessiert in diesem Moment aber nur, wann ich Heidi nach Hause holen kann. »Wir rufen Sie morgen vormittag an«, sagt er, und ich bedanke mich.
Dass wir die Crufts verpassen, für die sich Heidi im vergangenen Jahr qualifiziert hatte, tut nur für einen Moment weh. Dass sie sich ihre letzte, noch für den Deutschen Champion fehlende Anwartschaft nicht nach Ablauf eines Jahres im Juli erlaufen können wird, einen Moment länger. Dass unsere Wurfplanung für den Herbst mit ihrem Unfall fraglich geworden ist, schmerzt aber vielleicht am meisten: eine Hündin lasse ich nur bei bester Kondition belegen – und selbst wenn die Heilung nichts zu wünschen übrig lassen wird, wird im Nachgang noch einiges an Physiotherapie notwendig sein, um dem Muskelabbau entgegenzuwirken, der sich durch die lange Schonzeit ergeben wird. Vielleicht sieht man es mir deshalb nach, dass ich in der darauf folgenden Nacht wach liege und mit mir selbst hadere – nicht nur überlege, die Wurfplanung für dieses Jahr zu verschieben, sondern gleich alles hinzuschmeißen. Man bekommt nur so viel aufgebürdet, wie man tragen kann, heißt es irgendwo. Ich bin mir da manchmal nicht so sicher.
Sicher bin ich mir, dass sich mancher das missgünstige Lachen kaum verkneifen können wird. Nicht, weil Erfolg immer Neider nach sich zieht, nicht, weil schlimmen Menschen eben schlimme Dinge passieren, sondern vielmehr, weil nicht nur Heidi den Simaro-Stempel trägt, sondern ein wenig vielleicht auch ich. Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir das aber gerade vollkommen egal. Wenn ich ehrlich sein soll, möchte ich gerade nur diese junge Hündin nach Hause holen, die unser Leben so sehr bereichert hat. Möchte für sie nicht die große, sondern nur die schmerzfreie, die gesunde Zukunft. Weil alles andere in diesem Moment nicht mehr wichtig ist.
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