Wer Stimmen hört, gehört zum Arzt? Über die innere Stimme, und warum es gerade für Züchter wichtig ist, auf sie zu hören. Und ein bisschen Winter.
Is this the real life? Is this just fantasy?
Caught in a landslide – no escape from reality.
Bohemian Rhapsody, Queen (1975)
Ein Montagmorgen im Februar. Die vier Hunde laufen ungeduldig auf und ab, während ich mir zuerst ein zweites Paar Socken und dann die Winterstiefel anziehe, die deutlich eine Nummer zu groß sind – deshalb die Socken. Ich beeile mich, ziehe hüpfend Mütze und Jacke vom Haken, und schaffe es endlich, mit dem linken Fuß in den kniehohen Stiefel zu schlüpfen. Den Vieren geht es dennoch zu langsam – der frische Schnee lockt – und jeder meiner Versuche, die Hunde mit einem »Gleich« oder »Sofort« zu beschwichtigen, geht in Brummen und Bellen unter. Als sich die Tür schließlich öffnet, stürmen alle vier ungehalten davon. Ich ziehe den Reißverschluss zu und werfe noch einen letzten Blick zurück, sehe die Kameratasche auf der Anrichte stehen, zögere, entscheide mich dann aber, das fast sechs Kilo schwere Gepäckstück zuhause zu lassen. »Grau wie ein altes Taschentuch«, denke ich, und meine den Himmel, »bis sich der Nebel auflöst, wird es noch Stunden dauern«. Nachdem die Hunde im Auto untergebracht und Eis und Schnee von den Scheiben gekratzt sind, fällt mir im Dunst über dem Nachbarhaus ein undeutliches gelbes Leuchten auf, und irgendetwas in mir möchte mich auffordern, umzudrehen, die graue Umhängetasche doch mitzunehmen – von wegen Hunde und Sonne und Schnee, und so. Weil die besagten Hunde aber schon wieder zu Bellen begonnen haben, wische ich den Gedanken beiseite – und ärgere mich, kaum dass wir die Hälfte der zehn Kilometer bis zur Fuchskaute gefahren sind: aus dem Nebel tauchen Baumreihen auf, auf denen der Frost im Morgenlicht glitzert, Schnee wirbelt wie Feenstaub im Wind. Schönstes Winterwetter. »Hättest du mal auf deine innere Stimme gehört«, sage ich zu mir selbst, »hättest du mal genau hingeschaut und erkannt, was doch völlig offensichtlich war!«
Wenn es bloß unbedeutende Entscheidungen sind, mag es verzeihlich sein, die warnende, innere Stimme zu überhören. Man tut schließlich niemandem damit weh und muss – abgesehen von einem bisschen Selbstmitleid – auch selten Konsequenzen fürchten. Ein vertaner Moment, eine verpasste Gelegenheit. Bei weitreichenden Entscheidungen – solchen, die nicht nur das eigene Leben betreffen – sieht das aber anders aus. Der Widerspruch, den die innere Stimme angemeldet hat, der Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Entscheidung, wird sich wie ein Echo durch die Tage ziehen und immer wieder mahnend vorbringen, dass man es doch eigentlich besser gewusst hat – allein, dass es dann zu spät und das Kind längst in den Brunnen gefallen ist.
Als Hundezüchter hat man oftmals solche weitreichenden Entscheidungen zu treffen. Welche Hündin verpaart man mit welchem Rüden? Oder: Wem vertraut man einen seiner Welpen an? Wenn man es sich leicht machen will, entscheidet man beides vielleicht ohne groß nachzudenken – man sieht Angebot und Nachfrage, stellt den Verkaufsgedanken voran –, nimmt einfach diese Hündin und den nächstbesten Rüden und freut sich über jeden Welpen, der nach acht Wochen das Haus verlässt. Möchte man verantwortlicher entscheiden, legt man aber ganz bestimmt höhere Maßstäbe an. Man nimmt sich Zeit, um Stammbäume zu studieren, nachzuforschen, welche Unbekannten in der Gleichung sind, und schickt von fünf Interessenten vier ohne Welpen wieder nach Hause. Und trotzdem: bleibt da die innere Stimme. Bleibt oft genug der Gedanke, dass man – auch wenn man vermeintlich alles richtig gemacht hat – irgendetwas übersehen hat. Weil man viel mehr wahrnimmt, als man wahr haben möchte. Weil die innere Stimme nie umsonst »Pass auf!« und »Sei vorsichtig!« sagt.
Oft sind es nämlich nur Feinheiten, wie das undeutliche gelbe Leuchten über dem Nachbarhaus – oft sind es nur winzige Irritationen, die uns alles sagen, was wir wissen müssen. Eine zögerliche Antwort vom Besitzer des Deckrüden, eine Hand, die sich immer dann in Abscheu spreizt, wenn sich der Kopf der Mutterhündin darunter schiebt, ein Blick, der überall, aber nicht bei den Hunden ist.
Als Züchter muss man nicht nur lernen, wie das Offensichtliche gelingt, sondern vielleicht noch mehr, der inneren Stimme – diesem eigenartigen Gemisch aus Einschätzungen, Erkenntnissen und Reaktionsmustern, die man in ähnlicher Weise bereits erlebt oder selbst getroffen hat – zu vertrauen: der Hund im Schnee, den man nicht fotografiert hat, tut niemandem weh – der Hund, der ins falsche Leben geboren, in die falschen Hände gekommen ist, aber sehr wohl. Denn während man tags darauf immer noch einmal losziehen und ein Foto nach dem anderen schießen kann, lassen sich andere Versäumnisse kaum wieder gut machen.
Wie klingt sie nun, diese innere Stimme? Fängt sie beim Spaziergang plötzlich an zu reden? Wenn man nachts wach liegt? Oder am Morgen danach? Ist sie die eigene? Die der Erfahrung? Oder doch die spontane Eingebung, die bloß das Schlimmste verhindern, das Beste bezwecken will? Die mahnt, gründlich und mit Weitblick zu entscheiden. Ich glaube, oft klingt sie für jeden Züchter gleich – allein, dass es manchem besser gelingt, sie zu überhören. Sie sagt nur eins: »Entscheide verantwortlich, entscheide gut – und wenn sich der letzte Zweifel nicht ausräumen lässt, entscheide dich für Nein!«
© Johannes Willwacher