Ein Weihnachtsmärchen in acht Bildern
Text und Bild (Copyright): Johannes Willwacher
Hair is grey and the fires are burning,
so many dreams on the shelf.
You say I wanted you to be proud of me,
I always wanted that myself.
Winter, Tori Amos (1992)
Der alte Hund hatte die Augen geschlossen. Im Zimmer war es dunkel, das Feuer längst heruntergebrannt und nur noch ein schwaches Glimmen ließ dann und wann einen warmen, roten Schein in der Dunkelheit leuchten. Aus der Kammer nebenan duftete es nach Zuckergebäck und Braten – die Herrschaften hatten Tage damit zugebracht, die köstlichsten Speisen für die Feiertage zuzubereiten –, und wäre er nur noch etwas jünger gewesen, so hätte der alte Hund wohl nur zu gerne versucht, ob die Tür der Kammer nicht mit einem leisen Kratzen aufzubekommen sei. »Früher einmal«, dachte er und ließ genüsslich die Zunge schnalzen, »früher wäre das für mich ein Leichtes gewesen, und ich hätte mich dafür auch ohne Nachzudenken dem schrecklichsten Donnerwetter ergeben«. Heute begnügte er sich gerne mit dem, was ihm die Herrschaften aus freien Stücken zukommen ließen – einer Scheibe Wurst, einem gekochten Ei –, und freute sich, wenn man ihn einen ganz und gar braven Hund nannte.
Er war über diesen letzten Gedanken beinahe eingeschlafen, als das Knarren der Stubentür seine Ohren zucken ließ. Bald darauf näherten sich Schritte – eins, zwei, drei – in stolperndem Takt, wurde der Holzkorb vor dem Kamin umgestoßen und mit lautem Gepolter ein neues Scheit aufgelegt. »Wer auch immer das gewesen sein mag«, dachte der alte Hund, die Augen noch immer fest geschlossen, »er hatte daran schwer zu tragen, so laut, wie er schnauft«. Tatsächlich rang dort im Dunkel jemand japsend nach Luft – wenn der alte Hund sich recht besann, dann klang es sogar beinahe so, als säße ihm dieser Jemand gleich im Nacken. Er erschrak. Und spürte im selben Augenblick den fremden Atem, der ihm die Barthaare zittern ließ. Mit einem Knurren öffnete er schließlich die Augen.
»Was hockst du zur Schlafenszeit hier über mir und hechelst mich an?«, fuhr er den jungen Hund an, der ihm neugierig gegenüber saß. Der Welpe legte den Kopf schief. Zweifelsohne dachte er gar nicht daran zurückzuweichen oder seinen Blick abzuwenden, unverwandt starrte er den alten Hund aus großen Augen an. Der alte Hund kräuselte die Lefzen. »Sag schon, warum weckst du mich?«, stieß er zwischen den gefletschten Zähnen hervor, »solltest du nicht bei deinen Brüdern und Schwestern sein, statt dir und mir die Nacht um die Ohren zu schlagen?« Die junge Hündin, die mit ihm und den Herrschaften auf dem Hof lebte, hatte vor wenigen Wochen ihren ersten Wurf zur Welt gebracht – den Vater der Welpen hatte er nie gesehen, es hieß, er solle ein bekannter Schönheitschampion sein –, und während die Hündin die sechs Welpen in den Stallungen aufzog, hatte er sich angestrengt, allen tunlichst aus dem Weg zu gehen. »Nun sag schon, was willst du?«
»Du bist alt«, erwiderte der junge Hund und lächelte. Der alte Hund hob ruckartig den Kopf. Hätte man ihn gefragt, warum er es bisher vermieden hatte, der jungen Hündin und ihren Welpen zu begegnen, so hätte man zur Antwort bekommen, dass junge Hunde keinen Anstand besaßen, sich nicht zu benehmen wussten und ihm ihr aufgeregtes Tun ganz einfach zuwider sei. Dass das keine ehrliche Antwort und der eigentliche Grund ein anderer war, hätte er kaum zugegeben – denn wenn er ehrlich war, erinnerten ihn die jungen Hunde bloß schmerzlich daran, dass er selbst kein junger Hund mehr war, und die Tage, an denen er sorglos über den Hof tollen konnte, längst gezählt waren. »Das weiß ich selbst«, antwortete er also.
»Mutter sagt, wer viele Tage gelebt und vieles gesehen hat, der weiß auch viel«, gab der junge Hund zurück und streckte beschwichtigend die Pfote aus. Der alte Hund schaute ihn verwundert an. Der kleine Kerl hatte zwar zweifellos Recht damit, dass er in seinem Leben viel gesehen hatte – wusste er aber deshalb auch viel? Er kannte den Wald und die Wiesen, die den Hof umgaben, konnte die Spuren von ungezählten Tieren lesen, wusste, wann ein Gewitter drohte, und hätte wohl auch noch jederzeit – wenn seine Knochen nicht so sehr schmerzen würden – ein verirrtes Schaf zurück zur Herde treiben können. War das aber schon viel? »Manch einer wird alt und weiß von gar nichts«, sagte er und dachte dabei an die Schafe, die sich in jedem Frühjahr im Wald verliefen, weil sie immer wieder vergaßen, auf welchem Weg sie hinein gelangt waren.
»Weißt du, was Weihnachten ist?«, fragte der junge Hund. »Hast du mich allein deshalb geweckt?«, knurrte es mürrisch zurück. Der Welpe nickte. »Dann lass dir sagen, dass ich es weiß. Aber was willst du schon davon verstehen? Du hast kaum acht Wochen gelebt und – schau dich an – kannst auf deinen kurzen Beinen gerade einmal stehen. Selbst wenn ich zum Besten gäbe, was ich weiß, würdest du nur mit ratloser Miene von dannen ziehen. Und jetzt lass mich schlafen!« Er schloss die Augen, fühlte den Blick des jungen Hundes aber noch immer auf sich ruhen. »Man vergisst, neugierig zu sein, wenn man alt wird«, dachte er bei sich, »man zählt bloß noch eins und eins zusammen, und glaubt, dass sich dem alles unterordnen lässt – keine Überraschungen, kein Wunder«. Der Duft von Gebäck und Braten.
»Weihnachten«, seufzte der Alte schließlich, »Weihnachten ist alles und nichts, weil Weihnachten für jeden etwas anderes ist«. Nun war es der junge Hund, dem die Verwunderung ins Gesicht geschrieben stand. Der alte Hund setzte sich auf. »Möchtest du wissen, was man sagt, was Weihnachten ist, oder doch lieber, was ich denke, was Weihnachten ist?« Der junge Hund befand mit einem Nicken, hören zu wollen, was der Alte zu sagen hatte, und kauerte sich mit gespitzten Ohren vor den Kamin.
»Zunächst einmal ist Weihnachten ein Fest, das man mit denen verbringen sollte, die man liebt. Denen, die einem Wärme und Geborgenheit schenken, die sich kümmern und sorgen, nachfragen, wie es einem geht, und für die man – ohne lange darüber nachzudenken – die gleichen Gefühle hegt«. Während der alte Hund dabei mit ganzem Herzen an seine Herrschaften dachte – an den Mann, seine Frau und die Kinder, die schon längst keine mehr waren –, sah der junge Hund die Schatten seiner Geschwister im Feuerschein sitzen, sah die Mutter, die sich fürsorglich über ihn beugte, und ihm versicherte, immer für ihn da zu sein. Er schaute den alten Hund nachdenklich an. »Hast du auch eine Mutter?«
Der alte Hund ließ die Ohren sinken. »Alles, das lebt, hat eine Mutter – und alles, das lebt, geht den gleichen Weg. Wenn unsere Tage aufgebraucht sind, verschwinden wir – beinahe so wie der Nebel, der im Herbst morgens über den Feldern liegt, von dem nichts bleibt, außer der Erinnerung. Es ist viele Jahre her, seit ich meine Mutter gesehen habe – damals war ich ein so junger Hund, wie du, und die Herrschaften haben mich zu ihrem Wagen getragen und fortgebracht. Meine Mutter wird alt und älter geworden sein, grau und lahm, so wie ich, und eines Tages wird sie beschlossen haben, dass die Zeit gekommen ist, mit dem Nebel zu gehen«. Im Kamin brach das Holzscheit krachend entzwei. »Weil wir die, die zu Nebel geworden sind, für immer vermissen, ist Weihnachten auch ein Fest der Erinnerung«, sagte der alte Hund mit gesenkter Stimme und schaute eine Weile stumm in die Flammen, »bis wir irgendwann ganz mit uns alleine sind«.
»Aber du bist doch nicht alleine«, warf der junge Hund aufmunternd ein, »du hast ein Zuhause, das warm und gemütlich ist, hast Menschen, die gut zu dir sind, und wenn du willst, dann kannst du dein Herz jeden Tag an jemand anderen verschenken«. Einen so klugen Gedanken hätte der Alte dem Jungen kaum zugetraut – und wenn er es sich recht überlegte, dann hatte der Kleine damit, ohne es zu wissen, eine weitere Bedeutung von Weihnachten begriffen. »Weihnachten ist nicht nur ein Fest der Liebe und Erinnerung, sondern immer auch eine Einladung, einen Schritt auf alles Fremde zuzumachen, zu vergessen, was einen trennt, sich zu erinnern, was einen eint – und vielleicht auch, den schönsten und liebsten Ball oder den leckersten Knochen mit einem anderen zu teilen«. Der junge Hund kratzte sich unentschlossen hinter dem Ohr. »Mutter sagt, man muss mit Fremden vorsichtig sein. Man weiß nie, ob man gebissen wird.« Der alte Hund lachte. »Habe ich dich denn gebissen?« Der junge Hund schüttelte den Kopf. »Da siehst du«, fuhr der Alte fort, »und ich war für dich nicht weniger fremd, als irgendjemand sonst – man macht sich keine Freunde, wenn man immer nur Angst hat«.
»Aber wenn mich doch einmal jemand beißt?«, entgegnete der Welpe. Der alte Hund dachte, dass dem Kleinen in seinem kurzen Leben kaum etwas Schlimmeres widerfahren sein mochte, als einem seiner Geschwister im Spiel unterlegen gewesen oder von der Mutter nach dem Absetzen fortgebissen worden zu sein. »Hast du deiner Mutter vergeben, als sie dich nicht mehr trinken lassen wollte?«, fragte er deshalb. Der junge Hund nickte. »Wenn du älter wirst, wirst du häufig anderen ihre Fehler vergeben müssen – oder darauf hoffen, dass man dir deine vergibt. Ganz gleich, ob du für deinen Fehler zuerst einen Tadel oder einen Klapps mit der Zeitung bekommen hast, wird es für dich das schönste Gefühl sein, wenn man dir über den Kopf streicht und vergibt. Auch das ist Weihnachten.«
Der junge Hund hatte sich unterdessen neugierig erhoben und angeschickt, sich auf der anderen Seite des Zimmers an der Kommode hinaufzuziehen. Die beschnitzten Türen des Möbels bebten unter seinem Gewicht und auch die bunt bemalten Figuren, die auf der mit feinen, weißen Tüchern hergerichteten Deckplatte standen, zitterten. So sehr sich der Welpe aber auch bemühte, er konnte nicht daran gelangen. »Schafe, ich habe Schafe gesehen«, rief er atemlos und lief mit aufgeregt weldender Rute vor dem Möbel auf und ab. Der alte Hund bedeutete ihm mit strengem Blick leise zu sein, stand auf und der Junge folgte ihm. »Die Schafe, die du gesehen hast, gehören zum Weihnachtsfest der Herrschaften«, flüsterte der Alte und stieß mit der Nase die Stubentür auf, »so wie der Baum, die Lichter und das Kind in der Krippe«. Es brauchte einige Zeit, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann aber sah auch der junge Hund den Baum, der dort mitten im Zimmer stand. »Die Herrschaften glauben, dass ihnen zu Weihnachten ein Erlöser geboren worden ist. Von Erlösern verstehe ich, zugegeben, nur wenig – ich bin ein Hund –, weiß aber, was Hoffnung ist. Vielleicht ist Weihnachten deshalb außerdem ein Fest der Kinder, weil wir Alten in einem Kind nicht nur Hoffnung, sondern auch Ewigkeit sehen. Das Gute, das man weitergibt, lässt einen selbst weiter leben«. Der Kleine war ganz still. Leise machten sie kehrt.
»Das ist also Weihnachten«, sagte der junge Hund, als sie sich schließlich wieder vor dem Kamin niederließen, und gähnte. »Weihnachten ist das Fest der Liebe und Erinnerung, der Herzenswärme und Vergebung. Ein Fest der Hoffnung und – zu guter Letzt – ein Fest des Lebens. Deshalb gilt es, an den Feiertagen so gut und so viel zu essen, wie man kann – nein, am besten noch mehr –, zu lachen, zu singen und zu tanzen, zu feiern, als gäbe es kein Morgen mehr, als würde man nie satt, von all diesem Wunder.« Zärtlich stupste er den jungen Hund mit der Schnauze an, doch der war schon eingeschlafen. Der alte Hund lächelte. »Mein Weihnachtswunder!«
Und alles, was verloren geglaubt war, war wieder gefunden.
Wir wünschen allen das beste Weihnachtsfest!
Johannes und Dirk
Nell, Ida, Zion und Heidi
im Dezember 2018
Comments are closed.