Es heißt, der Border Collie hat ein Problem. Wieder mal. Über Polemik, das postfaktische Zeitalter und Intuition per Definition: Zeit, unruhig zu werden.
Es ist August. Ein paar Tage noch, dann beginnt der September. Der Sommer – das verrät mir ein Blick aus dem Fenster, vor dem der Himmel in ein stumpfes Grau getaucht ist und schwere Regentropfen gegen die Scheiben schlagen – ist vorbei. Ich nippe an dem Kaffee, der längst nicht mehr warm ist, klaube ein zweites Kissen vom Boden auf, um es mir in den Rücken zu klemmen, und ziehe mühsam erst das eine, dann das andere Bein unter der schlafenden Hündin hervor, die auf der zusammengeknüllten Bettdecke darüber liegt. Alles ist ruhig. Nur ich bin es nicht.
Der Grund für die morgendliche Unruhe findet sich eine Handbreit unter der Hüfte und zeichnet sich farblich durch das gleiche stumpfe Grau aus, wie der Himmel an diesem Morgen. Die Tastatur und der Bildschirm leuchten schwach, ein blauer Streifen am oberen Rand, darunter in Spalten und Zeilen dichtgedrängte Buchstaben. Seitdem ich aufgewacht und mit einer großen Tasse Kaffee zurück unter die Bettdecke gekrochen bin, habe ich mich durch fast die Hälfte der Kommentare gelesen, die dort in wenigen Stunden abgegeben worden sind – und mit jedem gelesenen Kommentar ist nicht nur der Kaffee kälter oder meine Laune schlechter geworden, sondern hat sich vor meinem inneren Auge auch immer mehr ein Bild manifestiert: das Bild eines Border Collies, der einen silbernen Aluhut trägt.
Das postfaktische Zeitalter hat auch in der Hundwelt längst Einzug gehalten – und verglichen mit politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen dort Grundlagen gefunden, die noch viel stärker auf Emotionen, als auf nachweisbaren Fakten gründen. Liebe, Trauer, Angst und Wut sind – mit etwas Fell und einem treuen Blick verpackt – ein Garant für viele Kommentare. Und weil in der postfaktischen Welt grundsätzlich das für wahr gehalten wird, worüber viele Menschen reden, kommt es nicht von ungefähr, dass sich in den sozialen Netzwerken immer mehr Diskussionen finden, die Probleme attestieren, wo gar keine sind – ein subjektiver Eindruck, ein bisschen Polemik, und fertig ist das Problem. An diesem Morgen hat also der Border Collie eines. Oder besser: der »echte« Border Collie. Mal wieder. Es wird gebuht, geschrien und gehasst – und weil man stets einen exklusiven Kreis von Leuten um sich hat, die mit denselben Interessen ausgestattet sind, darf jede Meinung geäußert werden: je gehässiger, desto besser. Aber über was redet man hier eigentlich? Und wenn es den einen »echten« Border Collie tatsächlich gibt, gibt es dann auch einen »falschen«?
Mehr Intuition!
Gibt es nicht. Und gab es nie. Weil die Rasse schon in ihren Anfängen vor allen Dingen einem unterworfen gewesen ist: der züchterischen Intuition. Letztere hat schon früh zur Ausprägung verschiedener Typen geführt, die sich zwar durch ähnliche Arbeitseigenschaften auszeichneten, optisch aber weit voneinander abwichen. Erst die Anerkennung der Rasse durch die FCI und die damit verbundene Formulierung eines verbindlichen Rassestandards hat einen homogeneren Typ hervorgehen lassen – und mitunter wohl auch dazu geführt, dass die Arbeitseigenschaften der Rasse nachrangig behandelt wurden. Welcher Typ nun aber am ehesten dem Idealbild entspricht, lässt sich kaum zufriedenstellend beantworten. Warum? Weil sich über Intuition nicht gut reden lässt.
Per Definition ist Intuition nie auch nur annähernd objektiv und immer in Abhängigkeit vom jeweiligen Wissensstand und den Erfahrungswerten zu sehen. Für sich genommen hat demnach jeder Recht, der sich auf die Intuition beruft – und jeder Unrecht, der eine gegenteilige Meinung vertritt. Wird also – wie beim Border Collie – in der gleichen Situation aus unterschiedlichen Positionen argumentiert, kann das kaum zu einem Konsens führen. Das erklärt im Ansatz vielleicht, warum Diskussionen über die Entwicklung der Rasse mit schöner Regelmäßigkeit eskalieren. Und damit auch meine Unruhe an diesem verregneten Morgen: der Border Collie hat ein Problem.
Einerseits hat er zu viel Fell und zu kurze Beine, einen zu breiten Kopf und nichts darin. Andererseits sind die Beine zu lang, die Winkel zu steil und ist die Optik – ein bisschen Polemik – so weit von den Ursprüngen entfernt, wie Hamburg von München. Das eigentliche Problem ist aber gar nicht das Vorhandensein verschiedener Typen – im Sinne der Intuition hat jeder seine Fürsprecher und jeder seine Daseinsberechtigung –, sondern viel eher die Frage, ob und wie sich diese objektiv beurteilen lassen.
Mehr Objektivität!
Am deutlichsten wird dieses Problem im Fall von Hundeausstellungen, die eben nicht nur eine nette Freizeitbeschäftigung für Mensch und Hund, sondern auch das maßgebliche Instrument der innerhalb der FCI organisierten Rassehundevereine darstellen, um die Zuchttauglichkeit eines Hundes im Hinblick auf den Rassestandard einzuschätzen. Die Unzufriedenheit, die oftmals gerade dort geäußert wird, wo das Erscheinungsbild des Hundes in einem oder mehreren wesentlichen Punkten vom Standard abweicht und die für eine Zuchtzulassung erforderlichen Formwertnoten nicht oder nur erschwert erreicht werden können, bricht sich auch in den Forendiskussionen über die Entwicklung der Rasse immer wieder Bahn. »Es fehlt an Objektivität«, heißt es dann. Und zweifelsohne braucht es mehr davon. Aber nicht unbedingt auf Seiten der Richter. Viel mehr noch bedarf es ein Umdenken auf Seiten derer, die von der Zuchttauglichkeitsprüfung, die für den arbeitenden Border Collie als Alternative zum Ausstellungswesen gesetzt worden ist, keinen Gebrauch machen – in Summe haben im Club für britische Hütehunde bislang kaum mehr als ein Dutzend Hunde einen Herding Working Test absolviert und darüber ihren Weg in die Zucht gefunden – und der Zuchtzulassung auf Ausstellungen erfolglos hinterherlaufen.
Warum Umdenken? Warum mehr Objektivität? Weil es immer darum gehen sollte, den Ist-Zustand ehrlich und im Hinblick auf die Folgegeneration zu beurteilen, Fehler auszugleichen und zu extremen Entwicklungen gegenzusteuern. Das bedeutet fraglos, dass jeder Ansatz von Plumpheit zugunsten eines athletischeren Typs ausgeglichen werden sollte – die Entwicklung ist, im Gegensatz zur gegenwärtigen Kritik, nicht neu und wird schon seit dem Import der ersten Hunde aus australischen und neuseeländischen Linien vor fast dreißig Jahren kontrovers diskutiert. Das bedeutet aber gleichwohl, dass auch die Züchter, die ihr Hauptaugenmerk auf der sportlichen Nutzung der Rasse haben, in der Pflicht sind und das Exterieur nicht auf Biegen und Brechen möglichen Bestzeiten untergeordnet werden darf – denn auch hier sind deutliche, wenn nicht zum Teil sogar bedenkliche Abweichungen zu finden. Und nicht zuletzt bedeutet das, Ausstellungen als Sportveranstaltungen zu begreifen, für die trainiert werden muss – denn Erfolge fallen selbst denen nicht in den Schoß, die vermeintlich immer vorne stehen: hier wird mit dem Hund zumeist schon vom Welpenalter an geübt, genauso wie es in allen sportlichen Disziplinen – im Agilty, Obedience, bei der Hütearbeit – gang und gäbe ist. Wer den Trainingsaufwand abtut, hat das wahrscheinlich nicht begriffen. Und schafft sich damit selbst ein Problem.
Mehr Probleme?
»Hat der Border Collie aber nun eines?«, frage ich mich, als ich zwei Tage später wieder mit dem Macbook auf dem Schoß im Bett sitze. Wenn man es allein der Intuition überlässt – vielleicht. Wenn man, statt sich bewusst mit den Fehlern der eigenen Hunde auseinanderzusetzen, bloß die Fehler der anderen sieht – vielleicht. Wenn man die Schuld allein bei Zuchtrichtern sucht und glaubt, dass dieser oder jener Typ bevorzugt wird – vielleicht. Dann könnten gegenwärtige Tendenzen tatsächlich zu Problemen werden. Wenn man aber Wissen und Erfahrungswerte einsetzt, wenn man Training nicht scheut und sich bewusst mit Fehlern auseinandersetzt, bestimmt nicht. Intuition alleine hat nämlich einen entscheidenden Nachteil: sie trügt mitunter. Denke ich, während vor dem Fenster die Sonne aufgeht. Der Sommer, so scheint es, ist längst noch nicht vorbei. Quod erat demonstrandum. Falsch gedacht.
© Johannes Willwacher