Border Collies sollen nicht Ballspielen, meinen Sie? Nun, ich glaube, manch stolzer Besitzer eines Border Collies sollte das auch nicht. Ich, zum Beispiel.
Das grüne Ding mit der zerfledderten, blassroten Kordel liegt im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Meistens bleibt es dort liegen – zumindest, wenn ich mit den Hunden unterwegs bin –, und meistens stört das auch niemanden, nicht einmal die Hunde. Dass ich kein begeisterter Ballspieler bin, wissen nämlich auch die Vier, und freuen sich deshalb vielleicht noch ein bisschen mehr über die Spaziergänge, bei denen zuhause ein voller Schreibtisch wartet und wenig Zeit vorhanden ist, die kurze Runde über die Felder also ausreichen muss: dann lasse auch ich mich gerne breitschlagen, das grüne Ding mitzunehmen.
»Border Collies sollen aber doch am besten gar nicht Ballspielen«, meinen sie? Dem schließe ich mich grundsätzlich an – weil sinnloses Ballspielen, das nur durch Hetzen und Jagen motiviert ist, ganz ohne Sozialbezug auskommt – es bloß noch um eine vom Menschen losgelöste Objektfixierung geht –, und ich mich viel eher als Sozialpartner verstehen, als zur Ball-Weitwurf-Maschine degradieren lassen will. Statt die stereotypen Abläufe zu fördern – werfen, jagen, apportieren –, versuche ich das Ballspielen daher zur Impulskontrolle einzusetzen und Unterordnungseinheiten zwischenzuschalten, bei denen die Aufmerksamkeit der Hunde auf meine Person gelenkt wird. So haben alle mehr davon. Also, zumindest theoretisch. Denn in der Praxis gibt es einen entscheidenden Nachteil: mich. Ich bin nämlich so richtig Scheiße im Werfen.
Als Kind habe ich gerne versucht, dieses Manko durch Kreativität zu kaschieren, und im Spiel mit den Nachbarskindern angeregt, statt der üblichen Ballspiele meine Selbsterfundenen zu probieren. Eins davon – oder auch: das Einzige, das mir im Gedächtnis geblieben ist –, nannte sich »Ein Loch im Ozonloch«. Ja, ich bin in den Achtziger Jahren aufgewachsen, und ja, die schädlichen Auswirkungen von Fluorchlorkohlenwasserstoff wurden damals auch unter Grundschülern diskutiert. Ob ein Loch aber tatsächlich weitere Löcher beinhalten kann, entzieht sich genauso meiner Kenntnis, wie der tiefere Sinn dieses denkwürdigen Spiels. Denn eigentlich ging es dabei allein darum, dass sich ein Kind – mit fest geschlossenen Augen, den Ball in die weit von sich gestreckten Hände gepresst – wild im Kreis drehte, während die anderen Kinder ringsum standen und ihre festgeschriebenen Plätze unter gar keinen Umständen verlassen durften. Ließ das Kind in der Mitte den Ball irgendwann los, bestand also nur eine äußerst geringe Chance, dass eines der umstehenden Kinder den Ball fing, viel öfter landete dieser mit zentrifugaler Beschleunigung in einem der hübsch bepflanzten Vorgärten – und alle Kinder krähten gemeinsam: »Ein Loch im Ozonloch«. Ein tolles Spiel, das niemandem – wirklich niemandem – jemals Spaß gemacht hat. Also, niemandem außer mir.
Wenn ich mit den Hunden spiele, habe ich oft einen ähnlichen Eindruck. In den vergangenen Jahren sind schon so viele Spielbälle durch verunglückte Würfe verloren gegangen, dass es mich wundert, dass die Hunde sich überhaupt noch darüber freuen, wenn ich einen Ball in die Hand nehme. Manche sind in den Wipfeln meterhoher Tannen hängengeblieben – und warten bis heute darauf, dass der Wind die nadelbesetzten Äste zum Schaukeln bringt und sie ihren Weg zurück zum Boden finden. Manche liegen auf dem Grund von Seen und Flüssen. Und manche – wahrscheinlich die meisten – auf irgendwelchen Feldern und Weiden, im hohen Gras und vor aller Augen verborgen, bis ein Heuwender sie nach der Mahd auflesen und mit maschinellem Bumms ins Ball-Nirvana befördern wird. Oder meinetwegen auch – weil das Bild besser passt – in die ewigen Jagdgründe.
Das grüne Ding liegt im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Heute, habe ich beschlossen, nehme ich es wieder einmal mit. Ich lasse es an der blassroten Kordel kreisen, locker aus dem Handgelenk, lasse die Hunde warten, während sich der Ball immer schneller dreht, hole weit aus und lasse schliesslich los. Der Ball fliegt und fliegt und fliegt. Und alle Kinder krähen gemeinsam: »Ein Loch im Ozonloch«.
© Johannes Willwacher