Ein Hundegeburtstag: unsere Nell wird neun Jahre alt. Über graue Schnauzen, freche Tigerkatzen und den allergrößten Lebenshunger.
Neun Jahre. Nell, hast du bemerkt, wie grau deine Schnauze geworden ist? Dass sich die feinen Stichelhaare, die früher nur vereinzelt wuchsen, längst ausgebreitet, deine Wangen erobert und deinen Blick bezwungen haben? Dass zwischen deinen Wimpern zwei, drei weiße sind, und in deinen Ohren graue Strähnen? Dass selbst dort, wo deine Rute ansetzt, die Zeit den Pinsel angesetzt und Ewigkeit ins schwarze Fell gemalt hat?
Nell, ich glaube, nichts davon ist dir aufgefallen. Nicht einmal jetzt, während du mir gegenübersitzt und ich dich durchdringend anschaue. Während die Frage aller Fragen so offensichtlich zwischen uns steht – beinahe so, als hätte sie tatsächlich Gestalt – und es dich kaum Mühe kosten dürfte, meinen Blick zu deuten. Denn manchmal, Nell, manchmal wache ich nachts auf und stelle mir den Tag vor, an dem du nicht mehr da bist. Den Tag, an dem du dich am Morgen nicht mehr zuerst langsam streckst, um dich dann mir entgegenzustrecken und deinen Kopf, mit all den blassen Träumen von frechen Tigerkatzen, als Morgengruß unter mein Kinn zu stecken. Neun Jahre, versuche ich mir dann einzureden, neun Jahre könnten für einen Hund doch auch nur die Wegmarkierung auf halber Strecke sein – nicht das Endstück, nicht die Zielgerade –, und dass ein Hund, der so ist wie du, noch viel mehr Träumen hinterherjagen, noch viel mehr laufen, viel mehr leben muss.
Neun Jahre. Nell – ist dir das bewusst? Ich möchte wetten, würde ich dich fragen, wär’ die Antwort unmissverständlich und du würdest sagen: »Hör’ auf so nen Stuss zu schreiben und fütter’ mich!« Und genau deshalb, Nell – für das Jetzt und das Immer – lieb’ ich dich.
© Johannes Willwacher