Hundegruppen ticken anders – und nicht selten tickt in der Gruppe auch ein solcher Hund aus, der sonst durch die beste Erziehung glänzt. Ein ehrlicher Blick auf unser Hunderudel.
Ich mache einen großen Schritt über eine Pfütze auf dem Weg, lasse die vier Schleppleinen, die an diesem Morgen zu unserem Waldspaziergang gehören, mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk folgen, und erspähe, als ich wieder aufblicke, eine fremde Hundeschnauze, die hinter der nächsten Biegung aus dem noch spärlich grünen Haselnussdickicht lugt. Dahinter taucht noch eine Zweite auf und – mein Puls, der sich kurz verstolpert hat, beruhigt sich – der dazugehörige Mensch, das Gesicht abgewandt. Noch bevor einer meiner vier Hunde die Entgegenkommenden bemerkt – was nicht stimmt, denn alle drei haben sich augenscheinlich zur Rast auf oder vor einer im Grün versteckten Wanderbank niedergelassen, vielmehr kommen also wir entgegen –, habe ich die Leinen gestrafft und um meinen Unterarm gewickelt, und mich mental auf das Folgende eingestellt. In Menschensprache übersetzt, lautet das in etwa so:
»Haste den gesehen?«
»Wie scheiße schaut der denn aus?«
»Hat der mich angeguckt?«
»Was glotzt der denn so blöd?«
»Um was geht’s denn?«
»Ey, du Homo!«
»Der kriegt gleich Haue!«
»Da mach ich mit!«
Das mag manchem, der – so wie ich – zumeist mit mehreren Hunden spazieren geht, bekannt vorkommen: für sich genommen ist jeder Hund sozialverträglich und orientiert sich, bei der Begegnung mit fremden Hunden, ausschließlich an seinem Menschen, dessen Fokus und Gelassenheit – in der Gruppe gibt dann aber oftmals doch ein Wort – oder besser: ein dahingepöbeltes Wau-wau – das nächste. Warum? Vielleicht, weil es Spaß macht? Weil man sich gemeinsam mehr zutraut, als allein? Oder weil es in der Gruppe schwerer fällt, den Schuldigen auszumachen?
»Das gehört sich aber nicht!«
Wenn ich mir unsere vier Hunde anschaue, dann fällt mir auf, dass sich jeder in Begegnungssituationen anders verhält, er im Miteinander andere Schwerpunkte setzt oder eine andere Erwartungshaltung zeigt.
Nell beispielsweise achtet sehr auf die hündische Etikette und legt größten Wert darauf, dass die Benimmregeln von ihrem Gegenüber eingehalten werden. Will heißen: wer ihr respektvoll begegnet, der bekommt auch Respekt. Im Umkehrschluss wird jede Unhöflichkeit, jedes aufdringliche Fixieren abgestraft und Unterwerfung verlangt. Mit Hunden, die ihr souverän begegnen – in der Regel sind diese mindestens gleichaltrig oder älter als sie – kommt sie deshalb wesentlich besser aus, als mit jungen Hunden, die sich viel eher durch rüpelhaftes Verhalten auszeichnen und die ausgeprägte Individualdistanz, die Nell sich gesteckt hat, schamlos unterschreiten. Dementsprechend agiert sie auch in der Gruppe: sie kontrolliert und entscheidet, welche Beobachtungen der übrigen Hunde ihren Einsatz oder ihre Aufmerksamkeit verdienen.
Zu beobachten und mögliche Gefahren lautstark in die Gruppe zu melden, gehört zweifelsohne zu Idas selbstgewählten Aufgaben – ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass sie ihren Status in der Gruppe, der Nell nachgeordnet ist, stark über diese Aufgabe definiert, wenn nicht sogar aufzuwerten versucht. Ganz eindeutig ist das allerdings nicht, denn bei Hundebegegnungen kommt bei ihr noch ein weiteres Merkmal zum tragen, das sich zwar ähnlich lautstark äußert, grundsätzlich aber anders gelagert ist: »Du kommst hier nicht rein!« Ida ist nämlich immer darauf bedacht, die von ihr beanspruchten Ressourcen möglichst exklusiv zu halten – ganz gleich, ob es sich dabei um Futter, Spielzeug, ihren Menschen oder eben die jeweilige Gruppe handelt, in der sie sich gerade befindet –, folglich tritt sie bei der Begegnung mit fremden Hunden gerne als Türsteher auf. Beides zusammen macht es nicht nur schwer ihr beizukommen, sondern auch, ein Alternativverhalten zu etablieren.
»Fräulein, hat dieser Fremde dort sie belästigt?«
Zion ist für mich am schwersten einzuschätzen – vielleicht, weil sich bei ihm wenig »feste« Verhaltensweisen ablesen lassen und sein Repertoire, je nach Tagesform, zwischen schüchterner Zurückhaltung und mutigem Nach-vorne-Preschen changiert. Fest steht bei ihm allein, dass er unter dem Pantoffel steht, und nur im Auftrag agiert – die Entscheidungen werden immer von den Hündinnen getroffen. Er ist der edle weiße Ritter – ich glaube, dass er sich am ehesten so begreift –, der dem Fräulein in Nöten zur Hilfe eilt. Fremde Rüden sind deshalb nicht sonderlich gut gelitten – es sei denn, es handelt sich bei diesen um Corgies, Shelties, Dackel oder andere kurzbeinige Rassen, bei denen Zion gerne vergisst, welchem Geschlecht er angehört, und mit liebestollem Gegockel (»Hey Süßer, heute Abend schon was vor?«) zu flirten beginnt.
Heidi mag erst einmal jeden Hund – und beinahe jeder Hund mag sie. In der Gruppe gelten aber auch für sie andere Regeln – oder viel mehr: werden die Regeln, die das hündische Miteinander ansonsten organisieren, zugunsten des »geilen« Gemeinschaftsgefühls gerne vergessen. Ich glaube, dass Heidi bei mindestens fünfzig Prozent der Hundebegegnungen, die mit lautem Gebell einhergehen, gar nicht weiß, um was es geht, und bloß mitmacht, weil Bellen, Knurren und sich Aufbäumen einen kurzfristigen Adrenalinkick versprechen – und das bedeutet Spaß.
»Du kommst hier nicht rein!«
Ich stehe also mit den vier Hunden auf besagtem Waldweg, habe – weil noch keiner der Vier die anderen bemerkt hat – einen gewissen Wissensvorsprung, und entscheide binnen Sekunden, das vor uns liegende Hindernis im Bogen zu umlaufen. Mehr Distanz wird Nell gerecht – die somit, hoffe ich, schon einmal die Klappe halten wird –, bei den drei übrigen Hunden – das gefällt mir nicht, lässt sich aber nicht ändern – muss der Zufall entscheiden. Der Zufall will, dass es sich bei den beiden fremden Hunden um Hündinnen handelt, so dass Zion, der die Nase neugierig in die Luft gereckt hält, sich damit begnügt, hübsch auszusehen. Bleiben Heidi und Ida. Bei der einen genügt ein scharfes Nein, bei der anderen scheitern wie erwartet sämtliche Versuche, sie vom Bellen abzubringen, und wird wieder und wieder die wenig freundliche Türsteherweisheit vorgetragen: »Du kommst hier nicht rein!« Dass die beiden anderen Hündinnen, die angeleint zu Füßen ihres Menschen liegen, gar nicht rein wollen, ist egal – Ida spult in Endlosschleife ein Wau-wau nach dem anderen ab, und übertönt damit auch das Gespräch, das sich zwischen mir und dem Besitzer der beiden liegenden Hündinnen entsponnen hat. Nell, Zion und Heidi interessiert das längst nicht mehr – alle drei haben begonnen zu grasen.
»Lecker, lecker, lecker!«
»Frisches Grün schmeckt mir am Besten!«
»Fimp-iff-auch!«
»Du kommst hier nicht rein!«
Einer muss ja immer das letzte Wort haben.
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