Alle reden. Aber über was? Und warum? Über Hundemenschen, Klatsch und Tratsch, die öffentliche Meinung – und den Grund, warum das auch Sie betrifft. Ja, genau Sie!
Neulich hat mich jemand gefragt – da es hier um Hunde geht, war es wohl ein Hunde-Jemand –, ob noch alles gut zwischen uns sei. Da ich mir keiner Gründe bewusst war, warum dem nicht so sein sollte, hat mich jene Frage mehr als erstaunt – um nicht zu sagen: verwirrt –, folglich lautete die Gegenfrage von meiner Seite dann auch bloß: Warum? Man habe dieses oder jenes von Dritten gehört, hieß es darauf, und denen sei es von ungenannten Vierten zugetragen worden. Ich also: Nö. Und schließlich: Aha! Nachdem nun – nein, wirklich, alles gut – das Gerücht selbst ausgeräumt war, blieben dennoch zwei Fragen offen. Zum einen, wer eine solche, bewusst falsche Neuigkeit in Umlauf bringt, und zum anderen, wer sich überhaupt dafür interessiert. Nach welchen Kriterien wird der Wert einer Neuigkeit bewertet? Und: gibt es Kriterien, die es wahrscheinlicher machen, dass etwas weitererzählt wird?
In der journalistischen Praxis ist bereits in den 1920er Jahren der Begriff des Nachrichtenwerts eingeführt worden, der beschreibt, wie berichtenswert ein Ereignis ist, und auf den ich mich im Folgenden – auf Grundlage der Studien von Walter Lippmann (den Namen dürfen Sie gerne wieder vergessen) – beziehen möchte. Klingt trocken, ist es aber nicht. Lippmann hat in seiner 1922 veröffentlichten Arbeit »Public opinion« (zu deutsch: »Die öffentliche Meinung«, Bochum, Brockmeyer 1990) nämlich zehn Faktoren identifiziert, die sich nicht nur auf faktenbasierte Nachrichten, sondern auch auf Klatsch und Tratsch anwenden lassen. Und weil Tratsch – das wissen Sie selbst – alles andere als trocken ist, stelle ich Ihnen diese in leicht veränderter, weil zusammengefasster Form gleich anhand eines Beispiels vor. Interessiert Sie nicht? Dann tun Sie sich keinen Zwang an. Niemand zwingt sie hier zu bleiben. Es könnte aber natürlich sein, dass es gleich noch um Sie geht. Ja, genau um Sie (schönes Tablet, übrigens)! Also bleiben Sie vielleicht doch besser da?
Acht Faktoren zum Nachrichtenwert
Ist das Neue überraschend (1)? Hat es einen Bezug zu Themen, die bereits in der Diskussion stehen (2)? Werden reale Ängste oder eine tatsächlich vorhandene Wut aufgegriffen (3)? Ist es leicht verständlich? Ohne Vorkenntnisse nachvollziehbar (4)? Wann ist es geschehen? Geschieht es gerade jetzt (5)? Wem schadet, wem nutzt es (6)? Sind bekannte Personen beteiligt (7)? Betrifft es eine Gruppe, der ich mich – räumlich oder emotional – zugehörig fühle (8)?
Und die beispielhafte Nachricht
Züchter Z. hat einen Hund an bzw. nach XY verkauft.
(1)
Das Züchter Hunde verkaufen, ist wenig überraschend. Dem zur Folge muss der Käufer bzw. die Herkunft des Käufers aufsehenerregend sein, damit ein Nachrichtenwert als gegeben angesehen werden kann. Verkauft ein Züchter beispielsweise einen Hund an Lieschen Müller, von der einzig und allein bekannt ist, dass nichts über sie bekannt ist, wird das für das öffentliche Interesse kaum von Bedeutung sein. Ist der Käufer aber der Schah von Persien oder die Königin von England (7), sieht das anders aus. Ganz anders.
(2)
Der Nachrichtenwert steigert sich, wenn der besagte Züchter schon vorher in der Diskussion stand, Hunde von anderen Züchtern an oder nach XY verkauft worden sind oder es als ausgemacht gilt, dass die Handlung selbst als verwerflich beurteilt werden muss. War ein zuvor verkaufter Hund krank, dann ist es vielleicht auch dieser. Hat sich Lieschen Müller als Käuferin zuvor etwas zu Schulden kommen lassen, dann wird sie es vielleicht auch diesmal tun. Und steht der Kaiser von China am anderen Ende der Leine, dann ist das Ergebnis des Verkaufs vielleicht bloß ein leckeres Chop Suey. Vielleicht. Weil: In Polen klaut man Autos. In Russland wird morgens, mittags und abends – Na sdorowje! – getrunken. Und in China isst man Hunde. Das weiß man ja (3). In Peru werden übrigens Meerschweinchen gegessen. Aber an die denkt natürlich wieder mal keiner.
(3)
Seien wir ehrlich: Hundemenschen haben nicht nur vor vielen Dingen Angst, sie sind auch oft und gerne wütend. Auf Zuchtvereine, die Pharmaindustrie, Futtermittelkonzerne, Hundetrainer, Richter, Züchter oder schlichtweg aufeinander. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand durch besagte Neuigkeit in seinen Ängsten oder seiner Wut bestätigt sieht (Profitgier! Qualzucht! Es wird doch viel zu viel gezüchtet!) und gerne als Multiplikator zur Verfügung stellt, ist also immer besonders hoch.
(4)
Keep it simple: Wer hat wann was getan. Gründe? Kann sich jeder selbst zusammenreimen, zu viele Informationen machen eine Nachricht träge. Beweis: 90 Prozent der Leser sind zum aktuellen Zeitpunkt schon gelangweilt aus diesem Text ausgestiegen. Frage: Warum sind Sie eigentlich noch hier?
(5)
Unmittelbarkeit – das heißt: das Gefühl, an einem Ereignis im gleichen Augenblick teilhaben zu können – ist grundsätzlich stärker als die Wiedergabe eines längst vergangenen, längst abgeschlossenen Ereignisses, weil das Ereignis selbst erlebt wird und – dem Wortsinn nach – nicht vermittelt werden muss. Vielleicht erklärt das auch, warum das Gerede am Ort des Geschehens zumeist am lautesten ausfällt – unter Hundemenschen muss hier unweigerlich an die Zuschauerreihen eines Ausstellungsrings gedacht werden –, oder sich Tatsachen und Gerüchte (»Wie die wieder mit dem Hund umgesprungen ist!«, »So etwas gehört doch auf keine Zuchtschau!«, »Die steile Hinterhandwinkelung ist doch noch das kleinste Problem in deren Linien!«, »Neid! Ärger! Frust!«) von dort aus am schnellsten verbreiten.
(6)
Es gibt unzählige wissenschaftliche Studien, die sich mit Klatsch und Tratsch befassen. Fast allen gemein ist, dass sie dem mutmaßlichen Schaden – will heißen: der Negativbotschaft –, einen deutlich höheren Stellenwert einräumen, als seinem Gegenteil, dem Nutzen. Das hat einen ganz einfachen Grund: Negativbotschaften bleiben nachweislich besser im Gedächtnis haften – und werden auch dann noch geglaubt, wenn sie den Erfahrungen widersprechen, die man selbst gemacht hat. Bezugnehmend auf das eingangs erwähnte Beispiel bedeutet das: Ist Lieschen Müller als Käuferin glücklich mit dem von Züchter Z. verkauften Hund, wird das sehr wahrscheinlich niemanden interessieren. Ist sie das nicht – und dafür kann es viele Gründe geben (3) –, interessiert es jeden. Weil: Klatsch und Tratsch (die – nutzloses Wissen – nicht weniger als zwei Drittel aller Gespräche ausmachen) tatsächlich auch immer einen Nutzen verfolgen – sie schweißen Gruppen im Kampf gegen ihre natürlichen Feinde zusammen. Und insbesondere unter Hundemenschen gibt es eine ganze Reihe von beiden.
(7)
What goes up, must come down – oder mit anderen Worten: je größer die Fallhöhe, desto lauter der Aufprall. Das erklärt sich von selbst, oder?
(8)
Ob man will oder nicht: sobald man einen Hund hat, gehört man dazu. Und weil man nun einmal dazugehört, muss man sich auch eine Meinung bilden: über Rohfütterung, einen geeigneten Zeckenschutz, Hundeschulen und Trainingsmethoden, Tierärzte, den Tierschutz und – insofern man an einer Ausstellungskarriere interessiert ist – den Sinn und Unsinn von Championtiteln. Auch Lieschen Müller wird als Neu-Hundebesitzerin mitreden können müssen – und so lange sie ihren Hund beim richtigen Züchter gekauft hat, niemandem in die Quere kommt oder sich mit den falschen Menschen (2) unterhält, wird man sie auch mitreden lassen. Denn auch das ist eine Gesetzmäßigkeit: man gehört nur so lange dazu, wie man niemandem unangenehm auffällt. Und unangenehm wird man spätestens dann, wenn man sich anmaßt, eine eigene Meinung zu haben. Oder Erfolg. Denn Erfolg macht – alte Binsenweisheit – meistens einsam.
Sie haben diesen Text tatsächlich bis hierhin gelesen? Und: hat er Ihnen neue Erkenntnisse gebracht? Ich möchte wagen zu behaupten: hat er nicht. Und genau darüber sollte man einmal nachdenken.
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