Über Gleichgewicht, Stress und Stimulation. Und was das mit der Hirnentwicklung zwei Wochen alter Welpen zu tun hat.
Die Schaukel hing mitten im Flur. Wenn man die Wohnung betrat und sich nach rechts umwandte, war sie kaum zu verfehlen. Links davon zweigte die Küchentür ab, rechts befand sich das fensterlose blaue Badezimmer, in dem später einmal ein Hundekorb stehen sollte, dahinter folgten das Arbeitszimmer meines Vaters, das Wohnzimmer und in gerader Flucht – am Ende des Flures – schließlich das Bad. Die Schaukel war mit zwei Metallhaken an einem Deckenbalken befestigt, die Hanfseile, an denen das Schaukelbrett hing, fest an beiden Haken verknotet – und weil für einen Dreijährigen beinahe alles viel größer erscheint, als es eigentlich ist, reichten die Seile wohl viel mehr bis zum Mond. Das war 1982, vielleicht. Und eine meiner ersten Erinnerungen.
Kindheitserinnerungen – so wie die Schaukel in der großen Wohnung im Dachgeschoss, die ich gerade grob umrissen habe – haben unbewusst oft eines gemeinsam: sie erzählen vom Gleichgewichtssinn. Dabei ist es völlig gleich, ob man sich – so wie ich – glücklich geschaukelt oder – wie viele andere – so lange im Kreis gedreht hat, bis man vor Glück schwindelig wurde: Erfahrungen mit der Schwerkraft – mit sanfter Beschleunigung und Verlangsamung, mit Bewegung, Drehung, Auf und Ab – sind immer auch mit einem intensiven Wohlbefinden verbunden, das sich nachhaltig einprägt und besonders gut erinnert wird.
Aber warum ist das so?
Wahrnehmung beim Welpen
In den ersten Lebenswochen, in denen Gesichts- und Gehörsinn noch nicht funktional sind und sich der Geruchssinn erst vollständig ausprägen muss, orientiert sich ein Welpe überwiegend über den Tastsinn und das Temperaturempfinden. Die Lidspalten und äußeren Gehörgänge öffnen sich zu Beginn der dritten Lebenswoche – die Seh- und Hörfähigkeit, die es dem Welpen ermöglicht, seine unmittelbare Umgebung aktiv wahrzunehmen, stellt sich aber erst um den 18. Lebenstag ein.
Die Antwort liefert ein paarig angelegtes Organ, das sich im Innenohr von Menschen und Wirbeltieren befindet, und das – im Gegensatz zu den übrigen Sinnesorganen – über die verbundenen Nervenbahnen bereits beim Ungeborenen aktiv ist: das Vestibularorgan. Während auf den Fötus erst nur die Bewegungen der Mutter einwirken (Herzschlag und Atmung gehören beispielsweise auch dazu), will das Organ später auch selbständig mit Sinneseindrücken gefüttert werden – das Ungeborene beginnt zu schaukeln, sich zu strecken und im Kreis zu drehen. Über das Vestibularsystem wird also nicht nur ein frühes »Selbstbewusstsein« möglich, sondern auch die Hirnentwicklung angeregt. Das kann man sich auch in der Hundezucht zunutze machen.
Die Persönlichkeit eines Hundes ist zwar in weiten Teilen angeboren und kann nur geringgradig verändert werden, auf die Entwicklung eines Welpen kann der Züchter aber dennoch früh Einfluss nehmen. Bei den taub und blind geborenen Welpen ist durch eine gezielte Stimulation des Gleichgewichtsorgans bereits in den ersten beiden Lebenswochen eine Einflussnahme möglich, die sich sowohl auf das Stressverhalten, als auch die Frustrationstoleranz des erwachsenen Hundes auswirken kann: neben taktilen Reizen, die das Hochnehmen und Streicheln genauso wie das Berühren und Kitzeln einzelner Gliedmaßen umfassen, kann auch das Temperaturempfinden angesprochen werden. Die Stimulation wirkt sich langfristig nicht nur auf das Stressverhalten aus, sondern zeigt auch deutliche Vorteile beim Lernverhalten: Neugier und Aktivität fallen bei Hunden, die entsprechend gefördert wurden, wesentlich höher aus, als bei solchen, denen keine Förderung zuteil wurde. Ein Welpe schaukelt sich also nicht nur glücklich oder gelassen, er schaukelt sich überdies auch noch schlau.
Vielleicht ist das sanfte Schwingen der Schaukel nun auch die erste Erinnerung unserer fünf Border Collie Welpen?
2017, im März.
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