Geburtstage sollten eigentlich ein Grund zur Freude sein. Auf die meisten mag das zutreffen, auf Idas 6. Geburtstag, den wir heute feiern, aber leider nicht.
Ich seh uns beide, du bist längst zu schwer
für meine Arme, aber ich geb dich nicht her.
Ich weiß, deine Monster sind genau wie meine
und mit denen bleibt man besser nicht alleine.
Ich weiß, ich weiß, ich weiß und frage nicht.
Halt dich bei mir fest, steig auf, ich trage dich.
Ich werde riesengroß für dich
– ein Elefant für dich, ich trag dich
meilenweiter übers Land.
Und ich trag dich so weit wie ich kann.
Ich trag dich so weit wie ich kann.
Und am Ende des Wegs, wenn ich muss
trag ich dich über den Fluss.
– »Elefant für dich«, Wir sind Helden (2005)
Liebe Ida,
wir wissen nicht, ob Dein sechster Geburtstag vielleicht der letzte ist, den wir mit Dir feiern dürfen. Wir wissen, dass die Prognosen schlecht sind, dass es zwar wenigen gelingt, die Krankheit zu überwinden, wieder gesund zu werden, den meisten aber bloß noch Monate bleiben.
Das auszusprechen fällt nicht leicht – dieses Wissen aber nur mit mir alleine herumzutragen, andere zu schützen, nicht zu sehr zu beunruhigen, fällt zunehmend schwerer. Es ist wie der Elefant im Raum, von dem zwar jeder weiß, dass er da ist, den aber jeder zu ignorieren versucht. Ich kann das nicht mehr.
»Die Biopsie hat – wie zu erwarten war, muss ich leider sagen – gezeigt, dass bereits Tumorzellen in den Lymphknoten eingewandert sind«, klärt mich Dr. Kessler eine Woche nach der Operation telefonisch auf. Es ist bereits spät, lange nach Feierabend. »Zur weiteren Behandlung ergeben sich verschiedene Optionen«, fährt er fort, »da es sich im Fall ihrer Hündin um einen Rezidiv handelt und der Tumor bereits lokal metastasiert hat, reicht die engmaschige Kontrolle, die zur Nachsorge des Primärtumors stattgefunden hat, allein nicht mehr aus«. Ich ahne, was folgt. »Da sich gezeigt hat, dass Schilddrüsenkarzinome sehr gut auf Bestrahlung reagieren, möchte ich eine Radiotherapie empfehlen, um das umliegende Gewebe nachzubestrahlen, und würde unter Umständen auch eine ergänzende medikamentöse Behandlung in Erwägung ziehen«. Medikamentös meint Chemotherapie, denke ich, und beiße mir auf die Lippe, um nicht laut »Scheiße« zu sagen.
Ähnlich geht es offenkundig auch Dirk, als wir, wieder eine Woche später, ein Beratungsgespräch mit der Radiologin der Klinik in Anspruch nehmen, und die Summe genannt wird, die für die vier Fraktionen des palliativen Protokolls, das uns angeraten wird, anfällt. Auch sie spricht wieder von lokaler Kontrolle und der Möglichkeit von Fernmetastasen, auch sie kommt schlussendlich auf die Notwendigkeit einer Chemotherapie zu sprechen – ich aber lenke ein und winke ab: wir haben längst entschieden.
Nach einer Therapie mit 48 Gy in 4-Gy-Fraktionen (Montag-Mittwoch-Freitag-Schema) war nach einem Jahr bei 80 Prozent und nach drei Jahren bei 72 Prozent von 25 bestrahlten Hunden kein weiteres Tumorwachstum festzustellen. Das Risiko einer Metastasierung war bei beidseitigen Schilddrüsenkarzinomen 16 Mal höher als bei einseitigen. In einer weiteren Studie mit acht Patienten mit inoperablen Karzinomen (46,8–48 Gy) kam es bei allen Tieren zur Komplettremission; vier Hunde entwickelten Metastasen. Die mediane Überlebenszeit lag bei 24,5 Monaten (12–36 Monate). In beiden Berichten war die Regression der Tumoren nach der Bestrahlung sehr langsam und dauerte 8–22 Monate.
Martin Kessler (Ed.) in: Kleintieronkologie: Diagnose
und Therapie von Tumorerkrankungen bei Hund und Katze,
Georg Thieme Verlag, 2012
Schon zum Zeitpunkt der Erstdiagnose hatte ich mich mit den verschiedenen, auf Verlauf und Stadium der Krankheit abgestimmten Behandlungsmöglichkeiten auseinandergesetzt, Studienergebnisse verglichen und mich in die Fachliteratur eingelesen – zum einen wohl, um den behandelnden Ärzten auf Augenhöhe begegnen und therapeutische Entscheidungen besser nachvollziehen zu können, zum anderen aber zweifelsohne auch, um der Krankheit gedanklich immer einen Schritt voraus zu sein. Da ein Schilddrüsenkarzinom einen in der Regel sehr aggressiven Tumor darstellt, der stark invasiv wächst und sowohl lymphogen als auch hämatogen metastasiert, ist oftmals eine systemische Therapie angezeigt, die neben der Tumorchirurgie auch Bestrahlungen (zur lokalen Kontrolle) und Chemotherapie (zur Kontrolle von Fernmetastasen) nutzt. Ganz gleich, wie aufgeschlossen man den Möglichkeiten der Veterinärmedizin gegenübersteht, wird jeder Hundebesitzer erst einmal ähnlich reagieren: überfordert. Welche Prognose rechtfertigt welche Kosten, welche Behandlung? Was kann, was will ich meinem Tier zumuten?
Wenn ich mir unser Rudel betrachte, dann kommen jedem der drei Hunde bestimmte Funktionen und Aufgaben zu, die sie mit mal mehr, mal weniger Hingabe erfüllen. Während Nell das Rudel führt und Zion als Fußpolizist der beiden Hündinnen fungiert, der bei drohender Gefahr vorangeschickt wird und dafür – wenngleich oftmals schuldlos – die Schelte kassiert, kommen Ida die sozialen Aufgaben zu: sie vermittelt, schlichtet und achtet darauf, dass das Rudel als Einheit funktioniert. Und nicht bloß das vierbeinige. Wenn ich abends noch länger in der Küche sitze, sich alle anderen aber längst auf dem Sofa eingefunden haben, ist sie es, die zwischen dem einen und dem anderen Raum hin und her eilt, erst dann zufrieden ist, wenn ich das Notebook zuklappe und mir meinen Platz zwischen den anderen suche. Könnte sie sprechen, sage ich gerne, dann wäre ihr Mantra vielleicht am ehesten so etwas wie: »Das Rudel muss zusammenbleiben«. Das mag angesichts ihrer Erkrankung belanglos scheinen – für die Entscheidung, die wir zu treffen hatten, hatte es aber durchaus eine Bedeutung.
Der Tierbesitzer sollte ein Merkblatt erhalten, dass bei der Applikation von Tabletten unbedingt Handschuhe zu tragen sind; Speichel, Kot und Urin des Patienten kontaminiert sind und – wenn erforderlich – ihre Beseitigung nur mit Handschuhen erfolgen darf […]; Tiere nicht dort ausgeführt werden dürfen, wo Kinder spielen; während und einen Monat nach der Chemotherapie ein Belecken durch das Tier vermieden werden soll.
Ernst-Günther Grünbaum (Ed.), »Anleitung zur
Handhabung von Chemotherapeutika« in: Klinik der
Hundekrankheiten, Georg Thieme Verlag, 2007
In einem Handlungsleitfaden, den die Klinik an die behandelnden Ärzte herausgibt, und der mir bei meinen Recherchen zufällig in die Hände gefallen ist, heißt es, dass ein Großteil der Patientenbesitzer einer Chemotherapie ablehnend gegenübersteht. Als Grund wird vor allen Dingen das Bild angeführt, das die Patientenbesitzer von der Behandlung haben und das sich in weiten Teilen aus eigenen Erfahrungen oder Vergleichen mit der Humanmedizin speist. Es stimmt, dass eine Chemotherapie beim Hund mit weit weniger Nebenwirkungen auskommt, als eine vergleichbare Behandlung beim Menschen, und dass während des 12- bis 15-wöchigen, ersten Protokolls nur bei wenigen Tieren eine Minderung der Lebensqualität eintritt. Das dem so ist, lässt sich jedoch leicht begründen: die Therapie beim Hund fällt weit weniger aggressiv aus, ist damit aber auch längst nicht so effektiv – in der Regel lässt sich bloß eine kurzzeitige Remission erreichen. Und ganz gleich, ob es nun die vergleichsweise hohen Kosten sind, die man in Beziehung zu ihrem Nutzen stellt, oder die Konsequenzen, die sich aus der Behandlung für das Zusammenleben mit dem Tier ergeben – die angestrebte Aufrechterhaltung der Lebensqualität ginge in unserem Fall mit einer dramatischen Einschränkung derselben einher, da Ida für den Zeitraum der zytostatischen Behandlung permanent von den beiden anderen Hunden getrennt werden müsste und, im Hinblick auf die Funktion, über die sie sich selbst definiert, tatsächlich leiden würde. Mancher mag, nein, mancher wird das anders beurteilen – ich sehe meine Verantwortung aber maßgeblich darin, ihre Lebensqualität aufrechtzuerhalten und nicht darin, jedes therapeutische Mittel auszuschöpfen. Selbst wenn das bedeutet, sie früher gehen lassen zu müssen.
Man weiß, dass dieser Tag kommen wird, wenn man einem Hund ein Zuhause gibt. Man hofft, dass die Zeit lang und der Tag noch fern ist. Man hofft, aber nicht jede Hoffnung wird erfüllt. Verantwortung bedeutet nicht, den Elefanten zu ignorieren – sie bedeutet, sich dem Unausweichlichen zu stellen, selbst zu diesem Elefanten zu werden. Und den, den man liebt zu tragen, bis zum Schluss.
Dein sechster Geburtstag, liebe Ida. Wir haben dich sehr lieb.
© Johannes Willwacher