Ich brauche keine zweite Meinung. Ich weiß, auch ohne den Hörer abzunehmen, wie die Antwort lauten wird: Der Krebs hat angerufen – er lässt ausrichten, er ist wieder da …
Hello darkness my old friend,
I’ve come to talk with you again.
– »The Sound of Silence«
Simon & Garfunkel (1964)
Ich brauche keine zweite Meinung, keinen tierärztlichen Befund, als ich in der dritten Novemberwoche dieses Ding zwischen meinen Fingern spüre. Ich weiß, wie sich der Kehlkopf eines gesunden Hundes anfühlen sollte, weiß, was dort hingehört und was nicht – und das, was ich dort mit kreisenden Bewegungen ertaste, dieses Ding, das etwa die Größe einer Walnuss zu haben scheint, gehört dort ganz bestimmt nicht hin. Ich brauche keine zweite Meinung. Ich weiß, auch ohne den Hörer abzunehmen, wie die Antwort lauten wird: Der Krebs hat angerufen – er lässt ausrichten, er ist wieder da.
Zwei Jahre sind vergangen, seitdem bei Ida ein Schilddrüsenkarzinom festgestellt wurde – eine niederschmetternde Diagnose für eine damals nicht einmal vierjährige Hündin. Die Tumorresektion, so hieß es, sei zwar möglich, bei nahezu 90 Prozent der Tiere würde es jedoch innerhalb der ersten 18 Monate nach der Operation zu einem Rezidiv – einem Wiederauftreten der Erkrankung – kommen, der eine weitere Therapie notwendig machen, im schlimmsten Fall zum Tod des Tieres führen würde. Zwei Jahre hatten wir Glück.
Eine Woche später liegt der Befund vor. Wieder ist es die Schilddrüse, die betroffen ist – statt des rechten Flügels ist es diesmal der linke des schmetterlingsförmigen Organs, das beim Hund, anders als beim Menschen, paarig angelegt ist. Während der Hündin die Erkrankung vor zwei Jahren auch äußerlich anzumerken war – durch den Druck, den die Raumforderung auf Luft- und Speiseröhre ausübte, hatte sie das Fressen fast vollständig eingestellt, bedingt durch die hormonelle Beteiligung des Tumors zudem über Wochen an unkontrollierbaren Durchfällen gelitten, sich lust- und teilnahmslos gezeigt –, gibt diesmal jedoch nichts Hinweis darauf, das etwas nicht stimmt. Ich versuche realistisch zu bleiben: »Das kann, muss aber nichts heißen«.
»Ein gutes Allgemeinbefinden ist leider kein verlässlicher Hinweis auf die Schwere einer Erkrankung«, gibt Dr. Kessler zu bedenken, als wir Ida eine Woche später in der Tierklinik Hofheim vorstellen. Behutsam prüft er die äußerlich tastbaren Lymphknoten und hört die Lunge ab, dann fixiere ich Ida auf sein Bitten vor meinem Brustkorb und er leitet das Narkosemittel ein. »Ob der Tumor bereits in das umliegende Gewebe eingewachsen ist, muss mittels einer CT-Aufnahme abgeklärt werden«, sagt der Arzt, während Ida in meinen Armen zusammensackt, »auch Fernmetastasen in Lunge und Lymphknoten können nur so sicher ausgeschlossen werden«. Gemeinsam hieven wir die sedierte Hündin auf den Rollwagen, dann verabschiedet sich der Arzt und bittet mich, während der Untersuchung im Wartezimmer Platz zu nehmen. Der Rollwagen biegt nach rechts ab, die Angst und ich gehen mit langsamen Schritten nach links.
Am Tag darauf – heute morgen – folgt die Operation. Nicht nur der Tumor wird dabei entfernt, auch ein kranialer Lymphknoten, der vom Tumor bedrängt worden ist, wird zur histologischen Bestimmung entnommen. Während das übrige Lymphsystem unauffällig und auch die Lunge ohne Befund war, bleibt so doch die Angst, dem Krebs kein zweites Mal zuvorkommen zu können.
Ich lege ab heute einfach den Hörer daneben. Falls er wieder anruft: sind wir nicht da.
© Johannes Willwacher