Eigentlich sollte das jedem Hundemenschen bewusst sein – mir selbst fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich davon erfuhr …
Es ist Dienstag, und wie so oft, wenn meine bessere Hälfte die Hunde hütet und ich keinen der drei mit zur Arbeit nehmen muss, stehe ich am Bahnhof und warte auf den ICE, der mich binnen zwanzig Minuten von Limburg nach Frankfurt, und damit zur Arbeit bringt. Zumeist sind es bloß fünf Minuten, die ich wartend am Bahnsteig verbringe, und zumeist genügen diese gerade, um einen Fahrschein zu lösen und eine Zigarette zu rauchen. An diesem Dienstagmorgen aber stehe ich bereits seit fünfzehn Minuten am Gleis, und soll, der unaufgeregten Lautsprecheransage zufolge, die sich im Fünf-Minuten-Takt zu Wort meldet und die Ankunftszeit der Bahn weiter hinauszögert, noch eine ganze Weile dort stehen. »Immerhin«, denke ich und fingere eine zweite Zigarette aus der eingedrückten, blauen Schachtel, »immerhin regnet es nicht«. Ich biege die Zigarette gerade und steuere auf den, durch gelbe Bodenmarkierungen und ein kaum zu übersehendes Hinweisschild gekennzeichneten Raucherbereich zu. Und damit fängt es an.
Haben Sie schon einmal fremde Gespräche belauscht? Ich möchte wetten, dass Sie das – wenn auch nicht absichtlich – genauso regelmäßig tun, wie ich. Meistens sind fremde Gespräche so belanglos, dass das Interesse daran fast ebenso schnell verloren geht, wie die Erinnerung daran (ich kann mich selbst, abgesehen von dem Folgenden, auch nur an ein weiteres erinnern, das, streng genommen, gar kein vergleichbares Gespräch war, sondern am Telefon stattfand, und mir auch nur deshalb in Erinnerung geblieben ist, weil der tatsächlich anwesende Gesprächspartner unentwegt ein einziges Wort wiederholt hat, das die, der deutschen Sprache allem Anschein nach nur im Ansatz mächtige, abwesende Gesprächspartnerin, nicht verstand: Streicheln). Manchmal gelingt es aber nur schwer wegzuhören – vielleicht, weil man wissen will, wer da gerade wen oder was streicheln soll, vielleicht aber auch, weil man sich vom Thema der Unterhaltung selbst angesprochen fühlt. Und da es hier immer noch um Hunde geht (ja, das tut es – den vielen hundelosen Zeilen zum Trotz), dürfen Sie dreimal raten, über was sich die beiden Damen, denen wir gleich im Raucherbereich begegnen, unterhalten. Ahnen Sie’s schon?
Die links von dem metallisch glänzenden Standaschenbecher schätze ich auf Mitte vierzig. Zu einer beigen Bolero-Jacke, die für das breite Becken, das von einer schwarzen Stoffhose umspielt wird, etwas zu knapp geschnitten wirkt, trägt sie Dauerwelle, eine dunkelbraune Handtasche und Pumps, die nach außen abgelaufen sind. Die rechts von ihr schätze ich älter, Mitte fünfzig, vielleicht, und während es zu ihrer Kleidung kaum etwas zu bemerken gibt, fällt mir sofort der vollgestopfte Rucksack auf, den sie, akkurat wie eine Viertklässlerin, über beiden Schultern trägt. Während ich noch überlege, ob beide für die gleiche Bank arbeiten (auf diesem Bahnsteig dürfte das Bankwesen auch ohne die Durchführung statistischer Erhebungen die Spitzenposition beim Berufe-Raten besetzen), schüttelt die Dauerwelle entrüstet den Kopf und sagt, was mich aufhorchen lässt: »Eigentlich hat er das noch nie gemacht«.
Sich ungefragt in fremde Gespräche einzumischen ist ungehörig, keine Frage, und wo sich zwei Hundemenschen unterhalten, kann man wohl, statt freimütig Erziehungstipps zu geben, auch genauso gut die Frage einwerfen, ob man diesem oder jenem eben mal am Hintern schnüffeln darf – die Irritation wird in beiden Fällen gleich groß sein und die Reaktion garantiert zu den eigenen Ungunsten ausfallen. Ich beschränke mich also allein darauf zuzuhören, und während ich erfahre, dass die Dauerwelle einen Cocker Spaniel besitzt, der sich erst kürzlich – und das tut er sonst eigentlich nie – im Hosenbein eines Spaziergängers verbissen und nur widerwillig wieder losgelassen hat, sich der Rucksack mit ähnlichen Problemen herumträgt, wobei dessen Problem auf den Namen »Bonny« hört und – man ahnt es beinahe – eigentlich ganz brav ist, fällt mir auf, wie universell das Vokabular des gemeinen Hundemenschen, mich eingeschlossen, eigentlich ist.
Mit Sitz, Platz und Aus können wohl auch noch diejenigen etwas anfangen, die keinen Hund oder – mein Beileid – bloß eine Katze ihr Eigen nennen, und während man unter den Hundemenschen zwar noch zwischen denen unterscheiden darf, die sich der drei Befehle im gleichen, teutonisch scharfen Wortlaut bedienen, und denen, die sich distinguierter geben und ihren Hund in der Muttersprache seines Herkunftslandes herumkommandieren, sind die Standardkommandos doch kaum hinterfragenswert. Lohnender als die Frage, wie man mit dem Hund spricht, scheint mir an dieser Stelle die Frage zu sein, wie man über den Hund spricht. Und hier insbesondere eine unscheinbare rhetorische Floskel, die Sie, geschätzter Leser, bereits aus der Überschrift kennen (wenn Sie nun noch einmal zurückscrollen wollen, warte ich hier gerne auf Sie).
Laut Duden ist das Adverb »eigentlich« sinnverwandt mit Begriffen wie »faktisch«, »von Haus aus« und »in Wirklichkeit«, und auf die Wirklichkeit – wenn auch eine für den Außenstehenden bisweilen kaum wahrnehmbare – zielt auch der Einwand ab, dass der Hund dieses oder jenes »eigentlich noch nie« gemacht hat. »Eigentlich noch nie« kann dabei für vieles stehen und ganz gleich, ob der Hund beißt, vom Tisch klaut, die Nachbarskatze verbellt, ins Auto kotzt, in den Flur pinkelt, den Briefträger anknurrt, sich mit anderen Hunden anlegt, an der Leine zieht, auf den Hundeplatz kackt, den Gehorsam verweigert, blöd guckt, jagt oder die Wohnungseinrichtung zerlegt: »eigentlich« ist immer schon da. Dass »eigentlich« dabei bloß dem nutzt, der es ausspricht, nicht aber dem Gegenüber, vor dem man sich für das Fehlverhalten des Vierbeiners rechtfertigen zu müssen meint und für den das Wort nie mehr als eine hilflose Floskel sein wird, ist egal – als Hundemensch neigt man immer auch dazu, sich vor sich selbst zu rechtfertigen und zu betonen, dass der Hund – gleichgültig wie verkorkst und unerzogen dieser gerade wirken mag – eigentlich doch der Allerbeste ist. Wer ein Bild von seinem Hund malt, braucht bloß eine Farbe: Eigentlich-Rosa.
Als schließlich die Bahn mit gut zwanzigminütiger Verspätung einrollt, setzen sich die Dauerwelle und der Rucksack langsam in Bewegung, und ich – in den Augen der beiden wohl der mit mehr Hundehaaren auf der Kleidung, als Haaren auf dem Kopf – folge lächelnd. Eigentlich gut, alles gut.
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