Die Feldmaus antwortete: »Du hast gut reden, du wußtest dein Loch fein zu treffen, derweil bin ich schier vor Angst gestorben. Ich will dir sagen, was meine Meinung ist: bleib du eine Stadtmaus und friß Würste und Speck, ich will ein armes Feldmäuslein bleiben und meine Eicheln essen. Du bist keinen Augenblick sicher vor dem Kellner, vor den Katzen, vor so vielen Mäusefallen, und das ganze Haus ist dir feind. Von alldem bin ich frei und bin sicher in meinem armen Feldlöchlein.«
Martin Luther, Fabeln, »Von der Stadtmaus und der Feldmaus
Mit weit heraushängender Zunge steht sie am Fenster und verfolgt die Güterwaggons, die auf den Nebengleisen an uns vorüberziehen. Hinter uns schrumpft der Hauptbahnhof zu Spielzeuggröße zusammen und auch die dahinter liegenden Hochhäuser erinnern mehr und mehr an angespitzte Bleistifte, die von Kinderhand senkrecht in den Boden gerammt worden sind. Vor dem Fenster verzweigen sich die Gleise, vereinzelt wischt Grün an den Scheiben vorbei. Sie lässt die Zunge schnalzen, schmatzt, schaut angestrengt weiter. »Was der Stadtmaus bloß ein müdes Lächeln entlockt«, denke ich und sehe dieselbe lang ausgestreckt zwischen den Füßen der anderen Fahrgäste liegen, gähnen und die Augen verdrehen, »ist für die Feldmaus das größte Abenteuer«. Für Nell klingt Frankfurt wie Zuhause. Für Ida ist es weit davon entfernt.
Als wir vor vier Jahren der Stadt den Rücken kehrten, hatte die eine bereits zwei Jahre dort verbracht und gelernt, sich zurechtzufinden. Sie wusste genau, welche Gerüche die Stadt früh morgens verströmt, an welchen Straßenecken sich die türkischen Supermärkte befinden und dass die davor zum Verladen abgestellten, weißen Transporter nach frischem Fleisch riechen, wenn man die Nase in den Wind hält. Sie hatte gelernt, den entgegenkommenden Beinen auszuweichen, ihren Blick auf mich zu fokussieren und auszublenden, was bedeutungslos ist. Vielleicht ist es deshalb auch heute noch fast immer Nell, die mich an Bürotagen nach Frankfurt begleitet: Stadtmaus zu sein lernt man besser früh.
An der Haltestelle angekommen springt Ida mit einem Satz aus dem Abteil, bleibt stehen und schaut mich an. »Nach Hause«, sage ich. Schwanzwedelnd lässt sich Ida auf den Rücken fallen und freut sich. Die Feldmaus ist glücklich, ich bin es auch.
© Johannes Willwacher